Die Debatten zum „Etat de la Nation“ zeigen: Kurzfristige parteipolitische Interessen dominieren den finanzpolitischen Diskurs. Die Obsession des Vergleichs mit der Vorgängerregierung versperrt jedoch den Blick auf die wirklichen Herausforderungen. Eine Analyse.
Geht es dem Land finanziell besser als 2013? Eigentlich eine einfache Frage, die man anhand von öffentlich zugänglichen Zahlen beantworten können sollte. Wenn man die politische Debatte verfolgt, ist die Antwort auf diese Frage allerdings höchst umstritten. Dies zeigte sich auch wieder beim Schlagabtausch im Parlament im Anschluss an die „Rede zur Lage der Nation“ des Premierministers.
Wenig überraschend ist dabei, dass Regierung und Opposition über die Interpretation von Fakten streiten und immer nur jene Zahlen anführen, die zu ihrer jeweiligen Argumentation passen. Neu ist aber: Manche Politiker stellen die Fakten an sich in Frage.
Im Parlament, aber auch in der jüngsten „Kloertext“-Diskussionsrunde kam es jedenfalls zu beeindruckenden Szenen, als sich allen Ernstes darüber gestritten wurde, ob der Schuldenstand des Staates seit 2013 gestiegen sei oder nicht. Die Oppositionsparteien CSV und ADR rechneten Zahlen vor. Die Mehrheitsparteien konterten mit anderen Zahlen. „Ja“, „Nein“, „Das stimmt nicht“, „Augenwischerei“, „Tricksereien“: Die Zuschauer konnten den Eindruck gewinnen, als gebe es unterschiedliche Faktenlagen und mehrere politische Realitäten.
Fakten vs. Rhetorik
„Mir hunn d’Scholdenspiral gebrach“: Der Satz von Finanzminister Pierre Gramegna (DP) fiel in den vergangenen Jahren immer wieder. Die Regierung habe die Staatsfinanzen nicht nur im Griff, sondern habe bei der Schuldenentwicklung eine Trendwende eingeleitet, so die Argumentation. Premierminister Xavier Bettel (DP) gebrauchte in seiner „Rede zur Lage der Nation“ zwar das gleiche Bild. Die „Schuldenspirale“ sei von der Regierung allerdings nicht „gebrochen“, sondern „ausgebremst“ worden, so der neue Wortlaut.
Auch Gramegna hat rhetorisch mittlerweile etwas abgerüstet: Aus „Mir hunn d’Scholdenspiral gebrach“ wurde nämlich in diesem Jahr das weniger griffigere, dafür aber faktisch richtigere Motto: „D’Staatsschold geet erof par rapport zum PIB.“
Die Opposition hat Recht, wenn sie behauptet, dass die Staatsschulden seit 2013 weiter angestiegen sind. Die Regierung hat Recht, wenn sie betont, dass die Schuldenquote niedriger liegt als noch 2013. Beides gehört zusammen.“
Fakt ist: Die Schulden des Staates sind seit 2013 weiter gestiegen. 2013 lag die konsolidierte Staatsschuld in absoluten Zahlen bei 11,01 Milliarden Euro. Bis 2017 ist der Schuldenstand auf 12,7 Milliarden Euro angewachsen.
Fakt ist auch: Die Schuldenquote (Staatsschulden im Vergleich zum BIP), die international aussagekräftigere Kennziffer, ist in der Amtszeit von Blau-Rot-Grün leicht zurückgegangen. 2013 lag sie noch bei 23,7 Prozent, 2017 bei 23,0 Prozent.
Vorläufiges Fazit der neuen Faktendebatte: Die Opposition hat Recht, wenn sie behauptet, dass die Staatsschulden seit 2013 weiter angestiegen sind. Die Regierung hat Recht, wenn sie betont, dass die Schuldenquote niedriger liegt als noch 2013. Beide Feststellungen gehören zusammen.
Fakten vs. Prognosen
Eine weitere Besonderheit im finanzpolitischen Diskurs ist der Vergleich von Zahlen, die eigentlich nicht miteinander vergleichbar sind. So sagten sowohl Premierminister Xavier Bettel (DP) als auch LSAP-Fraktionschef Alex Bodry zwar, dass man tatsächliche Zahlen bzw. Abrechnungen vergangener Jahre nicht mit Budgetzahlen bzw. Prognosen vergleichen dürfe, wie es die Opposition oft tue. Andererseits halten sich Koalitionspolitiker selbst auch nicht immer an diese Prämisse.
