Esch wird vieles nachgesagt, aber nicht immer nur Positives. Eine kleine sozialökologische Bewegung soll der Stadt nun dabei helfen, ihr Schmuddel-Image los zu werden – und ganz nebenbei ihr Hipster-Potenzial auszubauen. Über einen Wandel in kleinen Schritten.
Völlig nackt hängt sie an der Fassade – und ist dabei nicht alleine. Umgeben ist die Barbie-Puppe von weiterem alten Plastikspielzeug. Daneben ein Mosaik aus Scherben, das in der Sonne schimmert und unzählige zusammengepresste Cola- und Bierdosen.
Müll ziert die Fassade des BENU-Kleidershops in Esch-Alzette. Bei dieser Architektur gibt es kaum gerade Linien und kaum klare Regeln. Bis auf eine: Die Fassade durfte ausschließlich mit Abfallprodukten geschmückt werden. Herausgekommen ist dabei ein Stil der an Hundertwasser erinnert. Abfall einmal anders.
Der Kleiderladen auf der Place de la Frontière in Esch wirkt eher wie ein Eindringling als wie ein akzeptierter Nachbar. Zusammengebaut wurde der Laden aus alten Containern, isoliert mit natürlichen, wieder verwendbaren Materialien und geschmückt mit Abfall. Der farbliche Kontrast zur Nachbarschaft könnte kaum größer sein. Ein grau asphaltierter Parkplatz, dahinter graue Zuggleise, davor von Zeit und Abgasen in Grau getauchte Hausfassaden.
Die Leichtigkeit des Neu-Seins
BENU wurde im Dezember 2018 von der gleichnamigen Vereinigung ins Leben gerufen und ist ein Ort für Upcycling und Zero-Waste-Produkte. Die Idee dahinter: Abfall- oder alte Produkte sollen wiederverwendet und so zu neuwertigen Produkten umgewandelt werden. Bei BENU – ausgesprochen wie „Be New“ ist der Name denn auch Programm.
Doch der Shop ist erst der Anfang. Im Sommer dieses Jahres soll ein BENU-Ökodorf mit Restaurant und Kunstatelier folgen. Das rund 15 Ar große Grundstück stellte die Gemeinde zur Verfügung – zu einem Jahresbeitrag von lediglich 1.000 Euro.
Nach der Stahlindustrie ist man hier immer noch auf der Suche nach einer neuen Identität.“Gerald Aiken, Soziologe
Ähnlich bunt wie die Fassade ist auch das Innere des Shops. Wie in einer Villa Kunterbunt wirkt alles charmant bis improvisiert. Das Holz an den Containerwänden verleiht dem Raum Gemütlichkeit, das Licht die nötige Wärme. Überall liegt und hängt Kleidung. Als Regal dienen alte Holzkisten, als Kleiderstangen robuste Äste oder alte Eisenstangen.
Über der Verkaufsfläche befindet sich im ersten Stock das hauseigene Näh-Atelier. 15 Festangestellte sind hier tätig – die meisten sind Frauen, die wenigsten allerdings in Vollzeit angestellt. Sie verleihen alten Stoffen und Kleidungsstücken ein zweites Leben. Nachhaltigkeit soll hier ein Kaufgrund sein. Denn alles, was hier zu Hosen, Röcken, Hemden oder Lätzchen verarbeitet wird, wurde schon einmal getragen.
Mehr als nur Imagepflege
„Zunächst dachte ich mir, Luxemburg sei zu steif für die Idee eines Ökodorfes“, sagt Georges Kieffer. Er ist einer der Köpfe der Upcycling-Initiative. Bei mehreren Gemeinden hatte er seine Vision vorgestellt – sowohl in Luxemburg als auch im Ausland. Weit musste er am Ende aber nicht gehen. Esch hat der Idee zugestimmt.
