40 bis 50 verhaltensauffällige Grundschulkinder sollen künftig in einer intensiven Betreuungseinrichtung außerhalb der Schule aufgefangen werden. Die entsprechenden Maßnahmen des Bildungsministeriums sind nicht nur umstritten, sondern in wesentlichen Punkten noch unausgereift.
Laut, aufgedreht, unkonzentriert. Schüler, die immer wieder den Unterricht stören, sind nicht die Regel, aber auch keine Seltenheit. Schwierig wird es, wenn sie damit den Lernfortschritt einer ganzen Klasse gefährden. Oder aggressiv werden. Kinder mit starken Verhaltensauffälligkeiten will Bildungsminister Claude Meisch (DP) jetzt aus dem regulären Unterricht ausschließen. Auf einer Pressekonferenz im April formulierte er die Situation folgendermaßen: „Manche Schüler tun der Schule nicht gut, und diese den Schülern nicht.“
Hintergrund sei die Not dieser Kinder, die in sozio-pädagogischen Einrichtungen besser betreut werden könnten. Wie es heißt, seien bereits rund 40 Schüler ermittelt worden, die in diese sogenannten „Centres de prise en charge socio-educative intense“ verwiesen werden sollen. Insgesamt sollen bis zu 50 solcher Plätze zur Verfügung gestellt werden. Die Intensivbetreuung solle dazu beitragen, besser auf die Bedürfnisse dieser Kinder einzugehen und sie zu stabilisieren. Ein Projektaufruf für die Gründung solch spezialisierter Therapieplätze außerhalb des Schulsystems wurde bereits im März an die freien Betreuungsträger des Landes gerichtet. Doch viele Fragen bleiben ungeklärt.
Abhilfe sollen jetzt unter anderem die Dienstleister im Bereich der Kinderfürsorge schaffen. Gemeint sind damit Akteure wie das Rote Kreuz, Caritas und andere, die vom Minister dazu aufgerufen wurden, innerhalb von zwei Monaten ein neues Konzept auf die Beine zu stellen. Die Zeit ist knapp berechnet. Im Idealfall möchte der Bildungsminister die neuen Einrichtungen noch im Herbst, also vor den Wahlen, selbst einweihen.
Druck des Lehrpersonals als Auslöser?
Ungewiss ist, ob die jüngst vom Minister vorgestellte Maßnahme, schwer erziehbare Kinder aus dem regulären Schulunterricht herauszunehmen mit den jüngsten Berichten über Gewalt in Schulen und Betreuungsstrukturen zusammenhängt. Die Pressekonferenz mit der Ankündigung dieser neuen intensiven Betreuungsplätze fand knapp drei Wochen nach Berichten über Aggressionen und Gewalt in den Schulen und Betreuungsstrukturen statt, die Ende März in den Medien und den sozialen Netzwerken hochgekocht waren.
Dabei ging es um Gewalt unter Kindern und gegenüber dem Lehr- und Erziehungspersonal. Letztere äußerten den Vorwurf, in solchen immer wiederkehrenden Fällen unzureichend vom Bildungsministerium unterstützt zu werden. Man habe schlicht keine Möglichkeit, dieser Gewalt entgegenzuwirken, sprich sich selbst zu schützen, hieß es von mehreren betroffenen Lehrkräften.
Die Schritte, die jetzt unternommen werden, wurden nicht aus der Sorge um das Kind angegangen, sondern aus Sorge um die Lehrpersonen.“
Bekannt ist jedenfalls, dass sich Regionaldirektoren, Schulpräsidenten und Elternvertreter seit Jahren beim Bildungsminister über verhaltensauffällige Kinder beklagen, die die Lehrer an den Rand der Verzweiflung bringen und einen normalen Unterricht in ihren Augen unmöglich machen.
