Die Türkei blieb länger von Covid-19 verschont als ihre Nachbarländer. Doch jetzt nimmt das Virus auch in Anatolien Fahrt auf. Besonders hart trifft es die größte Stadt des Landes. Das System Erdogan reagiert erst mit Verspätung auf die Bedrohung. Ein Bericht aus Istanbul.
Am 12. März fanden 200 Bewohner des Sultantepe-Bezirks in Üsküdar, einem Viertel auf der asiatischen Stadtseite Istanbuls, ihren Weg ins örtliche Rathaus. Die Stadtteil-Vorsitzende hatte zur Bürgersitzung in das neue Glasgebäude eingeladen. Thema der Sitzung: Wie sich das Viertel gegen die Bedrohung eines großen Erdbebens wappnen kann. Es sollte um den Neubau der vielen alten, maroden Wohnhäuser gehen, die einem großen Beben nicht standhalten würden. „Ihr Leben steht auf dem Spiel!“, warnte die Vorsitzende die vorwiegend älteren Gäste an diesem Abend.
Erst am Tag zuvor, dem 11. März, hatte die Türkei ihren ersten Coronavirus-Fall gemeldet — um einiges später als in den Nachbarländern. Im angrenzenden Iran verbreitete sich das Virus zu diesem Zeitpunkt bereits seit Wochen. Eher symbolisch schüttete eine junge Dame am Eingang den Besuchern einen Spritzer Kolonya in die Hände, jenes alkoholhaltige Duftwasser, das traditionell in türkischen Haushalten zu finden ist. Eine Atemschutzmaske trug niemand.
Die größte Furcht der Istanbuler, das ist seit Jahren die Angst vor einem schweren Erdbeben. Denn Istanbul liegt an der Grenzlinie zwischen der eurasischen und der anatolischen Erdplatte, die sich mitten durch das Marmarameer zieht. Doch seit der zweiten Märzhälfte denkt kaum jemand mehr an diese Gefahr. Covid-19 hat die Türkei zwar spät erreicht, doch nun verbreitet sich das Coronavirus Sars-CoV-2 rasch.
Frühe Maßnahmen gegen Ausbreitung
Der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca, selbst Arzt und zuvor den meisten unbekannt, ist inzwischen allen zwischen Ägäisküste und Van-See ein vertrautes Gesicht. Die aktuellen Zahlen der Behörden veröffentlicht Koca jeden Abend pünktlich nach 20 Uhr bei Twitter: Inzwischen liegt die Zahl der Corona-Infizierten in der Türkei bei über 30.000, am Virus gestorben sind 649 Menschen (Stand 7. April). Seit Ausbruch der Epidemie sind in der Türkei mehr als 180.000 Menschen auf das Virus getestet worden.
Kocas Krisenmanagement und sein entschlossenes Auftreten, trotz merklichen Augenringen, kommt bei vielen Türken gut an. Auch die Entscheidung der AKP-Führung, die Grenzen zum Iran bereits am 23. Februar zu schließen, vier Tage nachdem die iranische Führung den ersten Fall bekannt gegeben hatte, werteten viele als wichtigen Schritt. Ebenso die frühzeitige Einstellung des Flugverkehrs der Turkish Airlines. Schließlich ist das staatliche Luftfahrtunternehmen der Türkei die Fluggesellschaft mit den weltweit meisten Destinationen. Der Flugstopp gilt aktuell bis zum 1. Mai.
Kapazitäten am Rande der Erschöpfung
Doch es gibt auch andere Stimmen: Die Türkische Ärztevereinigung klagte bereits über deutliche Mängel an Schutzkleidung und Masken beim Gesundheitspersonal, ähnlich wie bereits im Iran oder nun in den USA. Ende März gab Minister Koca bekannt, dass 63 Prozent der Intensivstationen im Land belegt seien, da lag die Fallzahl erst bei rund 6.000. Inzwischen befinden sich die Kapazitäten der Krankenhäuser am Rande der Erschöpfung. Über 600 Arbeitskräfte im Gesundheitssystem haben sich bereits angesteckt. Mit Cemil Tascioglu verstarb am 1. April ein bekannter Internist von der Istanbul Universität an den Folgen einer Coronavirus-Erkrankung.
Die Istanbuler Apothekerkammer wiederum beklagte, dass viele ihrer Mitglieder sich angesteckt hätten, da Covid-19-Patienten ihre verschriebenen Medikamente selbst in Apotheken besorgten. Daraufhin wurde eine landesweite Reduktion der Arbeitszeit für Apotheker beschlossen.
Die Türkei ist ein Land, in dem die Produktion weiterlaufen und die Zahnräder sich unter allen Bedingungen weiterhin drehen müssen.“Präsident Recep Tayyip Erdogan
Ein weiterer Grund zur Sorge ist der generelle Ärztemangel: Laut einem Interview des „New Yorker“ mit Emrah Altındış, einem Biologie-Professor am Boston College, hat Italien zweieinhalb Mal so viele Ärzte und Krankenpfleger pro 1.000 Einwohner wie die Türkei. Die vier Millionen Flüchtlinge, die sich zurzeit in der Türkei befinden und zum verletzlichsten Teil der Bevölkerung gehören, erhöhen den Druck auf das Gesundheitssystem weiter.
Auch der drastische Umgang der Regierung mit kritischen Stimmen zieht sich durch die Pandemie: „Provokative“ Posts über Corona in sozialen Medien führten bei Hunderten Menschen zu Verhaftungen und Ärzte mussten sich für Forderungen nach einem härteren Durchgreifen entschuldigen.