So malten die Finanzpolitiker der Koalition in den vergangenen Jahren stets das Schreckensszenario von 2013 an die Wand. Die Prognosen seien damals düster gewesen, heißt es. Laut den Zahlen, die bei den Koalitionsverhandlungen Ende 2013 vorlagen, hätte man in wenigen Jahren die besorgniserregende 30-Prozent-Marke der Schuldenquote überschritten. Dank der Maßnahmen der Regierung liege man jetzt aber weit darunter, sagten Bettel und Gramegna auch dieses Jahr wieder.
Was man nicht dazu sagt: Das eine war eine statistische Prognose „à politique inchangée“, das andere waren tatsächlich erreichte Ergebnisse. Objektiv betrachtet erscheint der Unterschied mit einer Schuldenquote von 23,7 (2013) und 23,0 Prozent (2017) dann doch nicht ganz so spektakulär.
Die Konsolidierung des durch die Krisenjahre aus dem Gleichgewicht geratenen Staatshaushalts begann schon vor der Vereidigung der Dreierkoalition, und wurde dann von dieser maßgeblich fortgeführt.“
Ähnlich selektiv verhält es sich bei der Frage der Investitionen: Beim Schuldenstand argumentieren Koalitionspolitiker, dass man allein das Verhältnis zum BIP beachten müsse. Beim Niveau der staatlichen Investitionen ist es genau umgekehrt. Die Rede vom „historisch hohen Investitionsniveau“ bezieht sich allein auf die absoluten Zahlen. Die Quote im Verhältnis zur Wirtschaftskraft ist aktuell dagegen niedriger als im Durchschnitt vergangener Regierungsperioden, wie es auch Jean-Claude Franck im „Faktencheck“ von Radio 100,7 kürzlich darlegte.
Schiefer Dauervergleich mit 2013
Zur ehrlichen Bilanz der blau-rot-grünen Koalition gehört, dass diese Regierung eine doppelte Herausforderung zu meistern hatte: den Wegfall der Einnahmen der „TVA e-commerce“ sowie das generelle haushaltspolitische Erbe des Managements der Finanzkrise ab 2008. Um diese Problemstellung zu meistern, brachte man zu Beginn der Amtszeit die Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen im Rahmen des sogenannten „Zukunftspak“ auf den Weg. Dank der wieder anziehenden Konjunktur konnten die Ausgabenkürzungen letztlich aber schwächer ausfallen als ursprünglich geplant.
Zur Bilanz gehört freilich auch die Steuerreform, die sich in Form von kurzfristigen Mindereinnahmen in den Zahlen niederschlägt. Ohne die Entlastungen von Privathaushalten und Unternehmen hätten DP, LSAP und déi gréng in der Haushaltspolitik zum Ende ihrer ersten Amtsperiode eine noch weitaus positivere Bilanz vorlegen können. Andererseits erhofft man sich von der Reform natürlich mittelfristig positive Effekte bei der Kaufkraft, und nicht zuletzt an der Wahlurne.
Die Kunst der Zahlenspielerei und der einseitigen Interpretation von Fakten beherrschen Politiker aller Couleur.“
Was ebenso stimmt: Im europäischen Vergleich steht Luxemburg mit seiner Schuldenentwicklung trotz allem immer noch gut da. Das Großherzogtum hat aktuell, wie der Finanzminister in seiner Rede vor dem Parlament wieder richtig festhielt, die zweitniedrigste Schuldenquote in der EU. Das ist allerdings ebenso wie das „Triple A“ kein Novum und auch kein alleiniges Verdienst dieser Regierung, denn beides war auch schon vor 2013 der Fall.
Generell war die Situation beim Regierungswechsel Ende 2013, wie man heute weiß, nicht so schlecht wie es die drei Parteien seitdem immer behaupten. Das Budget des Gesamtstaats verzeichnete bereits damals einen satten Überschuss von fast einer halben Milliarde Euro, die Schuldenquote mit 23,7 Prozent leicht höher als heute und die Wirtschaft wuchs nach der Rezession auch schon wieder um 3,7 Prozent – also stärker als etwa im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2017.
Die finanzielle Situation des Staates ist heute dennoch, wie es der Premier sagte, „objektiv positiv“. Im Rückblick war sie das allerdings auch schon zu Beginn der blau-rot-grünen Amtszeit. Die nüchterne Analyse der Zahlen lautet: Die Konsolidierung des durch die Krisenjahre aus dem Gleichgewicht geratenen Staatshaushalts begann schon vor der Vereidigung der Dreierkoalition, und wurde dann von dieser maßgeblich fortgeführt.
