Alternative Geschäftsideen und digitale Formate: Nach dem Lockdown haben sich Musiker, Konzertveranstalter und Bühnentechniker schnell etwas Neues einfallen lassen. Staatliche Subventionen und andere finanzielle Standbeine helfen auf dem Weg in eine neue Normalität.

Pandemie und Massenveranstaltungen: Das verträgt sich nicht. Menschen, die zu Tausenden schwitzend vor den Bühnen des Landes stehen und mitgrölen, sich gegenseitig Eindrücke ins Ohr schreien und Bier aus derselben Flasche trinken – all das scheint einer längst vergangenen Zeit anzugehören. Der Blick in die Zukunft ist auch nicht gerade vielversprechend. Die Botschaft des Gesundheitsministeriums ist hier unmissverständlich: Größere Live-Konzerte wird es ohne Impfstoff nicht geben. Und doch ist die Zukunft für die Branche nicht hoffnungslos.

„Vor der Pandemie haben wir etwa 400 Tickets pro Tag verkauft. Heute sind wir vielleicht bei zwanzig“, erzählt Konzertveranstalter Michel Welter. Das Atelier hat seit Beginn des Lockdowns Mitte März kaum Einnahmen. Alle Konzerte sind bis auf Weiteres abgesagt oder zumindest verschoben. Die Türen zum Konzertsaal in Hollerich bleiben geschlossen, der Vorverkauf ist quasi zum Erliegen gekommen. Um die laufenden Kosten zu senken, ist fast das ganze Team in Kurzarbeit. Die Miete kann dank Reserven aus den vergangenen Jahren gerade noch bezahlt werden. „Ich schätze, wir machen dieses Jahr einen Verlust von 300.000 Euro“, so Michel Welter.

Ganze Geschäftszweige brechen weg

Auch Jaakes Hoffmann blickt auf düstere Monate zurück. Der Geschäftsführer von Amplitude, früher Discolux, hat mit seinem Team im vergangenen Jahr noch für etwa zehn bis 15 Konzerte pro Woche aufgebaut und sie mit Licht und Tontechnik versorgt. „Seit Mitte März kein einziges mehr“, sagt Hoffmann. Zehn von 14 Mitarbeitern des größten Unternehmens für Konzerttechnik im Land sind in Kurzarbeit. Die vier, die zur Zeit noch übrig sind, machen sich viele Gedanken. „Es ist schon heftig, wenn von heute auf morgen dein Alltagsbusiness wegbricht“, so der Unternehmer.

Ich denke wir werden noch eine Zeit lang alternative Konzepte brauchen.“Serge Tonnar, Sänger und Initiator von „Live aus der Stuff“

Und trotzdem: Aufgeben wird weder das Atelier noch Amplitude. Beide arbeiten bereits an alternativen Geschäftsmodellen. Zum einen, um kurzfristig doch etwas Geld in die Kassen zu bekommen. Zum anderen, um sich durch neue Standbeine das Überleben in einer ungewissen Zukunft zu sichern.

Amplitude bietet seinen Kunden nun den Bau von Terrassen und Unterstützung bei Umzügen an. Zudem ist das Unternehmen dabei, einen neuen Geschäftszweig im Bereich des Designs aufzubauen. „Wir haben hier eine Menge handwerkliches Talent“, sagt Jaakes Hoffmann, „das können wir nutzen“. Im Moment arbeiten sie an einem ersten Entwurf für eventtaugliche Holzbänke. Einzelpersonen können die Bänke kaufen, aber vor allem sollen sie Veranstalter ansprechen, die nun für all die Konzerte im Sitzen verstärkt nach solchen Produkten suchen.

