Über 2.000 parlamentarische Anfragen stellten die Abgeordneten der Regierung im vergangenen Jahr. Bei einigen Fragen verschwamm die Grenze zwischen dem Gemeinwohl und den Interessen der Politiker. Quer durch alle Fraktionen ist das Problembewusstsein gering.
Nancy Kemp-Arendt (CSV) erkundigt sich über eine mögliche finanzielle Unterstützung des Staates für Physiotherapeuten als Ausgleich für die Mehrkosten durch den Kauf von Hygienemitteln. Sie hilft in der Physiotherapie-Praxis ihres Mannes aus. Stéphanie Empain (Déi Gréng) stellt dem Sportminister Fragen über die Einführung eines Statuts für Elitesportler. Ein solche Regelung könnte ein festes Gehalt für Sportler bedeuten. Die Abgeordnete ist ehrenamtlich auch Vorsitzende des Leichtathletikverbandes. Gusty Graas (DP) fragt nach der Sicherheit der luxemburgischen Kooperationsagenten in Myanmar, eine davon ist seine Tochter.
Es sind nur einige Beispiele einer fragwürdigen Praxis unter Parlamentariern. Abgeordnete aus fast allen Parteien bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen dem Verfolgen von eigenen Interessen und dem Gemeinwohl. Die Geschäftsordnung des Parlaments verpflichtet die Abgeordneten Interessenkonflikte selbst preiszugeben und sich in solchen Fällen bei einer Abstimmung oder Diskussionen im Ausschuss zu enthalten. Die Grenzen dieser Selbstkontrolle werden bei den parlamentarischen Anfragen deutlich.
Eine schwammige Definition
Erst 2014 hat das Parlament einen Verhaltenskodex für die Abgeordneten verabschiedet. Die Veröffentlichung von Nebeneinkünften sollte den Umgang mit Interessenkonflikten transparenter regeln. Diese würden bestehen, wenn „die persönlichen Interessen des Abgeordneten unberechtigt Einfluss auf das Abgeordnetenmandat nehmen“. Wenn Abgeordnete Vorteile aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer größeren Personengruppe erhielten, seien dies jedoch keine Interessenkonflikte, heißt es im dritten Artikel des „Code de conduite“.
Diese Definition ist allerdings schwammig. Die Klausel schützt fast alle Stellungnahmen und Anfragen der Abgeordneten bezüglich ihres eigenen Berufes. Demnach könnten etwa die 22 Abgeordneten, die vor ihrem Mandat als Beamte tätig waren, per Definition keinen Interessenkonflikt haben. Gleich mehrere scheuten sich nicht, Anfragen zu möglichen Gehaltserhöhungen von verschiedenen Beamtengruppen oder zur Schlichtung zwischen der Staatsbeamtengewerkschaft CGFP und der Regierung zu stellen. Dies, obwohl sie von diesen Maßnahmen nach ihrem Abgeordnetenmandat betroffen sein werden.
Im Sinne des Gemeinwohls
Im Verhaltenskodex werden parlamentarische Anfragen an die Regierung nicht behandelt. Die Geschäftsordnung des Parlaments sieht allerdings vor, dass eine Anfrage stets im Sinne des Gemeinwohls sein muss. Über ihre Zulassung entscheidet der Parlamentspräsident. „Der Abgeordnete muss allerdings mit sich selbst ausmachen, ob ein Interessenkonflikt besteht oder nicht“, erklärt Fernand Etgen.
Es geht hier um eine Diskriminierung von Physiotherapeuten, die nicht in Krankenhäusern arbeiten. Das hat nichts mit meinem Mann zu tun.“Nancy Kemp-Arendt, CSV-Abgeordnete
„Ein Interessenkonflikt existiert in einem Spannungsfeld zwischen Korruption und Befangenheit. Auch wenn die juristische Definition von Korruption nicht erfüllt ist, kann ein Interessenkonflikt trotzdem einen materiellen Vorteil bedeuten“, sagt Martin Pigeon des „Corporate Europe Observatory“ im Gespräch mit Reporter.lu.
Diese materiellen Vorzüge können unterschiedliche Formen annehmen. Dazu gehört eben auch die Frage nach möglichen staatlichen Hilfen, die dem näheren Umfeld des Abgeordneten zugutekommen könnten. „Wenn die persönlichen finanziellen Interessen des Abgeordneten nicht mit dem Gemeinwohl zusammenzuführen sind, dann handelt es sich klar um ein Interessenkonflikt“, so der Forscher der Antikorruptionsorganisation.
Politik in der Grauzone
Viele Abgeordneten haben allerdings eine eigene Auslegung des Begriffes. „Ein Interessenkonflikt besteht meiner Meinung erst, wenn man selbst daraus Profit zieht“, sagt etwa Stéphanie Empain. Darauf angesprochen, erklärten fast alle Abgeordneten, ihre Fragen seien im allgemeinen Interesse. „Es geht hier um eine Diskriminierung von Physiotherapeuten, die nicht in Krankenhäusern arbeiten“, erklärt Nancy Kemp-Arendt. „Das hat nichts mit meinem Mann zu tun“, so die Abgeordnete im Gespräch mit Reporter.lu.
