Schleppender Ticketverkauf, polarisierender Künstler, strenge sanitäre Auflagen: Das Konzert von Serge Tonnar in der Rockhal hat den Test dennoch bestanden. Wegen jedes einzelnen Glücksgefühls im Saal und wegen der Türen der großen Konzerthallen, die nun aufgestoßen sind.
„Heute ist ein wunderbarer Tag.“ Es ist Freitagabend, 18.30 Uhr. Olivier Toth, der Direktor der Rockhal, sitzt auf den Treppen und schaut in eine – von dem RTL-Kamerateam einmal abgesehen – recht leere Eingangshalle. In knapp zwei Stunden wird im Großen Saal der Rockhal erstmals seit Beginn der Pandemie wieder ein Konzert mit rund 600 Besuchern stattfinden. Ein Pilotprojekt, das die Escher Musikhalle gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium geplant hat, um zu testen, welche Konzertformate in naher Zukunft wieder möglich werden könnten.
„Uns geht es darum, den Weg zu ebnen, nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen aus der Musikbranche“, beschreibt Olivier Toth seine Motivation. „Es muss unbedingt wieder Richtung 6.500 stehende Besucher gehen, sonst lohnt sich das hier für uns nicht“, fügt er hinzu und blickt hinunter auf die beiden Konzertsäle, für die er selbst seit über 15 Jahren verantwortlich ist. „Because music matters!“, steht an den Wänden und an den Eingangstüren der Halle, die monatelang leer bleiben musste.
Das Virus lauert vor der Tür
„Mir hunn een.“ Ein Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde zieht die Augenbrauen hoch und überbringt eine Nachricht, die eigentlich nicht verwundert: Es ist Pandemie. Vor dem Konzert werden gerade 600 Leute getestet. Und dennoch: Ein positiver Fall draußen vor der Tür lässt die Vorstellung von vielen eng aneinander gedrängten Menschen innerhalb von Sekunden wie Luftschlösser wieder zusammenbrechen. Auch Olivier Toth wird auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: „Was machen wir jetzt mit dem? Lynchen?“, fragt er mit einem Augenzwinkern, das aber schnell einer ernsthaften Nachdenklichkeit weicht.
„Wir kommen nicht zu großen Konzerten zurück, wenn wir Schritte überspringen. Wir dürfen keine Eile haben“, scheint Olivier Toth vor allem zu sich selbst zu sagen. Dann fährt er sich durch die Haare und setzt wieder sein trotz Maske unübersehbares Siegerlächeln auf. Sein Auftritt im „RTL Journal“ heute Abend wird gleich gefilmt. Ein wunderbarer Tag, erstes großes Konzert seit Monaten, wunderbar…
Kritik am Alleingang der Rockhal
Aus dem Saal hört man ein Schlagzeug, die Tontechniker machen den letzten Check. Schon bald wird es losgehen und die Rockhal als großes, maßgeblich vom Staat finanziertes Musikhaus für Live-Konzerte ihre Rolle als Testort für ein Konzertleben nach Corona erfüllen. In wenigen Wochen hat die Rockhal gemeinsam mit der Gesundheitsbehörde ein sanitäres Konzept ausgearbeitet. Inspiriert von Testkonzerten in Leipzig, Barcelona, Amsterdam oder Liverpool möchte auch Luxemburgs Konzerttempel den Weg zurück zu großen Live-Konzerten mitgestalten.

Doch besonders in der Musikszene selbst gibt es Kritik an der Umsetzung des Testkonzertes: Denn während Solidarität und Austausch unter Musikern, Kulturhäusern und Veranstaltern in der sanitären Krise noch gewachsen und viele neue Kooperationen entstanden sind, arbeitet der „Big player“ der Branche mehr denn je im Alleingang.
Die Konzertserie „Because music matters“, die im Februar mit fünf kleineren, bis zu 100 Zuschauer zählenden Konzerten im Club der Rockhal begann, ist nur eine von vielen, überall im Land entstandenen Initiativen, um Livemusik auch in Pandemiezeiten zu ermöglichen. Dennoch kann die Vermarktung des Abends durchaus den Eindruck erwecken, hier werde gerade die Livemusik neu erfunden. Das mag anderen, die bereits Konzerte planten und sanitäre Konzepte ausarbeiteten, als die Rockhal noch als Behandlungszentrum für Corona-Infizierte umgebaut war, bitter aufstoßen. Kritik hört man von der Veranstalterkonkurrenz aber nur hinter vorgehaltener Hand.
Schleppender Ticketverkauf
Der schleppende Ticketverkauf – etwa 600 von 1.000 Plätzen waren letztlich besetzt – lässt sich auch nicht alleine mit einer recht kurzfristigen Planung erklären. Warum der Ansturm ausblieb und das erste Konzert mit über 150 Zuschauern seit Beginn der Pandemie nicht sofort ausverkauft war, hat viele Gründe.
Einigen Fans waren die sanitären Maßnahmen womöglich zu lästig. Anderen ist es schlicht noch zu früh für eine Großveranstaltung, da die Angst vor einer Infektion weiterhin zu tief sitzt. Besonders, weil die Band eher ein Ü40-Publikum anspricht und es große Teile der angstfreieren und sich nach Feiern sehnenden Jugend an diesem Abend ohnehin nicht in die Rockhal zog. Erste Großveranstaltung hin oder her. Serge Tonnar mit Band ist für viele Schüler und Studenten nun einmal die Musik ihrer Eltern.