Ernst der Epidemie noch nicht erkannt
Ein Tag Anfang April in Üsküdar: Der sonst so geschäftige Vorplatz an den Fähranlegern ist ausgestorben. Die Schiffsverbindungen zur europäischen Seite fahren nur noch unregelmäßig, die Marmaray-Tunnelbahn unter dem Bosporus ist bis auf Weiteres geschlossen. An der weitläufigen Uferpromenade, gerade letztes Jahr von der Üsküdarer Stadtverwaltung fertiggestellt, patrouilliert ein Polizeiauto. Immer wieder tauchen vereinzelte Fußgänger auf.
Dann ruft ein Polizist ins Megafon: „Wir räumen die Promenade! Bitte bleiben Sie zuhause!“ Bereits Ende März hatte der Stadtteil auch den letzten der dutzenden Hobbyfischer am Bosporus aufgefordert, seine Angel einzupacken und nachhause zu gehen. Auf dem zentralen Üsküdarer Fischbasar jedoch ein anderes Bild: Immer noch drängen sich Passanten durch die Gassen, in Lebensmittelläden wird kaum auf den Sicherheitsabstand geachtet.

Dies verstärkt einen Eindruck, der auch in den heimischen Medien laut wird: Viele Türken scheinen die Epidemie nach wie vor nicht Ernst zu nehmen. Zwar ist der Slogan #evdekaltürkiye („Bleib zuhause, Türkei“) in aller Munde — er wird etwa von Prominenten auf Instagram-Accounts verbreitet. Doch in einer Kultur, die weit mehr noch als in Westeuropa von Familienleben, Sozialkontakten und regem Straßenleben geprägt ist, ist das schwerer durchzusetzen.
Obwohl Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder an die Bürger appellierte, zuhause zu bleiben, gingen immer wieder Videos von dicht gedrängten Menschenmengen auf Istanbuler Straßenmärkten oder gut besuchten Hochzeitsfeiern durch soziale Netzwerke.
Keine allgemeine Ausgangssperre
Um der ohnehin angeschlagenen türkischen Wirtschaft nicht noch weiter zu schaden, verhängte die AKP-Regierung keine allgemeine Ausgangssperre. Weiterhin gehen Millionen Menschen ihrer Arbeit nach und werden so zum Risikofaktor für Eltern, Großeltern und Kinder, die sich zuhause befinden. „Die Türkei ist ein Land, in dem die Produktion weiterlaufen und die Zahnräder sich unter allen Bedingungen weiterhin drehen müssen“, hatte Erdogan in einer Ansprache verkündet.
Ferner rief er eine Hilfskampagne für die heimische Wirtschaft aus, die den Titel „Biz Bize Yeteriz Türkiyem“ („Meine Türkei, wir genügen uns selbst“) trägt. Dabei kamen, vor allem mit Großspenden von Banken und Firmen, bisher über 1 Milliarde Türkische Lira (etwa 140 Millionen Euro) zusammen. Die türkische Regierung brachte außerdem ein Rettungspaket von umgerechnet 15 Milliarden Dollar auf den Weg, das in erster Linie aus Kreditzusagen und Steuernachlässen besteht, weniger jedoch aus Direkthilfen für Bürger oder Betriebe.
Istanbul als Epizentrum der Pandemie
Derweil ist Istanbul mit einem Anteil von 60 Prozent an der Gesamtzahl der türkischen Corona-Fälle der Brennpunkt der Epidemie. Gesundheitsminister Koca hatte erklärt, dass eine Person in China durchschnittlich 2,6 weitere infiziert hätte, in Istanbul jedoch liege der Schnitt bei 16 Personen.
Mehrfach forderte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der Oppositionspartei CHP Ausgangsbeschränkungen für die 16-Millionen-Metropole — bisher ohne Erfolg. Das politische System der Türkei ist inzwischen so umgestaltet worden, dass die wichtigen Entscheidungen nur noch bei einem Mann, nämlich beim Präsidenten Erdogan, liegen. Manche fürchten, dass die Bemühungen zur Bekämpfung von Covid-19 am Tauziehen zwischen der nationalen Regierung und Provinzpolitikern scheitern könnten.
Regierung verhängt striktere Maßnahmen
Seit Anfang April werden die Maßnahmen nun merklich strenger: Neben dem bereits in Kraft getretenen Ausgehverbot für Über-65-Jährige dürfen nun auch Jugendliche unter 20 Jahren nicht mehr auf die Straße. Am 4. April wurden die Grenzen von 31 Städten geschlossen. Pkw-Verkehr zwischen den 81 Provinzen ist nur noch mit einer Sondergenehmigung möglich. Außerdem gilt seit dem letzten Wochenende eine Maskenpflicht in Geschäften und Märkten.
Die Verwaltung von Üsküdar hat derweil einen Einkaufsservice für Senioren eingerichtet. Auf dem Instagram-Account des Bürgermeisters sind Videos von Ordnungshütern zu sehen, die Einkaufslisten von alten Männern mit Vollbart entgegennehmen und dann mit Einkaufstüten an die Haustür zurückkehren. Außerdem wurde eine Aussetzung der Ladenmieten für Händler verkündet, die mit der Krise ihre Türen schließen mussten.
Das Coronavirus macht sich inzwischen auch in den Gebetsrufen der Moscheen bemerkbar. Nach dem üblichen Aufruf zum Gottesdienst folgen jetzt spezielle Heilungsgesänge zu Ehren des Propheten Mohammed, sowie die Durchsage des Imams, bitte nicht in die Moschee zu kommen, sondern von zuhause aus zu beten — in der Stadt mit Tausenden Minaretten ist das eine völlig neue Erfahrung.