Die Parlamentarier können demnach dem Vorwurf einer Vermischung von Interessen entgehen, indem die Anfragen allgemein gehalten werden. „Ich würde es selbst als problematisch empfinden, wenn meine Fragen ausschließlich Tennisvereine betreffen würden“, sagt Claude Lamberty (DP). Der Präsident des Tennisverbands betont, in seinen Fragen stets den gesamten Sportbereich abzudecken. Auch andere Abgeordnete verteidigen sich mit der allgemeinen Formulierung ihrer Anfragen.

Laurent Mosar schließt gar aus, dass ein Interessenkonflikt überhaupt möglich sein könnte, wenn ein Abgeordneter eine Anfrage stellt. Er erkundigte sich über den Inhalt des „Belt and Road“-Vertrags, den die Regierung mit China unterzeichnete. Seit Februar 2015 sitzt der Abgeordnete auch im Verwaltungsrat der „Bank of China“. „Die Fragen und Antworten sind öffentlich zugänglich, die Bank hat dadurch also keinen Vorteil gegenüber der Konkurrenz“, so der CSV-Abgeordnete.
Der Piratenabgeordnete Sven Clement sieht das anders: „Es ist ein strukturelles Problem im Parlament, weil sich viele Abgeordnete überhaupt nicht bewusst sind, dass sie einen Interessenkonflikt haben.“ Allerdings hat auch er mehrere Anfragen zu einem Kompensationsgehalt für Freiberufler gestellt. „Ich habe allerdings selbst keinen Antrag eingereicht“, erklärt der Unternehmer. Er könne jedoch nicht ausschließen, dass auch er grenzwertige Fragen stelle, auch wenn er stets darauf achte.
Zwischen Denkanstoß und Lobbyismus
Für Martin Pigeon handelt es sich auch um eine grundsätzliche Frage. „Um Interessenkonflikte auszuschließen, sollte man Nebenjobs verbieten“, so der Forscher. Allerdings ist in Luxemburg ein Abgeordnetenmandat kein Vollzeitjob, eine Nebentätigkeit ist demnach eher die Regel als die Ausnahme. Begründet wird dieser Umstand damit, dass Abgeordnete nicht realitätsfremd werden sollen. „Ich bezweifele, dass ein Nebenjob da wirklich hilft, dann sollten sie eher mit dem Durchschnittsgehalt der Bevölkerung leben. Das würde mehr zum Realitätsbewusstsein der Abgeordneten beitragen“, so Martin Pigeon.
Es wäre ja absurd, wenn ich im Kommunalrat eine andere Position verteidige als später im Parlament. Natürlich entspricht das Interesse der Stadt Luxemburg nicht zwingend dem Gemeinwohl der ganzen Bevölkerung.“Laurent Mosar, CSV-Abgeordneter
Für Abgeordnete sind die Anfragen nicht nur ein Mittel, um sich über aktuelle Projekte zu informieren. „Eine Frage dient nicht dazu, eine Seite in einer Zeitung zu füllen, sie können auch ein Denkanstoß für die Regierung sein“, sagt Claude Lamberty. „Durch meine ehrenamtliche Tätigkeit als Präsident des Tennisverbands erhalte ich natürlich viele Informationen von unseren Mitgliedern. Es ist ganz normal, als Abgeordneter auf diese Probleme aufmerksam zu machen“, meint er.
Als Präsidentin des Leichtathletikverbands befindet sich Stéphanie Empain (Déi Gréng) in der gleichen Lage. „Jeder Abgeordnete hat neben seinem Mandat noch andere Interessensgebiete. Wenn wir zu diesen Bereichen keine Fragen stellen dürften, könnte man sich ja nur mit Themen befassen, bei denen man sich nicht auskennt“, äußert sich die Grünen-Abgeordnete.
Die Fragen können allerdings auch die Beliebtheit des Politikers steigern. „Natürlich erhöht das auch meine Chancen, als Vereinspräsident wiedergewählt zu werden“, sagt etwa Claude Lamberty. Die CSV-Abgeordnete Nancy Kemp-Arendt, die ebenfalls vor allem Fragen zu Sport stellt, sieht das ähnlich. Sie wolle diesen Themenbereich nicht an einen anderen Abgeordneten abtreten. „Man will ja auch von den Menschen, für die man sich einsetzt, mit dem Wissen, das man sich angeeignet hat, anerkannt werden“, sagt Nancy Kemp-Arendt.
