Im Februar veröffentlichte die türkische Regierung die Abstammungsdaten ihrer Staatsbürger im Internet. Für die Türkei ist das nicht nur wegen der angespannten innenpolitischen Lage ein überraschender Schritt. 

Die moderne Türkei hatte in den fast einhundert Jahren ihres Bestehens schon immer ein problematisches Verhältnis mit ihren Minderheiten. Seit der Staatsgründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 führte der Begriff vom „Türkentum“, geprägt durch Mustafa Kemal Atatürk und verankert in der türkischen Verfassung, zur Diskriminierung und Verfolgung von diversen mioritären Gruppen im Land. Dabei liegt die Türkei historisch gesehen wie kaum ein anderes Land am Kreuzungspunkt diverser Ethnien und Zivilisationen. In dieser „Völkersuppe“ eine „ethnisch reine“ türkische Identität zu propagieren, erscheint vielen deshalb nicht nur als Ding der Unmöglichkeit, sondern als ideologischer Irrsinn.

Spätestens seit im Jahr 2007 der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink vor seinem Büro in Istanbul erschossen wurde, ist der Sprengstoff der ethnischen Frage der türkischen Öffentlichkeit vor Augen geführt worden. Dinks Ermordung durch ultra-nationalistische Killer erschütterte des Land und führte in Istanbul zu beispiellosen Massendemonstrationen von Solidarität. Auch international erhielt das Verbrechen große Aufmerksamkeit.

Die bilingual auf Türkisch und Armenisch publizierende Zeitung „Agos“, deren Chefredakteur Hrant Dink war, hatte herausgefunden, dass türkische Behörden in ihren Bevölkerungsregistern geheime Codezahlen verwenden, was für viel Empörung sorgte: eine 1 für Griechen, eine 2 für Armenier und eine 3 für Juden.

Türken auf Spurensuche nach familiären Wurzeln

Angesichts dieser Historie hat die türkische Regierung die Abstammungsdaten der Türkei über Jahrhunderte geheim gehalten – Informationen zum Stammbaum ihrer Bürger wurden als Frage der nationalen Sicherheit behandelt. Zum einen wollte man durch die Geheimhaltung der Daten verbergen, dass über die Jahre Scharen von Armeniern, Griechen und Juden zum Islam konvertiert hatten. Generationen später weiß in den entsprechenden Familien kaum jemand mehr etwas von der vor Jahrzehnten abgelegten religiösen Identität. Zum anderen wollte man weitere Debatten um die „Türkentum“-Klausel in der Verfassung vermeiden.

Umso mehr erstaunte es die Menschen im Land, als die Regierung im Februar einen Online-Dienst eröffnete, über den jeder Staatsbürger die Wurzeln seiner eigenen Familie zurückverfolgen konnte. In den ersten Tagen nach Veröffentlichung der Website loggten sich mehr als fünf Millionen neugierige Türken auf der Spurensuche nach ihrer familiären Vergangenheit in das Online-Portal ein, was die Website mehrfach zum Abstürzen führte.

Präsident Erdogan ließ einst in einer Rede verlauten, dass Türken damit ‚beschuldigt werden Juden, Armenier oder Griechen zu sein‘.“

Auch Kübra Akdemir gehörte zu den zahlreichen Nutzern des neu eingerichteten Services. Nachdem sie ihre Personalien in das System eingegeben hatte, konnte sie nach einiger Wartezeit eine Tabelle aufrufen, in der die Namen, Geburtsorte und Sterbedaten ihrer Vorfahren bis zurück ins 18. Jahrhundert aufgeführt waren. So stellte sie fest, dass ihre Familie seit Generationen in der türkischen Ägäisregion angesiedelt war. „Ich hatte fast auf spannendere Entdeckungen gehofft“, gibt Akdemir zu.

Bei anderen jedoch hielt die Ahnendatenbank Überraschungen bereit: Menschen, die sich für ethnische Türken hielten entdeckten plötzlich, dass ihre familiären Wurzeln nach Bulgarien, Georgien oder Griechenland reichen. Viele, die über das System ihre Wurzeln in den Ländern der heutigen Europäischen Union finden konnten, versuchten bei dem jeweiligen Abstammungsstaat eine zweite Staatsangehörigkeit zu beantragen.

Angst vor Spaltungen und Missbrauch durch Extremisten

Derweil tauchten in sozialen Netzwerken auch Kommentare von Rassisten und Ultrarechten auf, die ihre Stunde gekommen sahen, ganz nach dem Motto: Jetzt können wir euch endlich entlarven! Auf diese Schiene hatte sich auch das türkische Staatsoberhaupt schon begeben. Präsident Erdogan ließ einst in einer Rede verlauten, dass Türken damit „beschuldigt werden Juden, Armenier oder Griechen zu sein“. Tatsächlich gab es nach dem Run auf die Datenbanken im Februar Forderungen aus dem Volk, die Seite wieder zu schließen, da man neue Spaltungen aufgrund der zu Tage beförderten ethnischen Unterschieden befürchtete.

Jahrhundertelang wurden diese Daten vom türkischen Staat gesammelt und unter Verschluss gehalten – Warum wurden sie gerade jetzt öffentlich zugänglich gemacht? In einem Interview mit dem türkischen Staatsfernsehen hatte der Professor für Soziologie an der Istanbul Universität, Ismail Coskun, die Erklärung parat, dass die Türkei als eines der ersten Länder erfolgreich die Digitalisierung von Regierungsservices vorangetrieben habe: „Das hat dem Staat mehr Selbstbewusstsein gegeben und ihn stärker gemacht. Deshalb wurden die Daten nun allen zur Verfügung gestellt.“

Wahrscheinlicher ist jedoch die Erklärung des Journalisten Serdar Korucu gegenüber „Al-Monitor“: „Hätten sie dies vor einigen Jahren gemacht, als wir toleranter wurden, dann wären Verschwörungstheorien nicht so stark gewesen wie heute, da der Staat sich nun verhält als wenn wir in einem Existenzkampf sind. So belebt die Türkei den Unabhängigkeitskrieg neu.“ Durch das Schüren von Misstrauen, dass seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 an der Tagesordnung ist, wolle der türkische Staat Patriotismus und Pro-Regierung-Stimmung Auftrieb verschaffen.

Doch für viele, gerade junge Türken wie Akdemir, ist die Abstammungsdatenbank vor allem eines: ein Zeugnis für die bunte Vielfalt ihres Landes, die es heute mehr denn je zu bewahren und verteidigen gilt.