Seit knapp fünf Jahren wird in Luxemburg Heroin für schwer abhängige Drogenkranke angeboten. Das Pilotprojekt soll zu einem dauerhaften Programm ausgebaut werden. Der Lösungsansatz ist auch eine Antwort auf eine sich wandelnde Drogenszene.
„Diese Organisation kennt mich, seit ich 16 bin“, erzählt Yannick*. Der heute 44-Jährige sitzt im Versammlungsraum der „Jugend- an Drogenhëllef“ im hauptstädtischen Bahnhofsviertel. Nichts an Yannicks Äußerem verrät, dass er den größten Teil seines Lebens mit einer schweren Drogensucht zu kämpfen hatte. Und doch: Vor fünf Jahren lebte er noch auf der Straße, wog knapp 60 Kilogramm.
Seine Biografie ähnelt der vieler Personen mit Drogensucht. Eine schwere Jugend in einer zerrütteten Familie, bei den Großeltern im Süden des Landes aufgewachsen, der erste Joint mit 13 Jahren und die erste Spritze mit 14. Auch wenn Yannick mit 15 bereits einen festen Job hat, drehte sich alles in seinem Leben um den Stoff: „Alles was ich verdiente, damals um die 40.000 Franken, nahm ich mit nach Holland, um Heroin zu kaufen“, erinnert er sich im Gespräch mit Reporter.lu. Er finanzierte seine Wohnung, seine Freundin und seinen Konsum mit dem Geld aus dem Verkauf der Drogen. Erwischt wurde er damals nie.
Wenn es „Klick“ macht
Doch seine Beziehung hielt nicht, es folgten Abstürze, Therapien, Rückfälle und neue Versuche, sich ein Leben aufzubauen, in Luxemburg und in Deutschland. Nach mehreren Gefängnisaufenthalten landete er 2017 schließlich auf der Straße. Vor etwas mehr als zwei Jahren hörte er vom Heroinabgabe-Programm der „Jugend- an Drogenhëllef“. „Aber nichts Gutes“, meint Yannick, „Die Leute hatten nicht verstanden, dass die Heroinabgabe in Pillenform nicht dazu dient, einen legalen Drogenrausch zu erleben. Es geht lediglich darum, nicht krank zu werden.“
Wir haben Menschen aus allen Lebenslagen, die zu uns kommen: Hausbesitzer und Obdachlose, Leute, die nicht mehr bei der ADEM anerkannt sind, und solche mit festen Jobs.“Julie Quintus, „Jugend- an Drogenhëllef“
Yannick reflektiert sehr bewusst über seine Abhängigkeit. „Heroin ist wie Mutterliebe, es gibt ein warmes Gefühl. Als jemand, der immer nach Liebe gesucht hat, und wenig bekommen hat, war ich quasi prädestiniert für diese Droge.“ Er erklärt auch, dass andere Ersatzstoffe, die in luxemburgischen Drogenprogrammen abgegeben werden, wie Methadon oder Mephenon, diese Wärmewirkung nicht erzeugen würden. „Deshalb funktionieren diese Therapien bei vielen nicht. Da macht es noch nicht Klick“, ist er überzeugt.
Bei Yannick hat es vor zwei Jahren „Klick gemacht“. Seitdem ist er fester Kunde des Programms „Traitement assisté à la Diacétylmorphine“ (Tadiam). Einmal am Tag besucht er die Zweigstelle der „Jugend- an Drogenhëllef“, um unter Aufsicht seine Dosis Diacetylmorphin – also Heroin – in Pillenform zu sich zu nehmen. Nach Hause mitnehmen kann er die Pillen nicht. „Das gestattet die Gesetzeslage nicht“, erklärt Julie Quintus, Leiterin des Substitutionsprogramms der „Jugend- an Drogenhëllef“ im Gespräch mit Reporter.lu.
Für viele der letzte Ausweg
Es war ein langer Weg bis zur kontrollierten Abgabe von Heroin unter staatlicher Aufsicht. Politische Hürden mussten überwunden, Gesetzestexte umgeschrieben werden. Die Teams der „Jugend- an Drogenhëllef“ – die seit 2011 vom Gesundheitsministerium als Verantwortliche für das Projekt ernannt wurden – mussten sich bei ihren Kollegen im Ausland informieren, um aus deren Erfahrungen zu lernen. Solche Programme gibt es in der Schweiz, den Niederlanden, Belgien und Deutschland.