Auf Nachfrage hin heißt es im zuständigen Ministerium, dass es sich bei den geplanten Strukturen nicht um etwas komplett Neues handele, sondern um die Notwendigkeit, ein Angebot für ein spezifisches Bedürfnis zu schaffen. Es gebe heute Situationen, in denen die Schule mit verschiedenen Kindern nicht mehr zurechtkomme, erklärt Manuel Achten aus dem Bildungsministerium im Gespräch mit REPORTER. Im Gegensatz zu den bestehenden therapeutischen Einrichtungen sollen die neuen Einrichtungen einen sozialpädagogischen Ansatz vertreten.
Zu viele Unklarheiten
„Es ist durchaus verständlich, dass der Bildungsminister nach einer Lösung sucht“, so Charel Schmit, Präsident der Association des Communautés éducatives et sociales (ANCES). Viele Fachleute sind sich einig, dass das Konzept noch nicht ausgereift ist – an zu vielen Stellen gebe es noch zu viele Unklarheiten. Auf welcher Basis wird etwa festgelegt, welche Kinder einer solchen Betreuung bedürfen? Wer stellt die Diagnose?
Die Schule sollte nicht entscheiden dürfen, ob ein Kind eine Therapie braucht oder nicht.“
René Schmit, ehemaliger Leiter der staatlichen Kinderheime ist seinerseits davon überzeugt, dass diese Maßnahme auf Druck der Lehrpersonen angekündigt wurde. „Die Schritte, die jetzt unternommen werden, wurden nicht aus Sorge um das Kind angegangen, sondern aus Sorge um die Lehrpersonen“, kritisiert er.
Aber auch unter dem Lehrpersonal stehen manche dem Projekt eher kritisch gegenüber: „Warum schaffen wir nicht mehr Unterstützung in den Klassen selber? Warum müssen wir sie aus der Schule herausnehmen?“, fragt eine Lehrerin, die nicht namentlich genannt werden möchte.
Die diesbezüglichen Meinungen gehen unter den vom Minister angeschriebenen Dienstleistern auseinander. Für einige ist die Entscheidungsmacht der Schulen bereits jetzt mehr als ausreichend. Schon heute entscheiden die existierenden therapeutischen Einrichtungen nicht mehr eigenmächtig über die Aufnahme eines bestimmten Kindes – anders als noch vor Jahren. „Die Schule sollte nicht entscheiden dürfen, ob ein Kind eine Therapie braucht oder nicht“, so die Überzeugung eines Experten aus dem Berufsfeld.
Der Fall der Heimkinder
Was passiert mit verhaltensauffälligen Kindern, die aufgrund ihres Verhaltens und ihrem Hang zur verbalen oder physischen Gewalt bereits außerschulisch betreut werden? Diese Frage stellt sich grundsätzlich für Kinder, die in Heimstrukturen leben.
Anzahl der verhaltensauffälligen Kinder bleibt konstant
Zwischen 2016-2017 sind 72 Anfragen für eine spezialisierte Betreuung von Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 20 Jahren bei der „Commission médico-psychopédagogique nationale“ eingegangen. In allen Fällen war die Rede von „difficultés de comportement graves“. Generell bleibt die Zahl der gemeldeten Fällen konstant. Dennoch machen sich laut Meisch einige Probleme bereits im sehr jungen Alter, in den Zyklen 1 und 2, also bei Kindern zwischen vier und sieben Jahren, bemerkbar.
Die Leiterin der staatlichen Kinderheime, Carine Kelsen, wurde bereits ganz konkret mit der neuen Situation befasst. Ein in ihren Kinderheimen betreutes Kind im Grundschulalter wurde als potenzieller Kandidat genannt, um in eine neue Betreuungsstruktur verwiesen zu werden. Es sei die Lehrerin gewesen, die das Kind mutmaßlich auf Druck anderer Eltern hin beim Bildungsministerium als verhaltensauffällig genannt habe, berichtet Kelsen.
Für verhaltensauffällige Heimkinder würde das vom Minister vorgeschlagene Szenario zu einem erneuten Wechsel in eine weitere Auffangsstruktur führen. Für die Kinder bedeutet das: Bereits aufgebaute Bindungen mit Bezugspersonen werden wieder getrennt. Die Direktorin der staatlichen Kinderheime Carine Kelsen spricht sich daher eher für ein Modell aus, in dem die Kinder innerhalb des schulischen Systems betreut werden. Ein neues Umfeld wäre ihrer Ansicht nach für diese Kinder nicht förderlich.
