Bühnenkunst in Zeiten von Berührungsängsten: Nach der Zwangspause suchen Theater nun Wege aus der Krise. Pragmatisch, indem sie für sanitäre Sicherheit sorgen. Aber auch philosophisch und künstlerisch, um ihre Rolle in einer verunsicherten Gesellschaft zu spielen.
Die „Bretter, die die Welt bedeuten“, ächzen nicht mehr, Lichter sind aus, Vorhänge zugezogen. Aufkleber mit den Worten „verschoben“ oder „abgesagt“ kleben schräg über den Plakaten der Schaukästen. Die Türen zu den Theatern sind seit bald einem halben Jahr geschlossen. Schauspieler und Schauspielerinnen sind verstummt, im omnipräsenten, lauten und meist hektischen Sicherheits- und Gesundheitsdiskurs, der unser Zusammenleben im Moment dominiert und alle anderen Stimmen übertönt.
Doch es tut sich etwas, hinter den Kulissen, in den Köpfen der Theatermacher und Theatermacherinnen. Die Saisoneröffnung steht bevor, bald darf wieder gespielt werden, auch wenn gewohnte Proben- und Aufführungspraktiken auf den Kopf gestellt sind. Die Zwangspause hat die Theater verändert. Doch nur für kurze Zeit oder tatsächlich nachhaltig?
Hauptsache wieder spielen
Neben inhaltlichen Reflexionen, steht seit Wochen vor allem auch pragmatisches Kalkül auf der Tagesordnung der Theaterdirektionen: „Wir rechnen viel und überlegen, welche Maßnahmen wir zur Sicherheit unseres Publikums nun auch wirklich umsetzen“, sagt Carole Lorang, Leiterin des Escher Theaters. „Halten wir die zwei Meter Abstand ein, so können wir statt 517 Plätzen nur noch 100 besetzen.“ Das sei zwar sehr wenig, aber so könne das Theater zumindest auf eine Maskenpflicht verzichten.
„Mit zwei Metern Abstand sind die Zahlen für uns nicht mehr interessant“, sagt hingegen Tom Leick-Burns, Leiter der städtischen Theater. Er setzt auf Masken und kann zudem auf eine Infrastruktur zurückgreifen, die an die Pandemie angepasste Aufführungen erleichtert: Klimaanlage mit hundertprozentiger Frischluftzufuhr, mehrere Ein- und Ausgänge und große Räume. „Das Publikum kann sich bei uns sicher fühlen“, so Leick-Burns. Als solidarische Geste stellt er seine Infrastrukturen ab Herbst nun auch kleineren, weniger angemessen ausgestatteten Theatern für Aufführungen zur Verfügung.
Als wir die Saison während des Lockdowns umgestalteten, wurden alle kleinen Probleme, die mit der Funktionsweise des Theaters verbunden sind, zweitrangig. Wir haben verstanden: Hauptsache wieder spielen!“Véronique Fauconnet, künstlerische Leiterin des TOL
Eine größere Herausforderung stellt für ihn der Schutz der Schauspieler dar: „Wir beschäftigen nun einen Covid-Referenten pro Produktion“, erzählt er. Dieser soll besonders auch die Proben begleiten und aufpassen, dass die Schauspieler während der Arbeit die Sicherheitsmaßnahmen beachten. Da viele Schauspieler an mehreren Produktionen parallel arbeiten, haben sie Kontakt zu verschiedenen Arbeitsgruppen. Die Gefahr eines Corona-Falles im Team hängt wie ein Damoklesschwert über den Theatern, denn ein Infizierter kann eine Kettenreaktion auslösen und im schlimmsten Fall gleich mehrere Produktionen zum Kippen bringen. Viele in der Szene erinnern sich noch an die Eröffnungsfeier des Luxemburger Filmfestivals Anfang März, das sich im Nachhinein als einer der großen Infektionsherde entpuppte und drei Tage vor dem offiziellem Ende abrupt abgebrochen wurde.