In Luxemburg konnte das Pilotprojekt erst 2017 beginnen. Auf die Frage, ob es nicht zu spät sei, ein solches Programm anzufangen, wenn diese in anderen Ländern schon lange bestehen, meint Julie Quintus: „Es ist mir lieber, das Programm jetzt zu haben als nie.“ Ihrer Erfahrung nach hat sich das Projekt nach einigen Startschwierigkeiten als Erfolg erwiesen: „Wir haben Menschen aus allen Lebenslagen, die zu uns kommen: Hausbesitzer und Obdachlose, Leute die nicht mehr bei der ADEM anerkannt sind, und solche mit festen Jobs. Insgesamt haben über die fünf Jahre 66 Menschen mitgemacht. Aktuell betreuen wir 25 Personen.“
Was sie verbinde, sei das Alter, das für Personen mit einer Drogensucht ziemlich hoch ist, so die Substitutionsbeauftragte weiter: „Die meisten Kunden sind über 40 Jahre alt und in einem schlechten Gesundheitszustand.“ Häufig sind die Pillen der letzte Ausweg für die Menschen, deren Venen nach oft jahrzehntelangem Drogenkonsum in einem zu schlechten Zustand sind, um sich täglich einen Schuss zu setzen.
Ältere Heroinabhängige
Die Zahlen aus dem Pilotprojekt geben auch Aufschluss über ein allgemeines Phänomen, das in Luxemburg angekommen ist: Die Betroffenen werden älter. Zudem werden die Drogenkranken, die nur Heroin konsumieren, immer weniger. Dies liegt einerseits am Markt, der sich verändert, und an der Tatsache, dass Einrichtungen wie die Fixerstube „Abrigado“ in vielen Fällen Überdosierungen verhindert haben. Die Todesraten sinken seit 20 Jahren stark – von 26 Fällen im Jahr 2000 auf sechs im Jahr 2020.
Ganz am Anfang der Pandemie haben wir einen leichten Rückgang verzeichnet. Aber nach mehr oder weniger einer Woche hatten sich die Lieferketten wieder stabilisiert.“Alain Origer, Drogenbeauftragter
Das ist auch eine Erkenntnis des „National Drug Report“, der vergangene Woche veröffentlicht wurde. Während der Heroingebrauch abnimmt, schießt der Kokainkonsum in die Höhe. Alain Origer, der Drogenbeauftragte des Gesundheitsministeriums, hat dafür auch eine geopolitische Erklärung: „Der Abschluss der Friedensverhandlungen mit den FARC-Rebellen in Kolumbien hat dort ein Machtvakuum erzeugt. Nachdem die FARC die Kontrolle über den Koka-Anbau nicht mehr in den Händen hält, hat sich die Produktion vervielfacht“, meint er im Gespräch mit Reporter.lu. Europaweit sei deshalb Kokain auf dem Vormarsch, meint Alain Origer. Der billigere Stoff hat den Markt überschwemmt und hat oft eine bessere Qualität als das Heroin: „Beim Reinheitsgrad sind wir bei 17 Prozent beim Heroin, während Kokainprodukte öfter bei zwischen 80 und 90 Prozent liegen.“
Alain Origer ist überzeugt, dass das Tadiam-Programm das Drogenproblem in Luxemburg nicht lösen kann. Aber: „Wir konnten ungefähr 35 Leute aus der Szene herausholen und das ist schon etwas.“ Das Programm soll nun ausgeweitet werden. Der Bau einer „Maison de la Substitution“ ist in Planung. Man sei noch mit der Stadt Luxemburg auf der Suche nach einem passenden Gebäude, heißt es von offizieller Seite.
Schwarzer Fleck Ettelbrück
Ein anderer Aspekt der Ausweitung ist die Dezentralisierung der Heroinabgabe: „Als Nächstes werden wir in unserem Drogenraum in Esch/Alzette neben Methadon auch Heroin anbieten“, berichtet Julie Quintus. Dies sei wichtig, weil 28 Prozent der Klientel der „Jugend- an Drogenhëllef“ in der Hauptstadt aus dem Landessüden stammt. Die Anreise nach Luxemburg-Stadt jeden Tag sei beschwerlich, zumal für diejenigen, die eine Arbeit haben.
