Der vom Kulturministerium vorgelegte Deontologiekodex soll ein wichtiges Instrument gegen Intransparenz, Ungleichheiten und Interessenkonflikte werden. Die Methode sagt jedoch viel über das Selbstverständnis der Kunst- und Kulturschaffenden aus. Ein Kommentar.
„Die kulturelle Einrichtung akzeptiert keine staatlichen Eingriffe in ihre künstlerischen Entscheidungen oder den künstlerischen Inhalt ihrer Projekte. Sie bleibt unabhängig. Keine finanzielle Unterstützung des Kulturministeriums kann ihre Meinungsfreiheit untergraben.“
Diese Sätze entsprechen den Grundsätzen einer staatlichen Kunst- und Kulturförderung, die sich aus einem der Kunstfreiheit verpflichteten Demokratieverständnis ableiten. Der Staat unterstützt Kunst, in erster Linie finanziell, greift aber nicht in ihre Unabhängigkeit und Freiheit ein. Kunstfreiheit ist in demokratischen Rechtsstaaten geschützt.
Doch diese Sätze stehen nicht etwa in der Verfassung. Dort wird Kunstfreiheit bis heute nicht explizit genannt, sondern fällt lediglich unter die Meinungsfreiheit. Die Sätze finden sich in einem Deontologiekodex, den das Kulturministerium ausgearbeitet hat und der für alle Einrichtungen, die staatliche Finanzhilfen beziehen, bindend sein soll. Das ist in mehreren Hinsichten problematisch.
Neben den Grenzen seiner Umsetzbarkeit, über die Reporter.lu vergangene Woche berichtete, stellt sich vor allem die grundsätzliche Frage nach der Legitimität. Und damit zwangsläufig auch nach der Glaubwürdigkeit der in der Charta festgelegten Prinzipien, wie künstlerische Unabhängigkeit oder gerechte Arbeitsbedingungen.
Das Ministerium: eine moralische Instanz?
Das Kulturministerium ist keine, von Interessenkonflikten und Machtzwängen losgelöste, neutrale Instanz. Es ist immer Teil einer Regierung, Instrument einer politischen Richtung und Kind seiner Zeit.
Mutet es da nicht vermessen an, dass sich das Kulturministerium mit einem Deontologiekodex als moralische Instanz positioniert? Steht moralische Überfrachtung oder auch moralische Selbstherrlichkeit nicht der Kunstfreiheit im Weg? Und vor allem: Greift der Staat nicht bereits in die Kunstfreiheit ein, indem er alle Akteure, die staatliche Finanzhilfen bekommen, zu einem gemeinsamen Wertekanon samt Verhaltensregeln verpflichtet? Diese Fragen müssten zumindest die freie Szene, die Vereine, privaten Theater und Künstlerkollektive umtreiben.
Es mag noch legitim erscheinen, dass der Staat für Einrichtungen, wie die staatlichen Kulturinstitute und die so genannten „établissements publics“, allgemeingültige Regeln aufstellt. Als staatliche Einrichtungen stehen sie im Dienst der Öffentlichkeit. Sie haben einen Auftrag zu erfüllen, der sowieso bereits durch klare Gesetze geregelt ist. Große Leitlinien, auch die der programmatischen Ausrichtung, müssen vor ihrer Umsetzung ohnehin vom Staat gebilligt werden.

Die Charta ist für staatliche Einrichtungen deshalb grundsätzlich nicht mehr als eine Bestätigung ihrer Existenzgrundlage. Dennoch spricht es nicht gerade für die Unabhängigkeit und das Selbstverständnis der Einrichtungen und ihrer Interessenverbände, dass sie nicht selbst in der Lage waren, eine gemeinsame Charta aufzustellen. Statt selbst die Richtung vorzugeben, lassen auch sie sich lieber an die Hand nehmen.
