Luxemburg erlebt einen neuen Coronavirus-Ausbruch. Die zweite Welle von Infektionen könnte die erste übertreffen. Die Prognosen sind düster, aber die Regierung wartet ab. Der Grund: Der Politik fehlen Daten, Szenarien und damit eine Strategie. Die Zahl der Tests ist dabei nebensächlich.
„Es ist klar, dass die Infektionszahlen steigen, aber ob es ein mini-kleines Wellchen oder eine große Welle wird, das wissen wir nicht im Voraus“, meinte Paulette Lenert noch vieldeutig am Mittwoch auf dem Pressebriefing. Einen Tag später stellte die Gesundheitsministerin im Interview mit RTL dann klar: „Für mich handelt es sich um eine zweite Welle.“ Der Sinneswandel dürfte auch daran liegen, dass die Behörden am Donnerstag die Zahl von 163 Neuinfektionen veröffentlichten.
Die Experten sind sich ebenso sicher: „Die zweite Infektionswelle ist eine Realität“, schrieb der Direktor der „Santé“ und damit der Chefbeamte der Ministerin, Jean-Claude Schmit bereits am Mittwoch in einem Rundschreiben an die Ärzte des Landes. Diese Einschätzung deckt sich mit jener der Taskforce von „Research Luxembourg“: „Der Kurvenverlauf entspricht einem exponentiellen Anwachsen, das man zum Beginn einer zweiten Welle erwarten kann.“
Bereits die 100 positiven Tests am Montag ließen offenbar innerhalb der Regierung die Alarmglocken läuten. Die Nachverfolgung der Kontakte von infizierten Personen war bereits vergangene Woche „extrem in Bedrängnis geraten“, so die Gesundheitsministerin.
300 tägliche Neuinfektionen vorausgesagt
Dabei sind die steigenden Covid-19-Fälle eine Sache. Grund zur Sorge sind aber auch die düsteren Prognosen von „Research Luxembourg“, die die Forscher der Regierung Mitte der Woche vorstellten: Die Zahl der Neuinfektionen pro Tag könnte sich innerhalb einer Woche verdoppeln. Konkret sieht ihr Modell über 300 tägliche positive Tests für Ende Juli voraus. Das wäre eine dramatische Entwicklung. Der Höhepunkt der ersten Welle lag am 26. März bei 263 positiv getesteten Personen.
Die Infektionen [machen sich] schon in der Gesamtbevölkerung bemerkbar.“Research Luxembourg
„Das sind aber nur Projektionen“, relativierte Ministerin Paulette Lenert noch am Mittwoch. Bis Ende der Woche sollen die Modelle von „Research Luxembourg“ noch verfeinert werden. Am Sonntag soll dann das Kabinett auf dieser Grundlage neue Entscheidungen treffen. Das Ziel lautet, einen zweiten Lockdown „soweit wie möglich“ zu vermeiden, betonte der „Santé“-Direktor in seinem Schreiben an die Ärzte.
Problematisch ist dabei aber, dass diese zweite Welle nicht vereinzelt in sogenannten Clustern auftritt. „Die Infektionen [machen sich] schon in der Gesamtbevölkerung bemerkbar“, so die Analyse von „Research Luxembourg“. Das zeige die Auswertung der Fälle aus dem „Large Scale Testing“, die zwar weniger, aber eine ähnlich schnelle Zunahme von Infektionen zeige wie die von Ärzten angeordneten Tests. Auch die geografische Aufteilung der Infektionen pro Kanton zeigt, dass es um ein landesweites Problem geht.
Verbreitung in allen Altersgruppen
„Es gibt keine spezifischen Cluster“, erklärte auch Paulette Lenert am Mittwoch. Die meisten Fälle würden im privaten Bereich auftreten. Auch in mehreren Unternehmen gab es jeweils mehr als fünf Fälle. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es keinen eindämmbaren Einzelfall wie etwa die Fleischfabrik Tönnies im deutschen Landkreis Gütersloh gibt.
Wie konnte sich das Virus ab Mitte Juni so schnell wieder in Luxemburg ausbreiten? Klar ist laut den offiziell verkündeten Zahlen, dass der neue Ausbruch sich zuerst bei den jungen Menschen bemerkbar machte. Das Gesundheitsministerium startete daraufhin eine Kampagne mit dem Titel „Stop the Party“. Das Virus hat sich allerdings mittlerweile weiter ausgebreitet.