„Diese Krise hat uns daran erinnert, wie wertvoll das, was wir tun, ist und wie viel Glück wir haben, es zu tun“, sagt Véronique Fauconnet, vom Théâtre Ouvert Luxembourg. „Als wir die Saison während des Lockdowns umgestalteten, wurden alle kleinen Probleme, die mit Produktionen oder der Funktionsweise des Theaters verbunden sind, zweitrangig. Wir haben verstanden: Hauptsache wieder spielen!“ so das Credo der künstlerischen Leiterin des kleinen französischen Theaters an der route de Thionville.
Pause statt digitalem Hyperaktionismus
Denn das Ausweichen ins Digitale, wie es andere Kunstsparten vormachten, war für die meisten Theater keine wirkliche Alternative. „Dafür gibt es Filmcrews“, sagt die Bühnen- und Kostümbildnerin Peggy Würth. Im Gegensatz zu Film und Fernsehen, lebe das Theater von physischer Präsenz, von der Interaktion zwischen Darstellern und Publikum. „Spectacle vivant muss spectacle vivant bleiben“, so Würth, die als Präsidentin der ASPRO (Association Luxembourgeoise des Professionnels du Spectacle Vivant) die Meinung vieler Theaterschaffenden vertritt. Aufführungspause statt digitalem Hyperaktionismus also. Und das sei in gewisser Weise auch gut so.
„Die Pandemie hat alle Punkte, die wir auf der „To-Change-Liste“ hatten, bestätigt und noch verstärkt“, so Würth. Die meisten Mitglieder der Vereinigung arbeiteten sowieso viel zu viel, um über die Runden zu kommen. Auch wenn die Realität es in den meisten Fällen leider nicht zulasse, es sei wichtig, sich auch einmal eine Pause zu gönnen. Insbesondere, um kreative Prozesse zu fördern. „Es war durchaus auch die Zeit, um das System in Frage zu stellen“, so die Präsidentin der ASPRO. Das im Rahmen der Pandemie beliebte Stichwort der Nachhaltigkeit fällt auch hier. Weniger produzieren, mehr Zeit, für Proben, für Aufführungen, für Vor- und Nacharbeit haben, das wünschen sich viele.
Auch in den Theaterleitungen ist das Bewusstsein für eine nachhaltigere Arbeit durchaus vorhanden: Es sei schon schmerzlich gewesen, quasi von heute auf morgen das Gefühl zu bekommen, „nicht mehr gebraucht“ zu werden, gibt Tom Leick-Burns zu. „Gleichzeitig wurde uns aber auch klar, wie verrückt unser Rhythmus normalerweise ist“, so der Direktor des stark international ausgerichteten Dreispartenhauses mit normalerweise über 120 Vorstellungen pro Jahr.
Große Chance für lokale Szene
Ein Blick in die kommende Saison lässt dann auch einige Veränderungen erkennen. Durch das Wegfallen großer internationaler Produktionen – die internationale Tanzsaison ist komplett auf Beginn 2021 verlegt worden – hat der Spielplan in großen Theatern, wie dem Grand Théâtre beim Glacis, Lücken bekommen. Gleichzeitig werden viele Produktionen, die seit März nicht mehr stattfinden konnten, nun aufgegriffen und in der neuen Spielzeit gezeigt.
Dieser „Verschiebebahnhof“, wie es die Verantwortlichen des Kasemattentheaters nennen, müsse natürlich in erster Linie die Interessen und Möglichkeiten der einzelnen Künstler berücksichtigen. Denn, „die Künstler dürfen nicht Opfer dieser Krise werden“, so Lex Weyer, Präsident und Marc Limpach, Dramaturg, des kleinen Theaters in Bonneweg.
Was man seinem Gehirn zuführt, ist genauso wichtig, wie das, was man sich in den Mund steckt: auch dort gilt es nicht die globale Nahrungsindustrie, sondern vor allem auch lokale und regionale Produzenten zu unterstützen.“Marc Limpach, Dramaturg des Kasemattentheaters
Doch gerade für lokale Künstler bietet diese neu geforderte Flexibilität in der Umgestaltung der Saison große Chancen: „Was man seinem Gehirn zuführt, ist genauso wichtig, wie das, was man sich in den Mund steckt: auch dort gilt es nicht die globale Nahrungsindustrie, sondern vor allem auch lokale und regionale Produzenten zu unterstützen“, heißt es von Seiten des Kasemattentheaters. „Make empathy great again, support your local theatre“ war bereits in der Saison 2017 / 2018 Slogan des Kasemattentheaters, das sich seit Jahren für eine bessere Förderung der nationalen Szene einsetzt.

