Olympia, Formel 1, Confederations-Cup und nun die Fußball-WM: Kaum eine Stadt hat in den letzten Jahren so viele internationale Sportevents ausgerichtet wie Sotschi. Das kostet Milliarden. Trotzdem ist langfristige Planung keine Priorität in der russischen Schwarzmeerstadt.
Auf der obersten Tribünenstufe kommt Jewgeni Balyschkin ins Schwärmen. „Die Lage hier ist wirklich einzigartig,“ sagt der Pressechef des regionalen Sportministeriums. Sein Zeigefinger richtet sich auf die schneebedeckten Bergkuppen am Horizont: „Da oben kann man immer noch Ski fahren.“ Dann fällt Balyschkins Blick auf den Kieselstrand direkt vor den Toren des Stadions: „…und hier unten liegen die Leute schon seit Wochen in der prallen Sonne.“
Das Stadion „Fischt“ ist nach einem kaukasischen Berg benannt. Es wurde für die olympischen Winterspiele von 2014 erbaut, und liegt etwa 30 Kilometer südlich von Sotschi im Vorort Adler, direkt am Schwarzen Meer. Einzigartig ist die Arena nicht nur wegen ihrer spektakulären Lage. In den letzten Jahren fand hier eine beeindruckende Serie von sportlichen Großereignissen statt: Neben der Eröffnungs- und Schlusszeremonie der Winterolympiade war das Stadion 2014 auch Austragungsort der Paralympics. Im letzten Sommer spielte die deutsche Fußballnationalmannschaft während dem Konföderationen-Pokal drei mal im „Fischt“.
Die gesamte Umgebung ist von den rezenten Sportevents geprägt. „Hier gleich nebenan sieht man das Eishockey-Stadion ‚Puck‘, dahinter liegt das Curling-Center und der große Eispalast. Alle wurden speziell für die Winterspiele 2014 erbaut,“ erklärt Balyschkin. Doch damit nicht genug: Das Meeresrauschen, das von der Stadiontribüne zu hören ist, wird immer wieder von vorbeidröhnenden Rennwagen übertönt. Seit 2014 findet in Adler auch jedes Jahr ein Formel 1-Grand-Prix statt. Rennsportfans können die knapp sechs Kilometer lange Strecke entlang der Olympiastätten den ganzen Sommer über gegen Entgelt testen.
„Wie ein geschmückter Weihnachtsbaum“
Vier Jahre nachdem die olympischen Spiele hier stattfanden, erinnert dieser Vorort von Sotschi mehr an Las Vegas als an einen entspannenden Kurort. Auch diesen Sommer soll ein internationales Großereignis wieder hunderttausende Besucher anlocken: In den nächsten Wochen werden sechs Partien der Fußball-Weltmeisterschaft im „Fischt“ ausgetragen. Den Auftakt macht am Freitag (15.06.) das Spitzenspiel der Gruppe B zwischen dem Europameister Portugal und Spanien.
„Sie werden unser Stadion zur WM nicht wiedererkennen. Es wird dann aussehen, wie ein geschmückter Weihnachtsbaum,“ scherzt Stadion-Direktor Oleg Truschkin. Trotz der rezenten Großereignisse, wirkt das Stadion verwittert, als wir es rund anderthalb Monate vor Beginn der WM besuchen. Auf den Tribünen bröckelt unter den hellblauen Sitzschalen der Putz. In den Katakomben verlegen Handwerker neue Kabel.
Der Werdegang des Stadions ist bezeichnend für die Entwicklung der ganzen Region: Im Zuge großer Veranstaltungen wurden mehrere Milliarden in neue Infrastruktur investiert, doch ein langfristiges Konzept ist nicht erkennbar.“
„Die Vorbereitungen zur WM laufen auf Hochtouren,“ erklärt Truschkin am Spielfeldrand: „Die Pressetribüne wird noch um eine Etage erweitert, damit ihr Journalisten während der WM genug Platz habt.“ Der spektakulärste Teil des Umbaus wurde bereits vor zwei Jahren durchgeführt: Um die ehemalige Indoor-Arena in ein Fußball-Stadion zu verwandeln, wurde das Dach abmontiert. „Die Stahlkonstruktion war doppelt so schwer wie der Eiffelturm,“ erklärt Oleg Truschkin.