Es bleibt unser höchstes Ziel, unser Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen.“Premierminister Xavier Bettel
Vom 17. bis zum 29. Juni kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Infektionen bei jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren. Erst nach diesem kontinuierlichen Anstieg machte das Ministerium allerdings auf das Problem aufmerksam. Mit Ausnahme der über 60-Jährigen haben die Infektionen seitdem in allen Altersgruppen zugenommen. Es ist ein Indiz dafür, dass jüngere Menschen das Virus weiter verbreiten, also etwa in die Haushalte und Schulen getragen haben. Die behördliche Warnung davor kam aber zu spät.
„Unser Gesundheitssystem schützen“
Die zweite Welle ist damit deutlich jünger als die erste. Doch der rasante Anstieg in allen Altersgruppen veranschaulicht, wie schnell sich die Lage verändern kann. Heute haben es die Behörden mit einem Szenario zu tun, das eigentlich durch die Maskenpflicht und das „Large Scale Testing“ verhindert werden sollte.
Die Frage ist aber, an wen und wo diese eher jungen Personen das Virus weitergegeben haben – unter Freunden, im Haushalt, auf der Arbeit? Weitere Analysen sollen bis zum Wochenende weitere Antworten liefern, so die Gesundheitsministerin. Davon hängt auch ab, wie sich die Lage in den Krankenhäusern entwickeln wird. Sind es eher die jungen Freunde, die Großeltern oder die Eltern, die sich angesteckt haben? Im letzteren Fall steigt die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs.
Für mich ist das politisch-juristische Durcheinander schuld daran, dass die Menschen den Empfehlungen nicht folgten.“Claude Wiseler, CSV
„Es bleibt unser höchstes Ziel, unser Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen“, betonte Premierminister Xavier Bettel beim Pressebriefing am Mittwoch. Doch es fehlen immer noch entscheidende Informationen über den tatsächlichen Ernst der Lage. Das Ministerium hofft nun, dass die jungen Infizierten nicht in den Krankenhäusern behandelt werden müssen.
Fehlende Vorbereitung
Vor zwei Wochen verkündete Paulette Lenert noch, dass man die Zahlen im Auge behalten müsse: „Wenn sich die Tendenz bestätigt, dann haben wir ein Problem, das kann man nicht verneinen.“ Trotz des nun bestehenden „Problem“ kündigte die Regierung aber immer noch keine neuen Maßnahmen an. Offenbar war man noch nicht auf ein solches Szenario vorbereitet.
Obwohl erst am Donnerstag vom Parlament beschlossen, droht die zweite Auflage des Covid-Gesetzes bereits überholt zu sein, bevor es überhaupt in Kraft tritt. An die aktuellen hohen Infektionszahlen hat es die Regierung jedenfalls nicht angepasst. Damit gehen jetzt voraussichtlich wertvolle Tage verloren.

Die Opposition beschwerte sich verstärkt, dass sie von der Exekutive im Dunkeln gelassen werde. CSV, Déi Lénk und ADR forderten mehr Informationen und eine transparentere Politik der Regierung. Es gebe aber keine neuen Informationen, lautet die Replik der Gesundheitsministerin. Sie gebe alles weiter, was ihr an Daten vorliege. Zudem würden alle bekannten Daten transparent auf der Webseite der Regierung veröffentlicht und ständig aktualisiert.
„Für mich ist das politisch-juristische Durcheinander schuld daran, dass die Menschen den Empfehlungen nicht folgten“, kritisierte der CSV-Abgeordnete Claude Wiseler am Donnerstag. Das Parlament habe in den vergangenen zwei Wochen „extrem schnell“ an den vorliegenden Gesetzen gearbeitet. Das helfe jedoch wenig, wenn die Regierung angesichts der ernsteren Lage keine neuen Vorgaben zur Eindämmung der sanitären Krise mitteile.
Vor der Abstimmung über das neue Covid-Gesetz entwickelte sich im Parlament ein hitziger Schlagabtausch zwischen der Ministerin und Abgeordneten der Opposition. Am Ende wurde das Gesetz mit Koalitionsmehrheit gegen die Stimmen von CSV und ADR, bei Enthaltungen von Piraten und Déi Lénk, angenommen.
