Die wenigsten Fachärzte sind nachts während ihres Notdienstes im Krankenhaus. Sie eilen auf Abruf von Zuhause herbei. Dadurch kann sich die akute Behandlung durchaus schwieriger gestalten. Manche Experten sehen darin jedoch nicht das dringlichste Problem.
Per Gesetz und laut Vorschrift der Krankenhäuser müssen in den meisten Krankenhäusern nachts lediglich ein Internist, zwei Wiederbelebungsärzte oder Anästhesisten und zwei Notärzte ihren Dienst vor Ort gewährleisten. Auf den Entbindungsstationen des CHL und der Bohler-Klinik in Kirchberg müssen seit 2018 zu jeder Zeit ein Gynäkologe, ein Kinderarzt und ein Anästhesist vor Ort sein. Bei der Ausarbeitung des Krankenhausgesetzes von 2018 entschied sich die ehemalige Ministerin Lydia Mutsch (LSAP) gegen eine Anwesenheitspflicht für andere Spezialisten, die größtenteils als liberale Ärzte arbeiten.
Auch heute befinden sich nachts die wenigsten Fachärzte beim Eintreffen des Patienten bereits im Krankenhaus. Doch gibt es Krankheitsbilder, bei denen ein schnelles Eingreifen die Lebenserwartung oder spätere Lebensqualität des Patienten nachweislich verbessern kann. So beispielsweise beim Schaganfall, dem Herzinfarkt oder bei Aneurysmen.
Wenn buchstäblich jede Minute zählt
Ein Beispiel ist der Schlaganfall. „Die Notärzte der Notaufnahme sind vor Ort. Die Ärzte, die die Expertise für Schlaganfallpatienten haben, sind es nicht immer“, beklagt Dr. Monique Reiff, Neurologin im „Centre hospitalier de Luxembourg“ (CHL). Der Bereitschaftsdienst der Ärzte wird bekanntlich nicht bezahlt.
Die vielversprechendste Behandlungsmethode kann allerdings nur innerhalb der ersten viereinhalb Stunden durchgeführt werden – je früher, desto besser. Studien belegen, dass eine Thrombolyse die Wahrscheinlichkeit nahezu verdoppelt, nach dem Schlaganfall ohne einschneidende Behinderung weiterzuleben.
Doch fällt es dem Betroffenen und seinem Umfeld oft schwer, den Schlaganfallverdacht zu identifizieren. Viele begeben sich daher erst ein paar Stunden später ins Krankenhaus. Das schränkt den Handlungsspielraum bedeutend ein. Dass zu diesem Zeitpunkt dann auch nicht immer ein Neurologe vor Ort ist, findet Monique Reiff problematisch.
Wenn ein Neurologe von zu Hause oder aus der Praxis herbeieilen muss, kann dies zu Verzögerungen in der Behandlung führen.“Dr. Monique Reiff, Neurologin
Für die Medizinerin ist klar: „Ein Hirnschlag ist nicht immer einfach zu erkennen und erfordert oft große klinische Erfahrung, sodass es von Vorteil ist, wenn ein Neurologe direkt vor Ort ist und über eine adäquate Diagnostik und Therapie entscheiden kann. Wenn ein Neurologe von zu Hause oder aus der Praxis herbeieilen muss, kann dies zu Verzögerungen in der Behandlung führen.“
Wenn kein Neurologe rund um die Uhr verfügbar ist, stellt dies auch die „Stroke Unit“, die Spezialeinheit zur Behandlung von Schlaganfällen, vor eine Herausforderung. Zwar werden die dortigen Patienten rund um die Uhr vom Pflegepersonal überwacht. Um ein zeitnahes Eingreifen bei Komplikationen oder einem weiteren Schlaganfall zu ermöglichen, wäre allerdings eine 24-Stunden-Anwesenheit eines Neurologen notwendig. Dies ist übrigens in den europäischen Standards der „European Stroke Organization“ vorgesehen.