Dabei sind Nachhaltigkeit oder Kreislaufwirtschaft nicht gerade die Begriffe, die man spontan mit der gealterten Industrie-Stadt in Verbindung bringt. Sind es doch eher Negativschlagzeilen mit denen sie regelmäßig von sich reden macht – von fehlender Attraktivität über Kleinkriminalität und Drogenproblemen bis hin zu einer schwindenden Geschäftswelt.
Neue Projekte, wie eine Markthalle, die vor ein paar Jahren eröffnete und kurze Zeit später wieder schloss, scheinen zwar immer gut gemeint. Doch sie wurden nicht immer gut umgesetzt. Esch ist ein hartes Pflaster für so manches Business.
Konsum mit etwas Moral
Zumindest traditionelle Geschäftsideen scheinen es in der Stadt schwer zu haben. In der Einkaufsstraße „Uelzechtstrooss“ reihen sich gefühlt genauso viele leerstehende Geschäfte aneinander wie noch funktionierende. Vielleicht haben alternative Geschäftsideen mehr Glück – oder eine treuere Kundschaft.
Denn BENU ist längst nicht die einzige ökologische Initiative, die sich in Esch durchgesetzt hat. Es gibt das Repair-Café „Escher Café“, das „Mesa Café“ von Transition Minett, das Bio-Produkte verarbeitet oder auch noch den Gemeinschaftsgarten „Gaart Belval“ – um nur einige zu nennen. Sie alle verfolgen das gleiche Ziel: Etwas Nachhaltiges schaffen, das die Natur und den sozialen Zusammenhalt fördert. Konsum mit etwas Moral.

Das Café Mesa soll beispielsweise ein Ort sein, an dem sich die Leute treffen. Dort können sie sich austauschen, neue Lebensweisen für sich entdecken oder in der Gruppe Konzepte für die Gemeinde mitentwickeln. Es soll – wie alle nachhaltigen Initiativen in Esch – ein „Social Space“ bieten. Die Initiativen wollen partizipativ sein. Es soll nicht über Belanglosigkeiten, sondern über Möglichkeiten des sozialen Wandels diskutiert werden.
Das Konzept habe eindeutig positive Effekte für die Gemeinde, sagt Norry Schneider, einer der Mitgründer des Centre for Ecological Learning Luxembourg (CELL) und der Unterorganisation „Transition Minett“: „Bei den Initiativen bekommt man die Möglichkeit, Ideen für die Gestaltung der Zukunft der Gemeinde zu besprechen.“ Somit hätten die Vereinigungen für die gesamte Stadt einen Mehrwert.
Doch ohne die Gemeinde – oder die Politik – geht es auch nicht. Das Gebäude für das Mesa Café hat die Stadt Esch „Transition Minett“ zur Verfügung gestellt. Sowohl CELL als auch BENU bekommen finanzielle Unterstützung vom Nachhaltigkeitsministerium. CELL außerdem von der Oeuvre National de Secours Grande-Duchesse Charlotte.
Mehr Ideale, weniger Hemmungen
„Die Gemeinde verkauft sich nach außen hin aber eher schlecht als recht“, sagt Georges Kieffer. „Hier gibt es so viele gute Initiativen, die etwas bewegen wollen. Darauf könnte man vielmehr aufmerksam machen.“ Seine Marketing-Vergangenheit in der Privatwirtschaft hat ihre Spuren hinterlassen. Er redet viel und schnell – aber auch deutlich. Und auf jede Frage hat er eine Antwort.
Ob sich das Geschäft auch wirklich lohne und sich Nachhaltigkeit auszahle? „Mehr als man meint“, sagt er etwas ausweichend. „Und mehr als ich dachte.“ Ohnehin sei der Verkauf aber zweitrangig. Es gehe erst einmal darum, die Menschen aufzuklären – sowohl im Laden als auch bei Konferenzen.
