Was möchte ich wirklich? Viele Menschen kommen im Laufe der Jahre an einen Punkt, an dem sie ihr Leben grundlegend in Frage stellen. Manche machen daraufhin weiter wie bisher, andere verschieben ihre Prioritäten. Doch nur die wenigsten wagen einen Neuanfang, so wie Claire Royer.
Wenn man Claire Royer zuhört, könnte man meinen, sie sei einmal Astronautin gewesen. Wie abgehoben, wie losgelöst lebte sie. In Sphären, die an die Ästhetik und Dramaturgie von Weltraumserien erinnern. In einer künstlichen, vornehmlich digitalen Welt, in der die Entfernung zum Boden immer größer wurde. Und während sich ihr Bankkonto zwar beständig füllte, wurde die Luft zum Atmen immer dünner.
Dieses Leben ist für Claire Royer seit zwei Jahren vorbei. Nun ist sie wieder gelandet. Mit beiden Füßen auf dem Boden. Und mit den Händen in der Erde. Nach knapp 15 Jahren im gehobenen Finanzmanagement arbeitet Claire Royer heute als Töpferin. Seit 2019 hat sie ein eigenes Keramikatelier in der Stadt Luxemburg. Sie verdient einen Bruchteil von dem, was sie früher verdient hat. Und sie strahlt vor Glück.
Alles erreicht, aber etwas fehlte
Claire Royer serviert Kaffee, nimmt sich Zeit für das Gespräch, streichelt mit ihren Fingerkuppen immer wieder über die Oberfläche der Tassen. Erdfarben mit etwas rosa. „Wir sind eben doch Mädchen“, sagt sie und lächelt. Im Hintergrund läuft angenehme Loungemusik, in den Regalen stehen ausgewählte Stücke ihrer eigenen Kollektion. Tassen, Teller, Becher und Schalen: Ein harmonisches Ensemble, in dem jedes Stück dennoch einzigartig ist.
Ich hatte alles erreicht. Mann, zwei Kinder, schickes Haus am Stadtrand, viel Geld, komplette finanzielle Unabhängigkeit. Doch ich war nicht glücklich.“Claire Royer
Neben dem Verkauf ihrer Produkte bietet Claire Royer Töpferkurse für Erwachsene und Kinder an. Ein zweites Standbein sei wichtig, sagt sie, besonders am Anfang, wenn man sich eine neue Existenz aufbauen möchte und noch nicht sicher wisse, ob die Geschäftsidee auch aufgehen wird.
Sein Hobby zum Beruf zu machen, in eine neue Karriere zu investieren und ein finanzielles Risiko einzugehen, muss man sich leisten können. Und dennoch: Der Schritt, gewohnte Wege zu verlassen und seinen hohen Lebensstandard aufzugeben, um etwas Neues zu wagen, erfordert Mut.
„Ich war kurz vor meinem 40. Geburtstag. Ich hatte alles erreicht. Mann, zwei Kinder, schickes Haus am Stadtrand, viel Geld, komplette finanzielle Unabhängigkeit“, erzählt Claire Royer. „Doch ich war nicht glücklich.“ Soll das jetzt noch dreißig Jahre so weitergehen?, habe sie sich gefragt. Was soll das? Was mache ich hier? Worin liegt mein Mehrwert für die Gesellschaft? War es das jetzt?
Lebenskrisen und Neuanfänge
Viele Menschen kommen irgendwann in ihrem Leben an diesen heiklen Punkt, an dem sie sich selbst grundlegend in Frage stellen. Über Jahre für gültig gehaltene Werte und Überzeugungen geraten ins Wanken. Die Pfeiler, auf denen ihr bisheriges Leben stand, geben plötzlich keine Sicherheit mehr, sondern fühlen sich einengend, aufgezwungen oder schlicht falsch an.
Ob der Auslöser hierfür ein Ereignis von außen oder eine wachsende, oft nicht klar zu benennende Unzufriedenheit ist: In der Konsequenz kommt es zum Befreiungsschlag. Der Neuanfang oder zumindest die Neuordnung des eigenen Lebens.