Die Aktivierung des Ring-Rufes
Bei der Frage, welche Fachmediziner während des gesamten Notdienstes im Krankenhaus einsatzbereit sein müssen, scheiden sich die Geister. So erklärt Dr Emile Bock, Koordinator der Notaufnahme der „Hôpitaux Robert Schman“ (HRS) in Kirchberg: „Bei einem Schlaganfallverdacht werden der Notarzt, der Neurologe und der Radiologe per Ring-Ruf informiert.“ Bevor die vielversprechende Thrombolyse eingeleitet werden kann, müsse ohnehin ein Scanner durchgeführt werden, um mögliche Hirnblutungen auszuschließen. In geschätzten 99 Prozent der Fälle lasse dies dem Neurologen ausreichend Zeit, sich ins Krankenhaus zu begeben und die Thrombolyse selbst in die Wege zu leiten, sofern keine Kontraindikationen zu dieser Behandlungsmethode vorliegen, sagt der Arzt.
Die Frage, ob der Arzt vor Ort ist oder nicht, ist nicht die Hauptfrage. Das wichtigste ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Teams.Dr. Alexandre Bisdorff, Neurologe im „Centre hospitalier Emile Mayrisch“
„Wir müssen innerhalb von 30 Minuten im Krankenhaus sein“, sagt seinerseits Dr. Alexandre Bisdorff, der als Neurologe im „Centre hospitalier Emile Mayrisch“ (CHEM) arbeitet. Dieses Zeitfenster ist per Gesetz im „Plan hospitalier“ von 2018 für jede „Stroke Unit“ vorgesehen.
Doch manchmal geht vor der Behandlung wertvolle Zeit verloren. Dann zum Beispiel, wenn ein Patient per Ambulanz eingeliefert wird und der Neurologe nicht wie eigentlich vorgeschrieben bereits vor dem Eintreffen des Patienten über den Schlaganfallverdacht informiert wurde. Alexandre Bisdorff bestätigt, dass es immer wieder zu solchen Fällen kommt.
Fachärzte nur ein Glied in der Kette
Zeitaufwendiger als das Herbeieilen des Arztes und von lebenswichtiger Bedeutung sei allerdings die Herangehensweise der Notrufzentrale 112 und der Rettungsdienste. „Die Frage, ob der Arzt vor Ort ist oder nicht, ist nicht die Hauptfrage. Das wichtigste ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Teams. Es ist wie eine Kette, in der jedes einzelne Glied passen muss. Wenn alle anderen Glieder der Kette gut funktionieren, wäre der potenzielle Gewinn einer solchen Maßnahme marginal“, sagt Alexandre Bisdorff. Ist dies nicht der Fall, dann nütze es auch nichts, wenn der Arzt vor Ort sei.
Die Rolle der Rettungsdienste
Die Rettungsdienste würden es zum Teil vernachlässigen, beim Abholen des Patienten vitale Informationen zur Anamnese bei Freunden oder Familie vor Ort zu sammeln, bemängelt Alexandre Bisdorff. Wichtig sind Informationen zum Zeitpunkt des Auftreten der Symptome, die Art der Symptome, ob der Patient Blutverdünner einnimmt, ob er gestürzt ist, ob in den letzten Wochen operiert wurde. Fehlen diese, kann die Behandlung nicht beginnen, da bestimmte Details der Krankheitsgeschichte als Kontraindikation zur Thrombolyse gelten, um letale Folgen zu vermeiden. Das Schlaganfallteam verliert dann wertvolle Zeit, um diese Informationen herbei zu telefonieren, wissend dass bei jeder Verzögerung der Therapieeinleitung Tausende von Neuronen absterben.
In typischen Fällen, z.B. bei einer Halbseitenlähmung, könne die klinische Diagnose des Patienten durch den Notarzt erstellt werden, sagt Dr Bisdorff, und die Thrombolyse vom Notarzt auf telefonische Absprache mit dem Neurologen in die Wege geleitet werden. Das bestätigt auch Emile Bock. „Es gibt keinen Patienten, der nicht sofort eine Thrombolyse bekommt, wenn diese angezeigt ist“, versichert Bock.
Eine jüngst in der Fachzeitschrift „Annals of Emergency Medicine“ veröffentlichte Studie ergab, dass eine effiziente Vorgehensweise der Notärzte auch ohne Anwesenheit eines Neurologen den Beginn einer Thrombolyse um rund 30 Minuten beschleunigen könnte.
Dennoch gibt es auch Fälle, bei denen die Erkennung eines Schlaganfalls eine echte Herausforderung ist, warnt Alexandre Bisdorff. Dann etwa, wenn der Patient keine Lähmung hat, sondern über Seh- oder Sprechstörungen oder Schwindel klage. „Dann ist neurologisches Fachwissen unabdingbar“, sagt er. Dann sollte der Neurologe also besser vor Ort sein.
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