Das sogenannte Schulterblatt war das Epizentrum des Protestes gegen den G20-Gipfels. Im Sommer 2017 herrschte hier Chaos und Zerstörung. Heute sprießen Coffee-Shops und hippe Läden aus dem Boden. Eine Reportage aus dem Hamburger Schanzenviertel.
Es riecht nach Zimt und frischem Kaffee. Die Espressomaschine pfeift und rattert. Die Barista krempelt die Ärmel ihres schwarzen Pullis hoch. Flink räumt die junge Frau die braunen Cappuccinotassen in den kleinen Holzschrank über der schweren, schwarzen Kaffeemaschine. „Der Espresso ist fertig“. Sie stellt einen kleinen Keramikbecher klirrend auf die Untertasse. Sie wendet sich der nächsten Kundin zu, die vor ihr am Tresen steht. „Was solls denn sein?“ Die junge Frau, weiße Kopfhörer im Ohr, ein silbernes Macbook unterm Arm, blickt kurz von ihrem Smartphone auf: „Cappuccino, wie immer.“
Vor dem „Schmidtchen“ in der Hamburger Schanze rauschen Autos mit quietschenden Reifen über die Straße. Es ist zehn Uhr morgens, es herrscht dichter Verkehr. Ein Autofahrer hupt, der LKW vor ihm hat Probleme beim Einparken. Mehrmals setzt der Fahrer des knallorangen Lastwagens neu an. Die Ladeklappe schlägt am Bürgersteig an und scheppert. Auf der Rückseite des LKWs prangt in großen, weißen Lettern: „Voll abgefahren“.
Zurück zur Normalität
2017 war die Schanze das Epizentrum der G20-Randalen. Autos und Barrikaden brannten, Demonstranten plünderten Geschäfte. Die Polizei rückte mit Panzerfahrzeugen und Maschinengewehren an. Heute teilen sich Obdachlose und hippe Studenten den Bürgersteig. Zwischen heruntergekommenen, mit Graffitis überzogenen Gebäuden mit rissigen Fassaden, drängen sich moderne Läden. Aus einem Deko-Laden tönt laute Hip-Hop-Musik. Im Schaufenster eines Bücherladens liegen die Werke feministischer Autorinnen aus: Judith Butlers „Wenn die Geste zum Ereignis wird“, Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht.“
Gegenüber vom Schmidtchen befindet sich ein Blumenladen. Vor der Tür türmen sich mehrere Holzkisten voll mit Tulpen, Blausternchen und hellblauen Vergissmeinnicht. Direkt daneben ragt das linksalternative Kulturzentrum Rote Flora empor. Hoch über dem Balkon des Renaissancebaus, ein großes, weißes Banner: „Free all Prisoners“. Gleich daneben ein anderes: „Defend Hambacher Forst“. Die Backsteinmauer des ehemaligen Theatergebäudes ist unter dem vielen Graffitis kaum noch zu erkennen. Riesige, pinke Lettern an der Vorderseite des Gebäudes formen das Wort „Frost“.
„Gibste Geld, haste Herz“
Auf den Treppen der Roten Flora hat sich ein Obdachloser ein notdürftiges Bett aus roten Obstkisten gebaut. Der hagere, junge Mann sitzt auf einem riesigen, orangenen Perserteppich mit braunem Blumenmuster. Er hat seine blaue Mütze tief in sein Gesicht gezogen. In seiner Hand hält er einen Flachmann, mit der anderen kratzt er sich gemächlich den Bauch. Er nimmt einen Schluck aus der kleinen Flasche, zieht die Schultern hoch und schüttelt den Kopf. Gegenüber macht ein Schuljunge, den Rucksack über die Schulter geschlungen, mit seinem Handy ein Foto vom heruntergekommenen Gebäude. Er entdeckt den Obdachlosen, packt das Smartphone in seine Jackentasche und hastet weiter.
„Hallo“, „Hallo“, Hallo“. Ein älterer Mann mit dunklem Teint humpelt vor der Roten Flora im Kreis. Er spricht Passanten an und schüttelt den durchsichtigen Plastikbecher in seiner Hand. Die Münzen darin klappern und klirren in regelmäßigen Abständen, fast wie im Rhythmus eines Liedes, das nur der Bettler kennt. Auf einem braunen Kartonschild, das er sich mit einem dicken Seil um den Hals gebunden hat, steht: „Gibste Geld, haste Herz“. Im Nieselregen hat sich sein Schild wellig verformt, die Tinte verläuft zu schwarzen Linien.
Keiner der Passanten würdigt ihn eines Blickes. Eine junge Frau huscht schnell vorbei, ihr kleines Kind hat sie vor sich an den Bauch gebunden. Eine rote Mütze ragt aus ihrem Mantel. Ihr kleiner Junge fixiert den Bettler mit seinen großen, blauen Augen, lässt ihn nicht aus dem Blick. „Hallo“, „Hallo“, krächzt der Bettler. Er dreht dem Jungen den Rücken zu und humpelt zum nächsten Passanten.

Es fängt an zu nieseln. Nicht genug, um den Regenschirm auszupacken, doch es reicht, um die Haare zum Kräuseln zu bringen. Eine junge Frau bleibt stehen. Unter dem Arm hält sie einen Blumenstrauß. Von den pinken und weißen Tulpen kullern kleine Regentropfen. Die Frau zieht ihre schwarze Kapuze über den Kopf, wühlt in ihrer Tasche und holt ein paar Münzen hervor. Es klirrt. Der Bettler bedankt sich mit einem Kopfnicken. Die junge Frau geht weiter, begibt sich bestimmten Schrittes zum Schmidtchen.
Im Café ist es warm, die Barista hat ihren Pullover ausgezogen. Auf ihrem Unterarm räkelt sich eine nackte Frau mit dicken Brüsten und langer Schwanzflosse. Das dunkelgrüne Tattoo erinnert an die Rhein-Jungfer Lorelei. „Latte mit Hafermilch gell?“ Die Barista holt eine Tasse aus dem Schrank, spült ihren silbernen Milchkrug kurz unter dem Wasserhahn aus. Sie schaltet den Dampfstrahler ein, lautes Rauschen hallt durch das Café, übertönt die leise Soulmusik, die aus einem Lautsprecher in der Ecke klingt.
Lautes Klirren, der Cappuccino ist fertig. „Zahlen kannst du später“, ruft die Barista ihrer Kundin zu. Die hat auf dem Holztisch in der Ecke ihr Laptop aufgeklappt. Auf einem ausgefransten Aufkleber auf dem Rücken ihres Computers steht: „Kein Mensch ist illegal“.