Die Werte der Luxemburger Gesellschaft sind im Wandel. Eine neue Studie zeigt, wie wichtig die Steigerung des eigenen Wohlstands auch weiterhin ist. Während Individualisierung und liberale Werte an Zustimmung gewinnen, sinkt das Vertrauen in die Politik drastisch.

Selbstverwirklichung, Lebensqualität und Solidarität ersetzen das Streben nach materiellem Wohlstand und Sicherheit. Das beschreibt den Wertewandel in industrialisierten Ländern seit den 1970er Jahren, wie ihn etwa der US-Politologe Ronald Inglehart erforschte. Doch für die Luxemburger Wohlstandsgesellschaft trifft der Trend hin zu Bedürfnissen, die über das Materielle hinausgehen, nur bedingt zu. Neue Daten aus der „European Values Study“ zeigen eine Entwicklung, die längst nicht abgeschlossen ist.

Wenn Philippe Poirier von den Ergebnissen der europäischen Studie spricht, benutzt er denn auch gerne das Wort „Evolution“. Der Politologe und Studienleiter für Luxemburg zeichnet im Gespräch mit Reporter.lu das Bild einer Gesellschaft im Wandel. Die Bilder der Frau, der Ehe, der Demokratie und des Ausländers haben sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Die neueste Erhebung wurde zwischen Oktober 2020 und Januar 2021 durchgeführt, also zwölf Jahre nach der letzten Teilnahme Luxemburgs. Umso größer sind die Unterschiede in den Ergebnissen.

Feminismus auf dem Vormarsch

Die wohl größte Veränderung betrifft das Frauenbild. Das traditionell konservative Ideal einer Mutter, deren Hauptaufgabe die Erziehung der Kinder und die Verwaltung des Haushalts ist, wird von fast 90 Prozent der Befragten abgelehnt. Auch sind annähernd 60 Prozent der Auffassung, dass eine berufstätige Frau dem Familienleben nicht schade.

Diese Entwicklung zieht sich auch durch andere Gesellschaftsfelder. Demnach sind fast 90 Prozent der Befragten nicht der Ansicht, dass Männer bessere Politiker seien als Frauen. Das Gleiche gilt für Führungskräfte in Unternehmen. Bereits bei der letzten Umfrage waren diese Werte im Aufschwung, jedoch war das Streben nach mehr Gleichberechtigung in der Beziehung vor allem bei jungen Menschen ausgeprägt. Die hohen Werte deuten nun darauf hin, dass sich diese Meinung in allen Altersgruppen langsam durchsetzt.

Auch die Sichtweise auf ein vermeintliches Tabuthema wie Abtreibung hat sich geändert. Fast ein Drittel der Befragten hält eine Abtreibung etwa stets für gerechtfertigt. Andererseits stehen lediglich rund zwölf Prozent einer Abtreibung kritisch oder gar komplett ablehnend gegenüber. „Das Bild einer konservativen, altmodischen Gesellschaft trifft, was die Rolle der Frau angeht, nicht mehr zu“, so Philippe Poirier. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass der Einfluss der Religion in der Gesellschaft abgenommen hat. Weniger als ein Viertel der Befragten betrachtet Religion als wichtig in ihrem Leben.

Die hohe Unterstützung für mehr Gleichberechtigung bekräftigt die These des Politologen, dass diese Werte in Wohlstandsgesellschaften an Bedeutung gewinnen. Jedoch ist das nur einer der wenigen Punkte, in denen sich die Gesellschaft klar zu post-materiellen Werten bekennt.

Unterstützung für Gießkannen-Politik

Das Streben nach persönlichem Reichtum bleibt in der Bevölkerung stark. In manchen Bereichen sind dabei die Grenzen zwischen Post-Materialismus und Materialismus fließend. Eine knappe Mehrheit spricht sich etwa für eine stärkere Einkommensgleichheit aus. „Allerdings wird der Sozialstaat in erster Linie begrüßt, weil er auch die eigene Kaufkraft stärkt“, sagt Philippe Poirier. Das Streben nach mehr Gerechtigkeit geht also mit einer Steigerung des eigenen Reichtums einher.

