Der zweite Corona-Winter steht bevor. Quer durch Europa steigen die Inzidenzen. Vielerorts werden die Schutzmaßnahmen wieder verschärft. Auch in Luxemburg rückt der Tag, an dem sämtliche Covid-Regeln fallen gelassen werden können, in weite Ferne.
Es wirkt wie eine Nachricht aus dem vergangenen Herbst. Das „Centre Hospitalier de Luxembourg“ (CHL) bereitet sich vor, geplante Operationen wieder abzusagen und zu vertagen, sagte CHL-Generaldirektor Romain Nati vor einer Woche gegenüber „Radio 100,7“. „Es fängt wieder von vorne an“, meinte auch die Pressesprecherin des „Centre Hospitalier du Nord“ (CHdN), Anja Di Bartolomeo, im „Tageblatt“. Bereits vor knapp einem Jahr mussten die Krankenhäuser ihren Betrieb einschränken. Am 17. November 2020 wurde der bisherige Höhepunkt der Pandemie erreicht: 247 Patienten mussten im Krankenhaus behandelt werden, davon 48 auf der Intensivstation.
Die Aussagen der Verantwortlichen sind denn auch überraschend, sollte doch die Impfung dafür sorgen, dass eine erneute Überlastung der Krankenhäuser verhindert werden kann. Für das Gesundheitsministerium gilt die Bettbelegung in den Krankenhäusern weiterhin als Hauptindikator für das politische Handeln. Steigt also die Belegung, muss die Regierung ihren Ansatz möglicherweise überdenken.
Wie ist es also möglich, dass nach mehr als einem Jahr Pandemie und einer Impfkampagne die Krankenhäuser erneut zur Vorsicht mahnen?
Die übliche Erklärung, die Impfquote sei weiterhin zu niedrig, reicht nicht aus, um die neue Infektionswelle in Europa zu erklären. Die Beispiele aus dem Ausland zeigen zwar, dass eine hohe Impfquote durchaus hilfreich, aber nicht allein entscheidend ist. Eine erneute Infektionswelle im Winter ist indes kaum noch aufzuhalten. Die generellen Lehren aus der andauernden Pandemie zeigen: Neue Einschränkungen des sozialen Lebens lassen sich nach wie vor nicht ausschließen.
Schlechte Vorzeichen im Ausland
Seit Mitte August steigen die Zahlen der Neuinfektionen, wenn auch langsamer als vor einem Jahr. Anfang November 2020 schoss innerhalb von drei Wochen die Sieben-Tage-Inzidenz von 177 auf 748 Neuinfektionen. Heute liegt der Wert bei 261. Noch vor zwei Tagen lag er knapp unter 200. Auch in den Krankenhäusern ist die Lage kontrollierbarer als im vergangenen Jahr. Zurzeit werden 41 Personen stationär behandelt, davon 15 auf der Intensivstation. Die Ausgangslage für die kommenden Monate ist demnach besser als zuvor und als in vielen Nachbarstaaten.
Deutschland verzeichnet seit Donnerstag vergangener Woche täglich einen neuen Höchstwert an Neuinfektionen. In Bayern gilt deshalb die 2G-Regel für verschiedene Freizeitaktivitäten. Ein Veranstaltungsbesuch ist so nur für Geimpfte und Genesene erlaubt. Ob dies jedoch ausreicht, um die Kurve wieder abzuflachen, ist umstritten. „Ich sehe keine Garantie darin, dass dies wirklich dazu führt, dass die Inzidenz durchbrochen wird“, sagte etwa Christian Drosten am Dienstag im „NDR-Podcast“. Vielmehr müsse sich das Verhalten der Menschen wieder ändern. Die Lage sei „sehr ernst“, so der deutsche Virologe.
In Österreich wurde das 2G-Prinzip bereits generell ausgeweitet. Wegen der steigenden Infektionen gilt auch in 39 von 101 Departements in Frankreich wieder die Maskenpflicht in den Schulen. In Belgien gelten zurzeit ähnliche Regeln wie in Luxemburg. Demnach ist ein Nachweis für einen negativen Test, eine Impfung oder eine überstandene Infektion für die meisten Veranstaltungen erforderlich. Die Entwicklungen in den Nachbarstaaten könnten ein Vorzeichen dafür sein, was dem Großherzogtum in den kommenden Wochen droht.