Zu Valérie de Saintignon kommen viele Menschen, die sich in einer solchen Lebenskrise befinden. Die an ihrem Leben etwas ändern möchten, oft jedoch nicht wissen, was und vor allem nicht wie. „Viele kommen mit dem Entschluss zu mir, alles hinschmeißen zu wollen, auszusteigen und neu anzufangen“, sagt die Coach im Gespräch mit Reporter.lu. Bei den meisten Menschen sei diese Radikalität jedoch eher eine Flucht als echter Wille zum Bruch.
Meistens genüge die Hilfestellung, um ein paar Prioritäten zu verändern, sein Privat- und sein Berufsleben besser aufeinander abzustimmen, sich neue Ziele zu setzen und an der so genannten „Life-Balance“ zu arbeiten, erklärt Valérie de Saintignon.
Auf dem Weg zur „Life-Balance“
Viele Manager und Coaches sprechen mittlerweile nicht mehr von der „Work-Life Balance“, sondern verwenden lieber den Begriff „Life-Balance“. Dieser soll zeigen, dass Arbeit als Teil des Lebens verstanden wird und stärker mit persönlichen Interessen zu vereinbaren ist.
Claire Royer ging jedoch nicht zu einem Coach, sondern übte die Meditation. Anfänglich, um Stress zu reduzieren. „Ich war immer auf der Überholspur“, erinnert sie sich, „völlig gestresst, Druck war mein Dauerzustand“. In der Vermögensberatung musste immer alles sofort geschehen. Eine Aktion forderte eine prompte Reaktion. Die Anspannung fiel niemals ab, Claire Royer hat sie jahrelang mit nach Hause, sogar mit ins Bett genommen.

Auch die Angst vor einem folgenreichen Fehler war ihr ständiger Begleiter. Schließlich könnte er sofortige Auswirkungen in Millionenhöhe haben. Es ging ständig darum, Transaktionen schnell abzuschließen, den Gewinn zu optimieren, um ihre in der Regel sehr reichen Kunden noch etwas reicher zu machen.
Aus dem aufregenden Geschäft in den Anfangsjahren wurde bald Routine, und letztlich ein ermüdender, zermürbender Kampf. „Ich war immer gleichzeitig erschöpft, ausgelaugt und nervös“, erzählt Claire Royer. „Mir fehlte es immer mehr, nach getaner Arbeit auch ein Produkt in den Händen zu halten, das Ergebnis meines Tuns anfassen zu können“, erinnert sich die ehemalige Vermögensberaterin und blickt auf ihre Teller und Tassen. Die Genugtuung und die wiedergewonnene innere Ruhe sind ihr anzumerken.
Ein längst verdrängter Kindertraum
In einer der Meditationssitzungen fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Es reicht. Ich höre auf. Ich will nicht mehr. Als sie da saß, mit geschlossenen Augen, erinnerte sie sich daran, wie sie als kleines Mädchen aus der nassen Erde im Schulhof kleine Figuren formte und sie anschließend vorsichtig mit einem Föhn trocknete. Wie sie es liebte, die feuchte Erde durch ihre Hände gleiten zu lassen. Du hast Talent, habe die Lehrerin damals zu ihr gesagt. Den Satz hatte sie über die Jahrzehnte völlig vergessen.
Die Dinge gelingen wie von alleine, wenn du dich auf dem richtigen Weg befindest.“Claire Royer
Doch da war er nun wieder. Und mit dem Satz ein längst verdrängter Kindertraum. Claire Royer war immer gut in der Schule. Natürlich ging sie nach dem Abitur auf die Uni. Die Frage stellte sich überhaupt nicht. Sie studierte Unternehmensrecht: Etwas Solides, etwas, mit Zukunft, etwas, womit sich mit viel Willen und ein bisschen Glück gutes Geld verdienen ließe. Sie spezialisierte sich in der Vermögensverwaltung. In ihrer Freizeit töpferte sie noch hin und wieder. Als Ausgleich zur vielen Theorie sozusagen.