Fast alle Befragten gaben etwa an, dass die Arbeit in ihrem Leben am wichtigsten sei. Dieser Wert liegt erstmals sogar über dem Prozentsatz jener Menschen, die die Familie als erste Priorität bezeichnen. Warum diese Prioritätensetzung? „Ich karikiere, aber für viele Menschen ist der Stellenwert der Arbeit entsprechend hoch, weil sie es ihnen erlaubt, in die Ferien zu fahren und ein Eigenheim zu besitzen“, meint der Politikwissenschaftler der Universität Luxemburg. Demnach sei es auch nicht verwunderlich, dass etwa 92 Prozent der Befragten die Freizeit als wichtig empfinden.

Müssen die Befragten zwischen materiellen und post-materiellen Werten entscheiden, behält die Steigerung des eigenen Wohlbefindens knapp die Oberhand. Demnach ist für 27,8 Prozent der Befragten der Kampf gegen die Inflation wichtiger als etwa die freie Meinungsäußerung (26,1 Prozent) oder die politische Mitbestimmung (19,7 Prozent). Beide werden hingegen überwiegend als zweite Priorität genannt.

Somit sei Luxemburg eine Wohlstandsgesellschaft, die zur Stärkung der politischen Freiheiten führt, sagt Philippe Poirier. Werden die Teilnehmer jedoch gefragt, ob eher die Umwelt oder die Wirtschaft auf Kosten des jeweils anderen Bereichs Priorität gewinnen soll, antwortet eine Mehrheit von 54,3 Prozent, der Umweltschutz solle gefördert werden. Lediglich 16,5 Prozent finden hingegen, die Wirtschaft solle gefördert werden, auch wenn es der Umwelt schadet.

Die Widersprüche der Luxemburger Gesellschaft ziehen sich durch fast alle Teile der Studie. Während mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer es sehr gut fände, wenn den Autoritäten künftig stärker Folge geleistet werde, sagt gleichzeitig mehr als ein Viertel der Befragten, sie könnten sich vorstellen, an einer illegalen Demonstration teilzunehmen. Für eine angemeldete Demonstration liegt der Wert gar bei mehr als 70 Prozent. In einem Land, das nicht für seine Demonstrationsfreudigkeit bekannt ist, ist dies umso überraschender. Die Petition bleibt derweil das beliebteste Mittel zur politischen Beteiligung. Mehr als 80 Prozent haben bereits eine Petition unterzeichnet oder könnten sich vorstellen, eine zu unterschreiben.

Vom Kollektiv zum Individuum

Die hohe Demonstrationsbereitschaft ist jedoch auch aus einem anderen Grund erstaunlich. Es ist einer der wenigen Bereiche, in denen die kollektive Aktion befürwortet wird. Das Vertrauen in Organisationen, die versuchen, zwischen verschiedenen Interessen zu vermitteln, nimmt hingegen ab. Mehr als 40 Prozent der Befragten haben etwa kaum noch Vertrauen in die Gewerkschaften, nur geringfügig mehr Personen haben noch etwas Vertrauen, und nur 3,7 Prozent haben volles Vertrauen in die Gewerkschaften. Zudem sind nur noch 17,4 Prozent der Befragten selbst Mitglied einer Gewerkschaft. Philippe Poirier zufolge gibt es zudem keine größeren Unterschiede in der Einstellung von Geringverdienern und Gutverdienern oder Ausländern und Luxemburgern gegenüber den Gewerkschaften.