Wie viel der aufwendige Umbau insgesamt gekostet hat, kann der Stadiondirektor indes nicht genau abschätzen: „Im Moment sind wir noch voll mit den Arbeiten beschäftigt. Im kommenden Jahr können wir dann bis auf die Kopeke genau sagen, wie viel das alles gekostet hat.“
Langfristige Entwicklung der Stadt ungewiss
Im Gespräch mit Oleg Truschkin wird klar: Langfristige Planung scheint in seinem Geschäftsmodell keine Priorität zu genießen. Zur Zeit werde der Unterhalt des Stadions vom Sportministerium der Region Krasnodar finanziert, so Truschkin. Weniger gewiss ist dagegen, was nach der WM mit dem Stadion passieren wird. Der Direktor gibt sich trotzdem gelassen: „Wenn es uns gelingt eine großartige WM hier zu veranstalten, dann wird sich früher oder später auch ein privater Investor finden, der ein erstklassiges Fußballteam hier aufbauen will. Wir denken da Schritt für Schritt.“
Vielleicht will der Stadiondirektor sich auch nicht von Journalisten in die Karten schauen lassen. Inzwischen wurde nämlich tatsächlich ein Team mit reichem Besitzer gefunden: Der Zweitligist Dinamo St. Petersburg wird kommende Saison ans Schwarze Meer ziehen, um seine Heimspiele im „Fischt“ auszutragen. Der Klub gehört dem Milliardär Boris Rotenberg, der als Vertrauter von Präsident Wladimir Putin gilt.

Sotschi hat damit wieder eine Profi-Mannschaft. Die Zweitligaspiele werden sich jedoch kaum als großer Zuschauermagnet entpuppen: In St. Petersburg spielte Dinamo bislang in einem Stadion, das weniger als 3.000 Zuschauer fasste. Im „Fischt“ haben mehr als 40.000 Zuschauer Platz. Dem neuen Heimteam wird es kaum gelingen, die Arena am Meeresrand auszulasten.
Der Werdegang des Stadions ist bezeichnend für die Entwicklung der ganzen Region: Im Zuge großer Veranstaltungen wurden mehrere Milliarden in neue Infrastruktur investiert, doch ein langfristiges Konzept ist nicht erkennbar. Eine Studie der Uni Zürich kam 2014 zum Schluss, dass „es keinen kohärenten Plan für die Nachnutzung der Sportstätte und einige große Infrastruktur-Projekte gibt.“
Die Schweizer Forscher berechneten die Gesamtkosten der Winterspiele in Sotschi auf 55 Milliarden US Dollar. Über 95 Prozent davon seien mit öffentlichen Geldern bezahlt worden. Die Olympiade von 2014 wäre damit die teuerste aller Zeiten.
Folgen eines gewaltigen Tourismusbooms
Der Bauboom der letzten Jahre beschränkt sich indes nicht auf die Sportanlagen im Vorort Adler. Entlang der Schnellstraße, die ins Zentrum von Sotschi führt, reihen sich neue Wohnungstürme und moderne Hotelkomplexe von international bekannten Ketten. Allein die amerikanische Radisson-Gruppe hat im Vorfeld der olympischen Spiele fünf neue Hotels in der Region gebaut.
„Unsere Erwartungen für diese neuen Hotels wurden erfüllt,“ erklärt der Russland-Direktor der Kette auf Nachfrage. Neben einem Anstieg im Geschäft mit russischen Touristen, seien in den letzten vier Jahren auch mehr Geschäftsreisende für Tagungen in die Region gereist, so Maciek Miazek. Wie die Übernachtungszahlen sich genau entwickelt haben, teilt Radisson indes nicht mit.
Auch Bürgermeister Anatolij Pachomow spricht von einem bemerkenswerten Aufschwung in der Tourismusbranche. Für den Putin-Allierten zeugt diese Entwicklung von einer einzigartigen Erfolgsgeschichte. „Die olympischen Winterspiele von 2014 haben Sotschi international wettbewerbsfähig gemacht,“ schwärmt Pachomow als er uns mitten im Stadtzentrum zum Interview empfängt: „Seither sind wir kein rein saisonales Urlaubsziel mehr. Wir ziehen jetzt nicht mehr nur im Sommer, sondern auch im Winter viele Gäste an. Wir rechnen im Moment mit rund sechs Millionen Besuchern pro Jahr.“
Anatolij Pachomow wurde 2009 zum Bürgermeister von Sotschi gewählt. Er setzte sich damals gegen den Oppositionspolitiker Boris Nemzow durch, der 2015 in Moskau erschossen wurde. Es gibt wohl kaum ein Thema, über das der Bürgermeister in den letzten Jahren so viel geredet hat, wie über das Erbe der Winterspiele von 2014. Immer wieder wird er von Journalisten aus dem Ausland mit dem Vorwurf konfrontiert, die Spiele seien überteuert, und die Infrastrukturen würden nicht nachhaltig genutzt.
Pachomows Übersetzerin fragt kritisch zurück als wir diese Kritiken aufbringen: „Wurde das in russischen Medien so berichtet?“ Dann übersetzt Sie für ihren Chef, der sich nicht beirren lässt: „Man kann nicht sagen, die Spiele seien zu teuer gewesen, denn jeder Cent den wir investiert haben, hat sich ausgezahlt: Es gibt heute mehr Arbeitsplätze, mehr Einwohner und eine bessere Infrastruktur in Sotschi.“ Überprüfbar sind seine Angaben nicht.
Unser Korrespondent Rick Mertens war zehn Tage lang mit der deutschen Journalisten-Organisation „journalists.network“ in Russland unterwegs. Die Reise wurde von den deutschen Unternehmen Volkswagen, Henkel und Wintershall mitfinanziert.