Dann, 2005, der Schritt aus Frankreich nach Luxemburg. Sie hatte mehr Einladungen zu Bewerbungsgesprächen, als sie annehmen konnte. Der Finanzplatz präsentierte sich ihr wie ein buntes Arsenal voller Möglichkeiten. Die Karriereleiter ging steil nach oben, Claire Royer übersprang einige Stufen und war mit knapp 40 Jahren im vermeintlichen Himmel des Ruhms und des Reichtums angekommen.
Ein neuer Weg und eine große Chance
Doch es fühlte sich so gar nicht an, als sei sie irgendwo angekommen. Ganz im Gegenteil. „Ich fand meinen Platz nicht, baute mir immer noch mehr Druck auf“, erinnert sie sich. „Aber ich musste es mir und vor allem meinen Eltern beweisen, dass ich erfolgreich sein kann.“
Sie musste jedoch 40 werden, um sich von den Erwartungen ihrer Eltern zu lösen, um ihre Erziehung und ihre Sozialisierung zumindest ein Stück weit hinter sich zu lassen und sich selbst zu finden. Der Mann ist zwar mittlerweile nicht mehr ihr Mann und in dem Haus am Stadtrand wohnt nun eine andere Familie. Doch frei zu sein und auch einmal Nein zu sagen, ist für sie heute das größte Glück. „Die Dinge gelingen wie von alleine, wenn du dich auf dem richtigen Weg befindest“, sagt Claire Royer voller Überzeugung, die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben.

Dass Keramikateliers seit einigen Jahren in vielen europäischen Metropolen wie „Pilze aus dem Boden sprießen“, wie sie sagt, findet Claire Royer nicht verwunderlich. Das gehe einher mit einem neuen Konsumverhalten, das sie beobachtet. Die Hinwendung zum Lokalen, Natürlichen, Ursprünglichen. „Luxemburg hinkt dem Boom noch etwas hinterher“, sagt sie und lächelt, „Das ist meine große Chance.“
Ihre Kurse sind weit im Voraus ausgebucht. Viele Menschen aus dem Management, vornehmlich Juristen oder Finanzexperten kommen zu Claire Royer. Sie wollen abschalten und im Kontakt mit der Erde die in ihrer Welt abhanden gekommene Bodenhaftung wiedergewinnen. Sie entdecken ihre Kreativität, können sich einer vollkommen friedlichen Beschäftigung hingeben, meint die Unternehmerin. „Manche fangen an zu weinen“, erzählt sie. „Und allen geht es nach dem Kurs besser als vorher.“
Die perfekte Mitte
Wenn Claire Royer über die Töpferei spricht, wird klar, dass es ihr um mehr als das bloße Handwerk geht. Sich für die Töpferei entschieden zu haben, war eine bewusste Vollbremsung. Eine Entscheidung für ein Leben im Einklang mit der Natur und mit sich selbst. „Immer von den vier Elementen Erde, Luft, Wasser und Feuer umgeben zu sein, ist sehr bereichernd“, sagt sie. „Du fühlst dich als Teil von etwas Großem.“
Jemals etwas anderes zu machen, gar zurück in die Finanzbranche zu gehen, kann sich Claire Royer nicht vorstellen. Doch sie ist vorsichtig mit absoluten Aussagen. Das Leben bestehe schließlich aus Zyklen, wie auch die Coach Valérie de Saintignon unterstreicht. Alle zehn Jahre etwa beginne ein neuer Zyklus. Alle zehn Jahre etwa stelle der Mensch demnach sich und sein Leben in Frage. Mit mal mehr, mal weniger einschneidenden Konsequenzen.
Nun piept jedoch erst einmal der Ofen. Ein paar Teller und Tassen sind fertig gebrannt. Claire Royer steht auf. Neugierig, das Ergebnis ihrer Arbeit zu sehen. Vor allem aber ist sie gespannt auf die Spuren, die die Natur hinterlassen hat. Denn sie sind es, die jede Tasse einzigartig machen.