Doch die Arbeitnehmervertreter sind nicht die Einzigen, die von einem Vertrauensverlust betroffen sind. Noch stärker hat das Vertrauen in die Parteien gelitten. Bereits in der letzten Studie zu den Wahlen 2018 konnten die Politikwissenschaftler um Philippe Poirier eine Erosion feststellen. Nun hat sich dieser Trend weiter verstärkt, demnach hätten mehr als 70 Prozent der Studienteilnehmer das Vertrauen in die Parteien verloren.

Entsprechend nimmt auch die Zahl der Menschen, die sich mit einer Partei identifizieren, ab. Immerhin 44 Prozent stehen keiner Partei nahe. Weniger als sieben Prozent bezeichnen sich noch als Mitglied einer Partei. Auch hier bestätigt sich der Trend von früheren Studien zum Wahlverhalten. Demnach nimmt die Zahl der Wechselwähler kontinuierlich zu. Bei den letzten beiden Wahlen hätten etwa 40 Prozent der Befragten erst in den drei Tagen vor der Wahl entschieden, wo sie ihr Kreuz machen würden, so Philippe Poirier.

Der Rückgang von kollektiven Aktivitäten trifft indes auch Vereinigungen. Lediglich ein Viertel der Studienteilnehmer sind etwa noch Mitglied eines Sportvereins. „Im Vergleich zu 2008 sind das 25 Prozentpunkte weniger“, unterstreicht Philippe Poirier. Andere Bereiche wie karitative, religiöse oder Umweltvereinigungen liegen indes abgeschlagen bei zwischen neun und 16 Prozent. Der Rückgang sei jedoch am geringsten bei Umweltorganisationen, so der Politologe.

Die langsame Entsolidarisierung

„Die Menschen sehen wohl immer weniger den Nutzen von solch vermittelnden Kräften wie Parteien oder Gewerkschaften“, sagt Philippe Poirier. Das zeigt sich auch in anderen Zahlen. Mehr als die Hälfte der Befragten findet etwa, dass mehr auf Eigenverantwortung gesetzt werden müsse. Fast genau so viele Teilnehmer stimmten der Aussage zu, dass Arbeitslose Jobangebote nicht ablehnen dürften.

Doch auch hier äußern sich die Befragten widersprüchlich. Werden die Teilnehmer etwa explizit gefragt, inwiefern sie sich von den Lebensbedingungen der Arbeitslosen betroffen fühlen, ändert sich das Bild. Demnach fühlen sich etwa 70 Prozent zu einem gewissen Grad betroffen. In gleichem Maße fühlen die Befragten Empathie für die Lebensbedingungen der Ausländer in Luxemburg. Beide Werte sind im Vergleich zur letzten Umfrage 2008 sogar gestiegen.

Auch das ist wohl ein Zeichen für die Zunahme von post-materiellen Werten. Philippe Poirier spricht mit Blick auf die neuen Daten von einer Individualisierung der Gesellschaft. Das eigene Wohlbefinden steht weiterhin im Mittelpunkt, aber die anderen Mitmenschen sollen auch von diesen neuen Freiheiten profitieren. So nimmt auch die Diskriminierung von homosexuellen Paaren oder Ausländern ab.

Die Wenigsten befürchten etwa, dass Ausländer ihnen den Arbeitsplatz streitig machen könnten. Doch auch wenn der Trend rückläufig ist, sind die Vorurteile noch lange nicht verschwunden. Mehr als ein Viertel wünscht sich etwa, nicht neben Sinti und Roma zu leben, zehn Prozent bevorzugen es, einen nicht-muslimischen Nachbarn zu haben, und 5,4 Prozent wollen schlicht keine Ausländer als Nachbarn. Nur Drogenabhängige und Alkoholiker werden von einer noch größeren Mehrheit als Nachbarn abgelehnt.

Die "European Values Study" zeichnet demnach eine Gesellschaft der Widersprüche. Zwar nehmen die post-materiellen Werte zu, allerdings nur, wenn das materielle Wohlbefinden dadurch nicht leidet.