Aber auch Tom Leick-Burns, dessen Auftrag deutlich internationaler ausgerichtet ist, hat die Chance erkannt und nutzt die internationalen Absagen zur Unterstützung der hiesigen Szene: „Endlich können wir direkt reagieren und die Aktualität behandeln“, sagt Leick-Burns, „das ist bei unseren Planungszeiträumen normalerweise nicht möglich“. Unter dem Motto „Rentrée solidaire“ haben die Theater der Stadt Luxemburg gemeinsam mit dem Kinneksbond in Mamer über den Sommer direkt neue Kreations-Aufträge an lokale Künstler vergeben: Was haben die Theaterautoren zu sagen? Welche Lehren ziehen sie aus der Krise? Und ist die sanitäre Krise nicht vielmehr eine gesellschaftliche Krise? Eine Krise des Umgangs der Menschen miteinander?
Der Virus als Trigger
Guy Helminger, einer der acht Autoren, der einen Schreibauftrag bekommen hat, warnt: „Wir müssen richtig aufpassen, dass wir nicht in einer totalitären Gesellschaft landen.“ Der Virus habe wie ein Trigger gewirkt, durch den latent vorhandene Ängste, schlummernde Egomanie und Unsolidarität aus vielen Menschen herausgebrochen seien. Helminger prangert kollektive Denunziationen, eine fehlende Diskussionskultur und den Anspruch auf Meinungshoheit an.
Was hält eine Gesellschaft zusammen? Sind es die Menschenrechte? Ich weiß es nicht.“Frank Hoffmann, Intendant des TNL
Jede Menge Stoff für Theater also. „Wie kann eine Regierung ein CETA-Abkommen durchwinken, während Demonstrationsverbot herrscht? Wo stehen wir, wenn sich sogar ein Ethikrat für eine Tracing-App ausspricht? Wieso glaubt jeder, er kenne die Wahrheit? Und vor allem: Warum muss sich jeder immer überall mitteilen?“ fragt etwa Helminger. In den ersten Monaten der neuen Saison werden diese ersten, schriftstellerischen Auseinandersetzungen mit der Krise nun von lokalen Regisseuren auf die Bühnen gebracht.
„Was hält eine Gesellschaft zusammen?“ fragt dann auch Frank Hoffmann im Nationaltheater. „Sind es die Menschenrechte? Ich weiß es nicht.“ Corona habe stabilisierende Faktoren ins Wanken gebracht und den Begriff von Zeit verschoben, meint der Intendant, für den die erste Zeit des Lockdowns „etwas Utopisches“ hatte. „So viel Zeit zum Nachdenken, zum Schreiben“.
Zeit für kritisch-ästhetische Reflexionen, die bereits jetzt zum Saisonauftakt auch im TNL ihre Früchte tragen: Im Nationaltheater ist während der Aufführungspause eine völlig neue, große Produktion entstanden, die es zudem ermöglicht Schauspielern, die Opfer einer abgesagten Produktion wurden, neue Aufträge zu geben. Florian Hirsch, der Dramaturg des Theaters, hat innerhalb eines Monats eine Bühnenfassung des Zauberbergs von Thomas Mann geschrieben, dem „Corona-Text avant la lettre“, wie Frank Hoffmann sagt. In der Inszenierung möchte er das Mann’sche Verständnis von Zeit, sowie im Zauberberg beschriebene Stimmungen und Atmosphären im Zusammenleben der Menschen auf das Heute übertragen. Premiere ist für den 21. Oktober geplant.
Die Krise könnte der Stellung des Theaters in der Gesellschaft eine neue Wichtigkeit geben. Denn wo, wenn nicht im Theater, kennt man sich aus mit unstabilen Wirklichkeiten? Mit Wechseln in der Perspektive, Pluralismus im Denken, Entschleunigung und Versuchen? Hier kann gespielt werden, was alles möglich wäre. Denn Fiktionen sind Wirklichkeitsentwürfe für eine ungewisse Zukunft. Und die werden mehr gebraucht denn je.