„Die Kundschaft in Esch ist eine andere und auch ihre Konsumgewohnheiten variieren. Hier passiert viel weniger in der Öffentlichkeit. Konsumiert wird meistens in Privatwohnungen oder in sogenannten ‚Cafészëmmeren‘“, erklärt Julie Quintus. Auch bei den konsumierten Stoffen gibt es große Unterschiede. Der nationale Drogenbericht offenbart etwa, dass der Konsum von Heroin im Süden ansteigt (79,4 Prozent gegenüber 40 Prozent im Vorjahr) und der Kokainkonsum abnimmt (16,6 Prozent gegenüber 50 Prozent in 2019) – also eine gegenteilige Entwicklung zum Landesdurchschnitt.

Ein schwarzer Fleck auf der Landkarte bleibt immer noch Ettelbrück. Dort betreibt die „Jugend- an Drogenhëllef“ zwar einen „Contact“-Punkt, mit Beratung und Spritzenaustausch. Ein Substitutionsprogramm gibt es aber nirgendwo im Norden. Julie Quintus bedauert diesen Umstand, zumal die Substitution mit Methadon dort deshalb nur unter hausärztlicher Betreuung stattfinden kann. In diesem nicht regulierten Umfeld sei die Lage nur schwer zu erfassen.
„Wir haben sehr gute Beziehungen zu vielen Ärzten, mit denen wir eng zusammenarbeiten. Aber auch dort gibt es schwarze Schafe“, sagt Julie Quintus. Gemeint sind Ärzte, die mutwillig große Mengen an Methadon verschreiben, ohne sich um die Diagnose zu kümmern. Mit dem Risiko, dass ein Teil des Stoffes verkauft wird, um so weiteren Konsum zu ermöglichen.
Stabilisierter Drogenmarkt
Heroinabgabe und Methadonprogramme sind zwar wichtige Bestandteile der Drogenpolitik, doch die Statistiken sind durchaus besorgniserregend. Viele der geschätzt knapp 5.000 sogenannten problematischen Drogenkranken sind Polytoxikomane, die also Abhängigkeiten für mehrere Stoffe entwickelt haben.
Ein Problem lautet: Für sogenannte Drogencocktails gibt es keine richtige Substitution. „Es gibt zwar ein Präparat, das die Sucht nach Kokain etwas dämpfen kann, aber das ist im Grunde bloß ein Schleimlösemittel“, so der Drogenbeauftragte Alain Origer. Auch eine „Anti-Kokain-Impfung“, welche die Effekte der Droge neutralisieren könnte, sei bis jetzt nur Zukunftsmusik.
Wer sich wirklich helfen lassen will, der kann bei der Jugend- an Drogenhëllef alles kriegen, um sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen.“
Yannick, Heroinabhängiger
Dabei habe die Erfahrung der Pandemie gezeigt, dass eine bessere Substitutionspolitik sich vor Ort durchaus bemerkbar mache, so Alain Origer weiter. Um größere Probleme zu vermeiden, wurden die Schwellen zur Aufnahme in die verschiedenen Programme heruntergeschraubt. Das heißt: Auch Menschen, die keine Therapie- und Begleitangebote in Anspruch nehmen wollten, konnten die Ersatzstoffe erhalten. Am Drogenmarkt hat dies aber nicht viel geändert: „Ganz am Anfang der Pandemie haben wir einen leichten Rückgang verzeichnet. Aber nach mehr oder weniger einer Woche, hatten sich die Lieferketten wieder stabilisiert“, erinnert sich Alain Origer.
In dem Sinne können Heroinabgabe und Methadonprogramme nur ansatzweise ein Problem lösen, das mehr und mehr an Aktualität verliert. Und doch öffnen sie Tore, um wenigstens denen zu helfen, die Hilfe wollen. „Wer sich wirklich helfen lassen will, der kann bei der Jugend- an Drogenhëllef alles kriegen, um sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Und das alles auch noch kostenlos“, erzählt Yannick.
Seit zwei Jahren lebt er nun ohne Rückfall, hat den Kontakt zu seiner Familie wieder aufgebaut. Einen Job hat er auch wieder gefunden, sein Geld wird von der „Jugend- an Drogenhëllef“ verwaltet. „Dieses Programm ist der Wahnsinn und ich frage mich, warum ich das nicht viel früher gemacht habe“, sagt Yannick.
* Name wurde von der Redaktion geändert