„Zum Süden passt einfach die Direktheit und der Wunsch, auch einmal ein bisschen zu provozieren und auf den Tisch zu hauen. Die Menschen haben hier weniger Hemmungen“, so der 52-Jährige. Es stehe außer Frage, dass der Süden der ideale Nährboden für alternative Lebens- und Business-Formen sei. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Vergangenheit der Stahlindustrie.

Dass diese nachhaltige Bewegung nicht nur in die Zeit, sondern auch nach Esch passt, findet auch das Forschungsinstitut LISER. Der Soziologe Gerald Aiken befasst sich in seiner Arbeit „The community economics of Esch-sur-Alzette: rereading the economy of Luxembourg“ mit jenen Initiativen, die sich dort der Nachhaltigkeit und dem Umweltschutz verschrieben haben.
Er ist der Meinung, dass sie – wenn auch nur marginal – dazu beitragen, das Wirtschaftsbild von Luxemburg und das Image von Esch zu ändern. „Es geht bei diesen vergleichsweise kleinen Geschäftsideen nicht vorrangig um Geld, sondern um soziales Wohlergehen“, sagt der 36-jährige Schotte. Die kleine Szene zeige, dass in einem von Wachstum getriebenen Land wie Luxemburg auch andere Wirtschaftsformen im Geist der Entschleunigung einen Platz bekämen.
Auf der Suche nach einer Identität
Als Gerald Aiken seine Studie angefangen hat, war er überrascht, wie viele Grassroots-Bewegungen es tatsächlich in Esch gibt. „Die Frage kam auf, warum sie sich nicht in Luxemburg-Stadt entwickelt haben. Dort, wo sogenannte wohlbetuchte ‚Bobos‘ leben. Oder in der Gemeinde Beckerich, die sich schon lange der Nachhaltigkeit verschrieben hat.“
Der Forscher meint, dass gerade der Wunsch nach sozialem Wohlergehen in Esch vielleicht stärker vorhanden ist als in anderen Gegenden des Landes.
Das unterstreicht auch das Prinzip des BENU-Ladens. Konsum? Ja, aber nur zu fairen Preisen. Eine Produktion? Ja, aber nur mit geschenkten oder alten Materialien. Ob das auf Dauer funktioniert, muss sich erst noch zeigen. Denn gerade bei Mode und Textilien spielt Nachhaltigkeit keine allzu große Rolle. Ein Kleidungsstück muss vor allem gefallen, damit es gekauft wird.
Gründergeist und Hipster-Lifestyle
Im Laden erkundigen sich gerade ein paar Kundinnen über das Konzept des Shops. Die Verkäuferin leistet hier auch immer ein bisschen Aufklärungsarbeit. Währenddessen geht Georges Kieffer auf das Gelände gegenüber. Hier soll bald das BENU-Restaurant eröffnen. Ein Restaurant, in dem sogenanntes „Rescued Food“ zubereitet wird. Also Essen, das noch verwendbar ist, aber bei Supermärkten schon im Müll gelandet wäre.
Auch dieses neuartige Konzept passt zur These von Gerald Aiken. „Nach der Stahlindustrie ist man hier immer noch auf der Suche nach einer neuen Identität“, sagt der Forscher. Aus der Studie geht außerdem hervor, dass sich Esch seit der „Arbed“-Zeit zu einer Art Patchwork-Stadt entwickelt. Unterschiedliche soziale Strukturen, unterschiedliche Nationalitäten. Hier braucht es einen gemeinschaftlichen Zusammenhalt und eine neue Dynamik, um die Stadt und die Gesellschaft voranzubringen.
Anstatt das als Problem anzusehen, ist Esch in den Augen von Gerald Aikens für eine sozial nachhaltige Entwicklung eigentlich prädestiniert. Während sich die großen Firmen in der Hauptstadt wohlfühlen, ist hier ein Platz, an dem sozial und ökologisch bewusster Gründergeist auf Hipster-Lifestyle trifft.