„Es liegt nicht in unserer Natur, uns in eine Ecke zu stellen und nach Hilfe zu schreien“, sagt auch Michel Welter. Zu warten, bis der Sturm vorbei ist, könne sich das Atelier nicht leisten. Denn die Planungsunsicherheit im internationalen Touring-Business ist auch für die Konzerthalle in der Rue de Hollerich existenzbedrohend. „Wir machen gerade erste Schritte, um völlig neue Wege zu gehen“, sagt Welter. Das Atelier wird sich diversifizieren. Mehr verrät Welter nicht. Nur so viel: „Wir schreiben gerne unser eigenes Glück.“

Eine Branche passt sich schnell an

Als wieder erste Schritte aus dem Lockdown möglich wurden und die Regierung das individuelle Fahrverbot aufhob, war es dann vor allem auch das Atelier, das mit einem alternativen Konzertformat die Tür zur Live-Musik ein wenig aufstieß. Die Künstler hatten endlich wieder eine Bühne und das Publikum ein Live-Konzert. Allerdings im Auto. Die Gemeinde Petingen hatte für ihre „Péitenger Carena“ neben Caramba auch das Atelier als Partner gefunden. So kam das Publikum neben den Autokinos, die spätestens seit James Dean Kultstatus erlangten haben, auch in den Genuss von so genannten „Drive-In-Konzerten“.

Notgedrungen setzen viele Veranstalter in diesem Jahr auf einheimische Künstler, so wie auf der Opening Night des „Congés Annulés“ der Rotondes am vergangenen Wochenende. (Foto: Paulo Lobo/Rotondes)

Serge Tonnar war einer der Künstler, der in der Südgemeinde auf der Bühne stand und zu einem Meer von Autos hinunterblickte. „Es war schon sehr speziell“, so der bekannte Sänger. Die Reaktionen des Publikums, die sich in Hupen und Lichtgrüßen ausdrückten, seien schön gewesen, aber wiederholen müsse er diese Art von Konzert nicht unbedingt. „Wir sind alle am Ausprobieren und Experimentieren“, sagt Tonnar, der mit seinem Programm „Live aus der Stuff“ der Künstlerszene während des Lockdowns rasch einen Kanal für digitale Live-Auftritte bot. „Eine Notlösung“ nennt Serge Tonnar das Programm heute. Als Künstler habe er „einfach weitermachen“ müssen.

Wir wollten zeigen, dass wir noch da sind und dass wir trotz Lockdown an der Qualität von Berufsmusikern festhalten.“Pit Dahm, Jazzmusiker

Als nachhaltiges Folgekonzept hat Tonnar pünktlich zum Nationalfeiertag dann den Kulturkanal (kuk) aus der Taufe gehoben. „Ich denke wir werden noch eine Zeit lang alternative Konzepte brauchen“, so der Künstler. Das sei auch nicht schlecht, schließlich hätten auch digitale Konzerte ihre Vorteile: Über Vertriebswege wie Facebook oder YouTube haben auch Menschen, die sonst eher selten den Weg in eine Spielstätte finden, Kontakt mit Kultur. Man müsse mit den Vorteilen digitaler Kanäle spielen: Der Nähe zum Künstler, ungewöhnlichen Orten oder auch einer neuen Interaktivität.

„Die Szene passt sich an die Krise an“, sagt Marc Nickts recht zuversichtlich. Der Direktor der Sacem sieht in der Krise neben all den Einbußen für die Musikszene auch eine Chance: Durch das erzwungene Ausweichen in die virtuelle Welt, würden neue Vertriebswege erschlossen. Streaming-Dienste zu valorisieren ist für Nickts ein wichtiger Schritt, um die Existenzgrundlage vieler Künstler zu sichern. „Zuerst sprach man von Wochen, dann von Monaten, dann von Jahreszeiten, mittlerweile von Jahren, da braucht es komplementäre Angebote“, so der Leiter der Urheberrechtsgesellschaft.

Quarantäne macht erfinderisch

„Ich glaube, wir waren die ersten, die mit einem Alternativprogramm auftauchten“, sagt Pit Dahm, einer der Köpfe hinter den „Crazy Quarantine Sessions“. „Von einem Tag auf den anderen hatten wir einen Fulltime-Job“, sagt Dahm, der während des Lockdowns mit seinen Kollegen Pol Belardi, Jérôme Klein, Charles Stoltz und Niels Engel 31 Sessions aufgenommen, vertont und gestreamt hat. 30 Bands aus den unterschiedlichsten Musikrichtungen bekamen so einen Kanal für ihre Kunst.