Die längerfristige Faktenlage
Aussagekräftiger als die Bewertung nach parteipolitisch aufgeladenen Wahlzyklen ist ohnehin die längerfristige Entwicklung. Die öffentliche Schuld war nämlich nicht erst 2013 da, sondern stieg bereits im Zuge der Finanz- und Bankenkrise rapide an. Seit dem Jahr 2000 hat sie sich quasi verzehnfacht. Der Grund: In den Jahren 2008, 2010 und 2012 emittierte der Staat zur Deckung der Bankenrettungen und Konjunkturpakete drei größere Staatsanleihen. Zwei der jeweils auf zehn Jahre angelegten Schuldenprogramme werden in den kommenden Jahren auslaufen.
Dies ist auch der Grund, warum die Schulden in den kommenden Jahren in absoluten Zahlen weiter steigen werden. Zwei Milliarden Euro musste sich diese Regierung Anfang 2017 schon an den Märkten leihen. Im Oktober dieses Jahres laufen zudem zwei Kredite in Höhe von 500 Millionen Euro aus, die der Staat bei der BCEE aufgenommen hatte. Bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode 2023 werden insgesamt weitere fünf Milliarden an auslaufenden Staatsanleihen fällig. Weitere neue Schuldenprogramme sind demnach mittelfristig unausweichlich. Soviel zur „Schuldenspirale“.
Angesichts der positiven Wachstumsprognosen und des politischen Drucks der Wiederwahl wird sich jede Regierung mit einem nachhaltigen Politikansatz schwertun, der länger hält als eine Wahlperiode.“
Was im politischen Diskurs bisher keine große Rolle spielt: Der Refinanzierungsbedarf von in den Jahren nach der Krise aufgenommenen Krediten oder Staatsanleihen wird den Staat noch vor größere Herausforderungen stellen – unabhängig von der Zusammensetzung der Regierung. Fünf Milliarden Euro bzw. im Schnitt eine Milliarde Euro pro Jahr der kommenden Legislaturperiode: Das ist mehr als das, was man seit 2015 durch die Einnahmeausfälle bei der Mehrwertsteuer kompensieren musste. Und ähnlich wie ihre Vorgänger, überlässt die aktuelle Regierung den kritischen Teil des Schuldenmanagements letztlich ihren Nachfolgern.
Hinzu kommt, dass Luxemburgs Wirtschaftsmodell trotz Anstrengungen zur Diversifizierung noch immer stark von der Entwicklung des Finanzsektors, der weltweiten Konjunktur und von der damit einhergehenden Perspektive des dauerhaften Wachstums, samt Konsequenzen für Umwelt, Verkehr und Wohnungsbau, abhängig ist. Diese Diagnose ist im Jahr 2018 immer noch so wahr wie 2013. Der Finanzminister sagt zwar, dass das Land für externe „Schocks“ gewappnet sei. Das sagten seine Vorgänger Luc Frieden und Jean-Claude Juncker (beide CSV) vor der Krise allerdings auch schon.
Geht es dem Land finanziell besser als 2013? Die makroökonomischen Daten können dies durchaus belegen. Allein die Fragestellung führt jedoch schon zu einer parteipolitisch eingeengten Sichtweise. Und die Antwort kann angesichts der ungewissen Zukunft wohl auch nur Parteipolitiker im laufenden Wahlkampf zufriedenstellen. Außer jenen, die sich dadurch kurzfristig politisches Kapital erhoffen, hilft die Obsession des Dauervergleichs mit „2013“ niemandem wirklich weiter.
Wird es dem Land auch in fünf oder zehn Jahren finanziell noch so gut gehen? Diese Frage hören jene drei Parteien, die der Vorgängerregierung stets mangelnde Weitsicht attestieren, heute nicht mehr so gerne. Doch auch der abstrakte Verantwortungsdiskurs der Opposition in Person von CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler kann nicht wirklich überzeugen. Vor allem fehlt der Glaube, dass ausgerechnet die CSV in einer nächsten Regierung einen Politikansatz entwickelt, der länger hält als eine Wahlperiode.
Die Kunst der Zahlenspielerei und der einseitigen Interpretation von Fakten beherrschen Politiker aller Couleur. Nüchtern betrachtet sollte es in diesem Wahlkampf aber darum gehen, wie die Politik die längerfristigen Herausforderungen des Landes meistern will. Dem Wähler kann es im Grunde herzlich egal sein, wer alles für die aktuellen positiven Entwicklungen verantwortlich ist, wenn diese Gefahr laufen, schon nach den Wahlen wieder zur Disposition gestellt zu werden. Die dynamische Faktenlage richtet sich ohnehin nicht nach Parteifarben und Wahlperioden.