Ein weiterer Grund für die 400 freien Plätze ist sicherlich, dass Serge Tonnar Anfang Juni bereits zwei weitere Konzerte in der Philharmonie gibt, und einige seiner Fans, die bei einem Exklusivkonzert sicher gekommen wären, das lange Wochenende nun anders zu nutzen wussten. Und nicht zuletzt gibt es ohnehin nicht viele Luxemburger Künstler, die es schaffen, einen Saal mit 1.000 Zuschauern zu füllen.
Für Olivier Toth jedenfalls ist Serge Tonnar die richtige Wahl. Auch wenn er zugibt, dass andere von ihm gefragte Bands das Angebot ablehnten. Natürlich habe er von mehr geträumt, aber 600 verkaufte Tickets seien „schon okay“.
„Moien, de Serge hei“
Der Gong ertönt, die Türen stehen offen. Eine scheppernde Lautsprecherstimme gibt Anweisungen über Sitzplatzanordnungen und Verhaltensregeln. Die Platzanweiser haben ihren im Februar noch dominierenden „militärischen Stil“ gegen ein freundliches Willkommenslächeln eingetauscht. Die Stimmung ist entspannt, das Publikum nimmt langsam Platz.

„Moien, de Serge hei“, erklingt die Stimme des Musikers aus dem Off, das Publikum verfällt in aufforderndes Klatschen. Nach der freudigen Botschaft, er habe die Verhandlungen gewonnen, das Publikum dürfe am heutigen Abend auch aufstehen und sogar ein wenig tanzen, beginnt Serge Tonnar dann seinen Auftritt. Die Tanzbereitschaft des Publikums entwickelt sich zusehends zum Seismographen der Stimmung des Abends.
„Loost déi jonk Léit liewen, an déi al Leit stierwen.“ Die erste Zeile seiner Bearbeitung des Liedes „Léiwer Herrgottsblieschen“ ist eines der Lieder des Künstlers, die während der Pandemie entstanden sind. Ebenso, wie die wenig später erklingenden Pandemiesongs „Faertaasch“ und „Muer ass ofgesot“, gibt es dem Künstler Raum, seinem Frust, aber auch seinen Weltverbesserungsvorschlägen freien Lauf zu lassen.
Grenzwertiger Pandemiediskurs
Doch Tonnars gesungene Uneinigkeit mit dem „Mainstream“ lässt auch immer wieder aufhorchen. Seine als pure Nostalgie verkleidete – und ganz nebenbei: reichlich verspätete – Lockdown-Kritik bewegt sich stets an der Grenze zwischen augenzwinkerndem Dissidenten- und geschwurbeltem Querdenkertum.
Seine aktuellen Songs enthalten einerseits offensichtlich scherzhafte Reime wie „Halt se fir Iech, d’Mesuren an och d’Zuelen, komm mir ginn een huelen“. Doch Tonnar singt eben auch pauschale, unmissverständliche Sätze wie „D’Netz ass voll Verschwörungstheorien, an d’Press mécht Reklamm fir d’Pharmaindustrie“, die nicht nur von Fans seiner Musik, sondern auch von latenten Corona-Leugnern geschätzt werden dürften.
Ovationen für „d’Sam an d’Paulette“
Seinem Publikum scheint er mit „Fäertaasch“ und „Muer ass ofgesot“ aber aus der Seele zu sprechen. Die große Mehrheit hält es nicht mehr auf den Stühlen. Es ist, als würde ein großer gemeinsamer Pandemiefrustseufzer den Raum erfüllen.
Standing Ovations gibt es bereits wenige Lieder später. Doch nicht für Serge Tonnar, sondern für „d’Sam an d’Paulette“, wie der Sänger die im Saal anwesenden Kultur- und Gesundheitsministerinnen begrüßt. Serge Tonnar nutzt den Moment, um mit seiner ambivalenten Stellung zwischen Möchtegern-Systemsprenger und dem ihm nacheilenden Ruf als Staatskünstler zu spielen. Seine Fans jedenfalls scheinen ihn für diese Wandelbarkeit zu lieben, sie danken ihm seinen Diskurs über die „zwee Meedercher“ mit tosendem Applaus.

Die aufgeladene Stimmung nutzt Serge Tonnar dann, um mit seinem „Vollekslidd“ das Publikum mit existentiellen Fragen zu konfrontieren. Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Die nachdenkliche Stimmung scheint die Zuschauer anzustecken, die Lichtshow tut ihr übriges. Und selbst für Anwesende, die keine bekennenden Tonnar-Fans sind, kommt etwas Nostalgie auf. Eine in bunte Strahler gehüllte Bühne ruft Erinnerungen hervor, an erlebte Konzerte, an gemeinsame Momente und große Gefühle, in der Rockhal oder auch anderswo.
Ein Lied als Hommage an alle Omis, ein anderes gegen Faschismus und für mehr Freiheit: Das Konzert von Serge Tonnar wirkt immer wieder wie ein kollektiver Befreiungsschlag aus einer immer noch omnipräsenten Pandemiemüdigkeit. Wie ein eineinhalbstündiges Herausfallen aus der Zeit.
Ein Abend mit klarer Botschaft
Als letzte Zugabe des Abends erklingt dann, gegen 22.00 Uhr, der Superhit „Belsch Plaasch“. Ein Song, der sich aufgrund der teils geschlossenen europäischen Grenzen, unfreiwillig „vom Quatschlied zum Protestsong“ entwickelt habe, wie Serge Tonnar seinen Fans erklärt.
Doch stärker als ihre Empörung über Reiseeinschränkungen und Freiheitsberaubungen, konnten Serge Tonnar, Eric Falchero, Ben Claus, Marc Demuth und Dirk Kellen ihren Fans an diesem Abend ein Gefühl von Unabhängigkeit und Unbeschwertheit mit auf den Weg geben. Trotz aller Zwischentöne war die Botschaft des Abends klar: Die Türen sind offen, Morgen wird kommen.