„Wir wollten zeigen, dass wir noch da sind und dass wir trotz Lockdown an der Qualität von Berufsmusikern festhalten“, so Pit Dahm. Die Macher der Crazy Quarantine Sessions wollen sich mit ihren Werken bewusst von den vielen, während des Lockdowns ins Netz gestellten Amateurvideos abheben. „Unsere Videos sind auch heute noch gut, obwohl das Konzept mittlerweile schon wieder überholt ist“, so der Jazzmusiker.

Maskenpflicht und Social Distancing: Nach den Konzerten „aus der Stuff“ findet Luxemburgs Musikszene langsam, aber sicher den Weg in eine neue Normalität. (Foto: Sven Becker/Rotondes)

Finanziert wurden die Crazy Quarantine Sessions und „Live aus der Stuff“ vom Kulturministerium. Für etwa ein halbes Dutzend Projekte, die maßgeblich im Lockdown entstanden, stellte das Ministerium Direkthilfen aus dem Jahresbudget in einer Höhe von etwa 75000 Euro zur Verfügung. Anfragen konnten so nahezu ohne administrativen Aufwand, „innerhalb von 48 Stunden“, so Joé Haas aus dem Kulturministerium, beurteilt, genehmigt und von der Ministerin unterschrieben werden.

Noch schwierigere Lage im Ausland

Im Rahmen des Rettungspaketes „Neistart Lëtzebuerg“ stehen der Kulturszene dieses Jahr zudem 1,5 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Dieses Geld wird vor allem ab Herbst fließen, um der Kulturszene bei der in diesem Jahr doch schwierigen „Rentrée“ unter die Arme zu greifen. Private Veranstalter, wie etwa das Atelier, sind von diesen Hilfen zwar ausgeschlossen. Doch stellen sie vor allem für  konventionierte Spielstätten, wie etwa die monatelang geschlossenen dezentralisierten Kulturhäuser, sicherlich eine Unterstützung für die „Rentrée“ im September dar.  Ein Privileg, vergleicht man die Situation mit jener in vielen anderen europäischen Ländern.

Im Gegensatz zu anderen Künstlern, geht es den Musikern hier im Land noch am besten.“Jo Kox, Berater im Kulturministerium

Überall haben Musiker, Konzertveranstalter und Techniker mit den andauernden Restriktionen und der damit verbundenen Planungsunsicherheit zu kämpfen. Offene Briefe an Regierungen, wie kürzlich in England und in Frankreich fordern nicht nur sofortige Hilfsmaßnahmen, sondern auch eine Perspektive. „Es wurden Protokolle für Cafés, Restaurants und Kinos erstellt. Warum nicht für uns? Ich halte dies für eine Ungerechtigkeit, die mit mangelndem Wissen über unsere Branche verbunden ist“, schreibt etwa Didier Veillaut, Direktor des Konzertsaales „La Cooperative de Mai“ in Clermont Ferrand und Erstunterzeichner des am 23. Juli veröffentlichten Briefes an die französische Regierung. „Ich verstehe die Haltung unserer Behörden nicht“, so Veillaut.

In Großbritannien ist die Stimmung ähnlich: In einem offenen Brief von 1.400 britischen Künstlern, darunter Radiohead, Nick Cave oder auch die Rolling Stones, heißt es: „Die britische Livemusik war in den letzten Jahren einer der größten sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfolge Großbritanniens.“ Eine Politik, die diese Akteure in der aktuellen Krise hängen lasse, sei nicht nur undankbar, sondern vor allem unverantwortlich. Laut der Organisatoren des weltweit bekannten Glastonbury-Festivals sind aktuell 50 Prozent der Belegschaft von Entlassungen und 90 Prozent der Basis-Spielstätten in Großbritannien von Schließungen bedroht.