Eine „üble“ Impfquote
Derzeit sind knapp zwei Drittel der Bevölkerung vollständig geimpft. Lange galt eine Quote von 70 Prozent als erstrebenswert, demnach fehlen nur noch wenige Prozentpunkte bis zu diesem ursprünglichen Ziel. Dann kam die Delta-Variante. Ende September äußerte sich der Virologe Christian Drosten wie folgt über die damalige Impfquote in Deutschland von rund 64 Prozent: „Die Zahlen sehen übel aus.“
Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, stehen oft im Kontakt zu anderen Menschen mit der gleichen Einstellung, dort kann das Virus sich ungehindert verbreiten.“Claude Muller, Virologe
Laut dem Experten sollte das Ziel angesichts der Delta-Variante sein, dass 85 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Zumindest in der Theorie könnte diese Quote bei den Erstimpfungen innerhalb von zwei Wochen in Luxemburg erreicht werden. Zum Höhepunkt der Impfkampagne Ende Juni konnten pro Tag etwa 10.000 Erstimpfungen verabreicht werden. Den vollen Impfschutz hätten diese Menschen jedoch erst Ende Dezember. Da der Impfstoff weiterhin nicht offiziell für Kinder unter zwölf Jahren freigegeben ist, ist eine 100-prozentige Impfquote jedoch kaum erreichbar. Demnach müssten fast ausnahmslos alle Erwachsene sich impfen lassen, um dieses Ziel zu erreichen.
So bleibt das Potenzial für Neuinfektionen derzeit noch groß. „Ich rechne damit, dass die Infektionszahlen weiter steigen, aber es wird nicht mehr exponentiell sein“, sagte etwa der Direktor der „Santé“, Jean-Claude Schmit, im Gespräch mit „Radio 100,7“. Von einem weiteren Anstieg geht auch Claude Muller aus. „Dabei werden vor allem Nicht-Geimpfte eine Rolle spielen“, so der Virologe im Gespräch mit Reporter.lu.
Das Konzept einer Herdenimmunität, wonach Nichtgeimpfte geschützt sind, weil sie von Geimpften umgeben sind, greift in diesem Fall nämlich nicht. „Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, stehen oft im Kontakt zu anderen Menschen mit der gleichen Einstellung, dort kann das Virus sich ungehindert verbreiten“, so die Einschätzung von Claude Muller. Zudem erkranken Geimpfte zwar eher selten schwer, doch sie können weiterhin zur Virusübertragung beitragen.
Auf die Älteren kommt es an
Dem Virus ausweichen, ist jedenfalls nach wie vor keine realistische Alternative. „Diejenigen, die sich aktiv gegen die Impfung entscheiden, die müssen wissen, dass sie sich damit auch aktiv für die natürliche Infektion entscheiden“, sagte Christian Drosten Ende Mai im „NDR-Podcast“. Dabei sind steigende Neuinfektionen nicht zwingend ein Problem. „Ich erwarte, dass die Situation in den Krankenhäusern vom letzten Jahr sich nicht wiederholt“, sagt Claude Muller.
Die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhausaufenthalts steigt jedoch immer noch mit dem Alter. Zurzeit sind lediglich 13,9 Prozent der Infizierten mehr als 60 Jahre alt, vor einem Jahr betrug dieser Wert noch fast 20 Prozent. Da vor allem ältere Mitmenschen sich für eine Impfung entschlossen haben, müsste demnach auch der Druck auf die Krankenhäuser abnehmen.
Wenn eine Person von rund 420.000 Geimpften und neun von rund 100.000 ungeimpften Über-Zwölfjährigen auf der Intensivstation landen, ergibt sich ein Impfschutz von 97,5 Prozent.“Claude Muller, Virologe
Jedoch müssen dafür zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen darf der Impfschutz nicht abnehmen und zum anderen dürfen die Neuinfektionen nicht komplett ausarten. Dass der Schutz vor einem schweren Verlauf für immunschwache und ältere Menschen abnimmt, ist bekannt. Seit einem Monat erhalten diese Gruppen deshalb eine dritte Impfung. „Laut einer israelischen Studie ist durch diese zusätzliche Dosis die Wahrscheinlichkeit 20-mal geringer, von einem schweren Verlauf der Erkrankung betroffen zu sein“, sagt Claude Muller. Zurzeit haben knapp 32.000 Menschen sich für eine dritte Dosis entschieden. Zudem rechnet der Virologe damit, dass dieser Schutz vor einem schweren Verlauf mindestens zwei, wenn nicht gar fünf Jahre anhalten könnte.