Fehlende Transparenz
Doch mit den „Denkanstößen“ bewegen sich die Abgeordneten auf einem schmalen Grat zwischen Lobbyismus und dem Verteidigen des Gemeinwohls. „Eigentlich sind Politiker alle Lobbyisten. Viele Fragen betreffen etwa Projekte in den Heimatgemeinden der Politiker, deren Interessen sie verteidigen“, sagt Parlamentspräsident Fernand Etgen (DP). „Es wäre ja absurd, wenn ich im Kommunalrat eine andere Position verteidige als später im Parlament. Natürlich entspricht das Interesse der Stadt Luxemburg nicht zwingend dem Gemeinwohl der ganzen Bevölkerung“, erklärt Laurent Mosar (CSV) auf Nachfrage von Reporter.lu.
Die Liste der Abgeordneten mit möglichen Interessenkonflikten ist lang, doch sie stellt nur einen kleinen Ausschnitt eines größeren Problems dar. Den Job seiner Tochter muss Gusty Graas in seiner Erklärung zu möglichen Interessen nicht angeben. Nancy Kemp-Arendt führt die Beschäftigung ihres Mannes nur auf, weil sie ihm regelmäßig aushilft.
Ist es dann nicht meine Pflicht, mich über die Folgen für die zukünftige Arbeit und Sicherheit der Entwicklungshilfe-Delegation zu informieren?“Gusty Graas, DP-Abgeordneter
Die Staatengruppe gegen Korruption (Greco) forderte in ihrem Bericht zu Luxemburg, die Erklärung der Abgeordneten auch auf die Familie zu erweitern. Den Abgeordneten ging dieser Schritt allerdings zu weit. Dies sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatsphäre der Familie, argumentierten sie. Dabei sahen die Anti-Korruptions-Experten die Möglichkeit vor, diesen Teil der Erklärung nicht zu veröffentlichen. Bisher geben Abgeordneten den Job ihres Partners nur an, wenn ihre Nebeneinkünfte damit zusammenhängen.
„Ich könnte mich ja auch morgen von meinem Mann scheiden lassen, dann könnte man mir nichts vorwerfen. Wenn wir durch unsere Familien Interessenkonflikte hätten, dann hätten wohl alle Abgeordnete bei ihren Fragen Interessenkonflikte“, sagt Nancy Kemp-Arendt. Gusty Graas erklärt gegenüber Reporter.lu, er habe sich als außenpolitischer Sprecher seiner Partei bereits vor der Mission seiner Tochter für die Situation in Myanmar interessiert. „Ist es dann nicht meine Pflicht, mich über die Folgen für die zukünftige Arbeit und Sicherheit der Entwicklungshilfe-Delegation zu informieren?“, fragt der Abgeordnete.
„Cash for questions“-Affäre
Luxemburg ist bei der fehlenden Regulierung von parlamentarischen Anfragen allerdings kein Einzelfall. Das hiesige Parlament übernahm die Regeln der belgischen Kammer. Auch in Deutschland oder Frankreich gibt es keine festen Regeln für dem Umgang mit einem Interessenkonflikt bei Anfragen.
Die Ausnahme ist das britische Unterhaus. Die Mitglieder des „House of Commons“ müssen bei Fragen mögliche Interessenkonflikte angeben, sofern sie nicht aus ihrer Erklärung finanzieller Interessen hervorgehen. Die Fragen werden dann mit einem „R“ für „relevant interests“ markiert.
Die strengen Regeln in Großbritannien wurden allerdings nicht zufällig eingeführt. In den 1990er Jahren waren britische Abgeordnete in mehrere Korruptionsskandale verwickelt. Unter anderem bot die „Sunday Times“ zwei Abgeordneten jeweils 1.000 Pfund, damit sie eine parlamentarische Anfrage stellen. Wenige Monate später folgten Enthüllungen, dass weitere Abgeordnete Geld des Unternehmers Mohamed Al-Fayed als Gegenleistung für parlamentarische Anfragen annahmen. Die „cash for questions“-Affäre löste eine größere Debatte aus und das Unterhaus passte 1995 den Verhaltenskodex an.
Die britische Lösung wäre auch in Luxemburg leicht umzusetzen und würde einen transparenten Umgang mit möglichen Interessenkonflikten schaffen. Der Geschäftsordnungsausschuss arbeitet zurzeit an einem Lobbyregister. Die Gelegenheit könnten die Abgeordneten nutzen, um eine weitere Anpassung der Verhaltensregeln vorzunehmen.
Übrigens erhielt Gusty Graas von den Ministern Jean Asselborn und Franz Fayot (beide LSAP) bereits nach vier Tagen eine Antwort auf seine Anfrage: Seine Tochter und die drei anderen Delegierten seien in Sicherheit. Sie arbeiten vor Ort fortan im Homeoffice. Der Ehemann von Nancy Kemp-Arendt werde keine Erstattung für das gekaufte Schutzmaterial erhalten, erklärte das Gesundheitsministerium in seiner Antwort, „so wie das auch für alle anderen Berufe der Fall ist“.