Inklusion, oder etwa nicht?
Die Kritik, dass sich die neuen Strukturen nicht in ein Inklusionskonzept integrieren würden, lässt das Bildungsministerium nicht gelten. „Es handelt sich hier um eine totale Inklusion. Das Hauptziel bleibt es, weiterhin inklusiv zu arbeiten“, betont Manuel Achten. Es gehe darum, den Kindern Mittel zur Verfügung zu stellen, damit sie später in die Schule reintegriert werden und sich dort besser zurecht finden können, sagt er.
Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung.“
Überraschend scheint die neue Maßnahme aber im Hinblick auf das von Minister Meisch 2016 herausgegebene Dokument zur „Modernisierung der Grundschule“. Darin hieß es noch: „Une école pour tous: les élèves à besoins particuliers ou spécifiques. Tous ces élèves, qui nécessitent une prise en charge peuvent suivre une scolarisation dans les écoles publiques, dans un esprit d’inclusion.“
Man müsse die neuen Maßnahmen als Teil eines größeren Angebotes sehen, neben den multidisziplinären Teams und den Kompetenzzentren, heißt es aus dem Bildungsministerium.
Das inklusive Angebot
Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden in Luxemburgs Bildungssystem bereits auf unterschiedlichen Ebenen unterstützt. In diesem Rahmen kündigte Bildungsminister Claude Meisch die Schaffung von 400 neuen Arbeitslätzen an:
- Auf lokaler Ebene sollen insgesamt 150 Sonderschullehrer (I-EBS) eingestellt werden, die auf die Betreuung von Schülern mit besonderen Bedürfnissen spezialisiert sind. 59 Stellen wurden seit der Ankündigung im vergangenen Sommer bereits in Grundschulen geschaffen. Das „Centre psycho-social et d’accompagnement scolaires“ (SePas, früher SPOS) wird in den Gymnasien um 56 Posten erweitert.
- Auf regionaler Ebene wurden im Jahr 2017 insgesamt 40 und im Jahr 2018 bereits 35 Stellen für die „Special Needs Student Support Teams“ (SSES) geschaffen. Diese Teams beraten Lehrer und können ambulante Pflege für Studierende anbieten.
- Auf nationaler Ebene werden 127,5 Stellen für die acht spezialisierten Kompetenzzentren geschaffen, von denen drei neue Zentren der Entwicklung des Lernens (u.a. Dyslexie, Legasthenie), den hochbegabten Kindern und der sozio-emotionalen Entwicklung gewidmet sind.
Schulische Bildung im Fokus
„Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung.“ Daran erinnert auch Charel Schmit von der ANCES. Auch diesem Recht müsse fortan Rechnung getragen werden. Wie dies konkret garantiert werden soll, wenn Kinder aus ihren Schulklassen herausgenommen werden, sei dahingestellt.
Jedenfalls steht bereits fest: Lehrer werden in diesen Auffangsstrukturen keine arbeiten. Das wissen die Träger bereits und das bestätigt auch das Bildungsministerium auf Nachfrage von REPORTER. Fraglich ist also, was diesen stark verhaltensauffälligen Kindern ab dann an schulischer Bildung geboten werden kann. Und wie man verhindert, dass sie einen schulischen Rückstand aufbauen, den sie später über Jahre hinweg mitschleppen.
Manuel Achten aus dem Bildungsministerium relativiert dies. Lernen beschränke sich nicht auf das Schulische, sagt er. Die diesbezügliche Verantwortung und Kreativität soll momentan den Trägern überlassen werden. Acht Projekte seien bereits im Ministerium eingereicht worden.
Dennoch stellen sich weitere Fragen: Wie finden diese Kinder den Weg zurück in die Schule? Wie findet sich das Kind anschließend in seiner Klasse zurecht? Was passiert, wenn die Eltern mit der Versetzung nicht einverstanden sind? Darauf liefert das Ministerium bisher keine Antworten.