Musiker mit zweitem finanziellen Standbein

„Die Situation ist in Luxemburg schon eine andere“, sagt Jo Kox, erster Regierungsrat im Kulturministerium. Wenn auch nicht unbedingt für die Veranstalter, Konzerthallen und Techniker, so doch zumindest für die Musiker: Luxemburg habe gerade einmal ein Dutzend Berufsmusiker, die wirklich auch von ihrer Kunst leben müssten. Alle anderen hätten ein zweites Standbein, das ihnen – zumindest bis zu einem gewissen Grad – finanzielle Sicherheit gebe. „Im Gegensatz zu anderen Künstlern, geht es den Musikern hier im Land noch am besten“, so Kox.

Das Publikum kommt nicht wegen der Party, sondern weil es Musik hören möchte.“Marc Hauser, „Rotondes“

„Viele von uns treffen die Entscheidung bewusst“, bestätigt auch Pit Dahm, der als Lehrer Vollzeit in den Musikschulen von Differdingen und Düdelingen arbeitet. „Ich brauche diese Sicherheit. Ich möchte nicht spielen, um zu leben, sondern leben, um zu spielen.“

Und das kann er. Mittlerweile auch schon wieder live vor Publikum. Gemeinsam mit Jazzmusiker-Kollege Pol Belardi konnte er am 5. Juli die Apéro Jazz-Reihe in der Abtei Neimënster einläuten, die vom Frühling in den Sommer verlegt werden musste und nun Teil des Sommerfestivals „Bock op…“ ist. „Wir haben das große Glück, dass wir dank unserem großen Vorplatz überhaupt Konzerte organisieren können“, sagt Ainhoa Achutegui, Direktorin von „neimënster“. „Mit solch einer Infrastruktur müssen wir unserer Mission, Kultur anzubieten, auch nachkommen.“

Musikgenuss statt Partystimmung

Natürlich geschieht dies in einem völlig anderen Rahmen als noch vor einem Jahr: Statt zu stehen, sitzt das Publikum. Statt 3.000 Leuten dürfen pro Konzert nur 230 auf den Parvis der Abtei im Grund. Und statt großer Festivalbühne tut es dieses Jahr auch eine kleine.

„Bock op…“: Eines der ersten Festivals unter Pandemie-Bedingungen fand in der Abtei Neimënster statt. (Foto: neimënster)

Den ungezügelten „Hunger auf Kultur“, wie es Ainhoa Achutegui nennt, versuchen auch die „Rotondes“ im traditionellen, musikarmen Sommerloch seit Jahren mit ihren „Congés annulés“ zu stillen. „Das Programm war auch dieses Jahr zum Großteil bereits im März in trockenen Tüchern“, erzählt Marc Hauser, „Programmateur Concerts“ des Kulturzentrums. Dann kam der Lockdown und mit ihm eine Absage nach der nächsten.

Mit der Absage der großen internationalen Festivals fielen für die Künstler die Tourneen weg und damit auch ihr Zwischenstopp in Luxemburg. „Am Ende standen wir ohne internationale Künstler da. Wir mussten das gesamte Festival neu denken“, so der Musikchef der „Rotondes“.

Natürlich müssen auch hier Abstriche gemacht werden und Partystimmung wollte bei der diesjährigen „Opening Night“ am 1. August auch nicht so richtig aufkommen. Dennoch bergen diese intimen, kleineren Events auch eine Chance für die hiesige Musikszene: „Das Publikum kommt nicht wegen der Party, sondern weil es Musik hören möchte“, so Marc Hauser.

Die lokalen und nationalen Gruppen werden von einer Vorgruppe nun zwangsläufig selbst zum Headliner des Abends – und das auf der Bühne, live, vor Publikum. Und diese Erfahrung wird kein noch so gutes, digitales Alternativkonzept jemals ersetzen, darin sind sich alle einig.