„Large scale testing“ wirkte zu spät
Während der Gesetzgeber in den kommenden Tagen noch einmal gefordert sein dürfte, gibt es beim Umgang mit den Statistiken bereits eine Neuerung: Die Regierung rechnet nun die Grenzgänger aus den Zahlen der positiven Tests heraus. Damit soll der Vergleich mit anderen Ländern aussagekräftiger werden. Knapp ein Fünftel der neuen Fallzahlen betreffen Personen, die nicht in Luxemburg wohnen, aber hier getestet wurden.
Das großflächige Testen soll ebenfalls erklären, warum Luxemburg so hohe Fallzahlen im Vergleich zu anderen Ländern hat. Mit diesem Argument will die Regierung die Einstufung Luxemburgs als Risikogebiet durch mehrere europäische Staaten rückgängig machen. Andere Länder hätten eine hohe Dunkelziffer und würden deshalb in den Zahlen gut dastehen, so die bisherige Argumentation der Regierung.
Dabei ist Frage eher, wie die Lage trotz des „Large Scale Testing“ außer Kontrolle geraten konnte. Die Antwort der Wissenschaftler von „Research Luxembourg“ ist in diesem Punkt nüchtern: Erst ab dem 2. Juli erfüllte das „Large Scale Testing“ seinen Zweck und half Infektionsketten früh zu entdecken und damit zu stoppen. Die tatsächliche Wirkung wird sich erst in den kommenden zwei Wochen zeigen, so ihre Prognose. Das großflächige Testen macht momentan zwei Drittel aller Tests, aber nur 15 Prozent aller positiven Tests aus.
Um die zweite Welle ab Mitte Juni zu verhindern, war die Teilnahme zu Beginn der Testkampagne zu gering, schreiben die Forscher. Was sie nicht schreiben: Die gesamte Strategie war schlecht geplant, unter anderem weil die nötige Kommunikation zu Beginn völlig fehlte. Eine Teilnahmerate von unter 20 Prozent in den ersten Juni-Wochen war die Folge.
Aktuell sind die Testzentren des „Large Scale Testing“ weitgehend ausgelastet. Das führt allerdings dazu, dass zusammen mit den steigenden Fallzahlen durch die „normalen“ Tests die privaten Labors am Limit ihrer Kapazität sind. Der „Santé“-Direktor betonte in seinem Rundschreiben, dass Tests für Urlaubswillige nicht dazu führen dürften, dass konkrete Verdachtsfälle zu lange auf ihr Testergebnis warten müssten.
Negativer Trend in den Krankenhäusern
Die Missverständnisse angesichts der hohen Testzahlen könnten allerdings vermieden werden, indem die Behörden nicht nur vor einer Überlastung der Krankenhäuser warnen, sondern diese auch als Hauptindikator wahrnehmen. Bereits zu Beginn der Corona-Krise warnten Epidemiologen vor einem leichtfertigen Umgang mit den täglichen Fallzahlen.
Die Zahl an Todesfällen oder Krankenhauseinweisungen können leichter mit Daten aus dem Ausland verglichen werden, sagte auch Joël Mossong vom „Laboratoire national de santé“ vor einigen Wochen. Allerdings treten Komplikationen meist erst nach ein bis zwei Wochen auf, die Belastung der Krankenhäuser zeigt sich also erst später.
Bereits jetzt wirken sich die neuen Fälle auf die Situation in den Krankenhäusern aus. Innerhalb von drei Wochen ist die Belastung der Krankenhäuser von zehn Patienten auf 38 angestiegen. Damit ist man zwar noch weit von den 200 Fällen entfernt, die Anfang April behandelt werden mussten. Der Trend ist aber klar steigend. Details zu dem Altersprofil der Patienten und der Schwere ihrer Erkrankung konnte die Gesundheitsministerin allerdings nicht geben.
In Israel ist zu Beginn der zweiten Welle die Belegung der Krankenhausbetten von 105 aus 209 in drei Wochen gestiegen. Das war die Folge von etwa 3.800 neuen Fällen – ebenfalls vor allem junge Menschen. In Luxemburg sind es im Vergleich fast 1.000 neue Fälle. Fast drei Prozent aller neuen Infektionen führten also in beiden Staaten zu einer Krankenhauseinweisung. Der Trend ist also identisch, obwohl Luxemburg weitaus mehr testet.