Staatliche Kulturhäuser versus freie Szene
Die Position der freien Szene allerdings – der Vereine, der privaten Theater, der Künstlerkollektive – sollte eine völlig andere sein. Bei der Verordnung eines allgemeingültigen Regelwerkes müsste eigentlich ein Aufschrei gegen politische Bevormundung durch die Szene gehen. Schon allein durch ihre Heterogenität ist die freie Szene nicht einheitlich zu reglementieren. Vor allem aber hat sie keinen staatlichen Auftrag zu erfüllen. Ihre Existenzgrundlage liegt gerade darin, frei zu sein. Dazu gehört es, Allgemeingültigkeiten, Werte und Regeln immer wieder aufs Neue zu hinterfragen, Grenzen auszuloten und im Zuge dessen auch regelmäßig zu überschreiten.
Eine dem Begriff würdige Streitkultur gibt es auch in der Kulturszene höchstens in Ansätzen.“
Die freie Szene lebt von bewusster Abgrenzung. Dadurch bildet sie ein Gegengewicht zu den Institutionen des staatlich gelenkten Kunst- und Kulturbetriebs. Darin – sollte man ihr denn überhaupt eine geben wollen – liegt ihre Aufgabe. Und es ist diese Freiheit allein, die sie auch öffentlich förderungswürdig macht.
Der Grundsatz der Freiheit
Seit Künste autonom sind, stehen sie im Konflikt mit der Gesellschaft. Mit dem Publikum ebenso wie mit dem Staat. Zu Recht weisen Künstler die überwiegend von rechten Parteien vorgebrachten Forderungen nach einer identitätsstiftenden Aufgabe der Kunst immer wieder vehement zurück. Die Kunst darf nicht in den Dienst engstirniger Volkstümlichkeit gestellt werden. Sie darf aber auch nicht im Namen von Emanzipation oder eines vermeintlichen Fortschritts instrumentalisiert werden.
Die Position der freien Szene wächst aus diesem Freiheits- und Unabhängigkeitsanspruch. Denn je stärker die freie Szene ist und je lauter man sie hört, desto freier ist auch die Gesellschaft, aus der sie schöpft.
Dass auch in der freien Szene faire Arbeitsbedingungen herrschen müssten, versteht sich von selbst. Sie sollten eigentlich durch das Arbeitsrecht und die soziale Absicherung der Kunst- und Kulturschaffenden gewährleistet sein. Sonst gilt jedoch der Grundsatz der Freiheit.
Die Schwächen der freien Szene
Dass das Kulturministerium auch ihnen nun einen Deontologiekodex vorlegt, offenbart die Schwächen der freien Szene. Die Pandemie hat die Prekarität im Sektor verstärkt zu Tage gebracht. Im Kontext der seit Jahren geführten Professionalisierungsdebatten wäre es deshalb durchaus begrüßenswert, wenn sich auch die freie Szene auf grundlegende Werte und gewisse Mindeststandards einigen könnte. Stattdessen arbeitet das Ministerium die Charta aus. Das zeugt von der Unfreiheit und der Abhängigkeit der freien Kunst- und Kulturschaffenden.
Dieses Versäumnis ist nicht nur der Heterogenität der Szene geschuldet. Es ist auch Ausdruck einer vorherrschenden Unfähigkeit, Einzelinteressen zurückzustellen. Selbst in den Interessenverbänden, wie etwa in der Theaterföderation, liegen diese Einzelinteressen nicht selten diametral entgegengesetzt und dominieren die Diskussionen.
Selbstverschuldete Unmündigkeit
Hinzu kommt, dass in der Szene zwar gerne und viel geschimpft wird, allerdings hinter vorgehaltener Hand. Eine dem Begriff würdige Streitkultur gibt es auch in der Kulturszene höchstens in Ansätzen. Eine selbst ausgearbeitete Charta, ein über Einzelinteressen stehendes Grundsatzpapier, hätte nicht nur den Umgang innerhalb der Szene verbessern, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft stärken können. Die besonders in der freien Szene gerne proklamierte Unabhängigkeit hätte ein Gesicht bekommen.
Doch statt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und auch unterschiedliche Positionen auszuhalten, muss die freie Szene sich nun damit begnügen, das Vorgelegte zu kommentieren. Immanuel Kant hätte in diesem Zusammenhang wohl von selbstverschuldeter Unmündigkeit gesprochen. Und so geht es letztendlich nicht nur um die Freiheit der Kunst, sondern vor allem um die Kunst, frei zu sein.
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