Dennoch kann eine Impfung keinen vollständigen Schutz bieten. Laut dem vorletzten Wochenbericht des Gesundheitsministeriums waren im Zeitraum vom 25. bis zum 31. Oktober von zehn Personen, die auf der Intensivstation behandelt werden müssen, neun nicht vollständig geimpft. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Selbst durchgeimpfte Personen können, wenn auch weitaus weniger wahrscheinlich, Schaden durch das Virus erleiden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Impfstoff nicht wirkt. Im Gegenteil: „Wenn eine Person von rund 420.000 Geimpften und neun von rund 100.000 ungeimpften Über-Zwölfjährigen auf der Intensivstation landen, ergibt sich ein Impfschutz von 97,5 Prozent“, sagt Claude Muller.
Eine Frage der Kommunikation
Die zweite Bedingung, damit die Krankenhäuser nicht überlastet werden, ist jedoch schwieriger zu erreichen. Sie hängt maßgeblich vom Verhalten der Bevölkerung ab. In Dänemark konnte die Bevölkerung etwa leichter von der Impfung überzeugt werden, weil das Vertrauen in die Regierung dort besonders groß ist. Das Vertrauen wurde der dänischen Regierung wohl auch deswegen entgegengebracht, weil sie transparent aufklärte. Somit konnte Dänemark eine der höchsten Impfquoten erzielen. Mehr als 95 Prozent aller Über-50-Jährigen ließen sich impfen.
„Uns trennen noch immer 15 Prozentpunkte“, sagte Paulette Lenert (LSAP) bezüglich der Impfquote von Dänemark im Interview mit „RTL“. Laut dem Gesundheitsministerium beträgt die Impfquote bei den 50- bis 55-Jährigen derzeit 80,6 Prozent. Sie steigt auf bis zu 88,6 Prozent für die Über-80-Jährigen. Die Zahlen sind also immer noch zu niedrig, um eine komplette Entwarnung zu geben.
Unser Zickzackkurs ist eigentlich immer durch neue Erkenntnisse bedingt. Man versucht dies zu erklären, so gut es geht, aber eine Pandemie bleibt etwas sehr Komplexes.“Gesundheitsministerin Paulette Lenert
In Luxemburg hatte die Regierung reichlich Schwierigkeiten mit dem Ideal einer klaren Kommunikation. „Unser Zickzackkurs ist eigentlich immer durch neue Erkenntnisse bedingt. Man versucht dies zu erklären, so gut es geht, aber eine Pandemie bleibt etwas sehr Komplexes“, sagte die Gesundheitsministerin. Anders als in Deutschland etwa war die Aufklärung über die Faktenlage zur Pandemie lange eine Sache der Politik. „Wenn es um wissenschaftliche Fakten geht, hätte ich es bevorzugt, wenn dies auch von Wissenschaftlern kommuniziert wird“, sagte der Infektiologe Gérard Schockmel kürzlich bei „RTL“. Die Kommunikation der wichtigen Fakten durch die Regierung sei nicht klar und überzeugend genug gewesen, kritisierte der Experte.
Es ist aber wohl nur einer der Gründe, warum die hiesige Impfquote nicht mit Dänemark vergleichbar ist. Dort reichte die hohe Quote, um die bestehenden Restriktionen aufzuheben. Zwei Monate lang galt dort das Prinzip der Eigenverantwortung. Jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Trotz der vergleichbar guten Impfbereitschaft steigen Infektionen und Krankenhausaufenthalte erneut an. Zurzeit liegt die Inzidenz etwa bei 300 und 350 Personen müssen stationär behandelt werden. Zuletzt war dies vor einem Jahr im Dezember der Fall, als kurz danach beide Zahlen rasant anstiegen.
Bei sehr hohen Infektionszahlen können demnach auch eher unwahrscheinliche Szenarien wie Impfdurchbrüche und stationäre Behandlungen von jungen Menschen zu einer Belastung des Gesundheitswesens führen. Um den entgegenzuwirken, ist Dänemark nun wieder einen Schritt zurück gegangen und führte die 3G-Regel wieder ein. Der „Freedom Day“, also der Tag an dem alle Maßnahmen zurückgezogen wurden, ist also gescheitert. Eigentlich war der Anspruch, nicht erneut auf Einschränkungen setzen zu müssen. Auch in Großbritannien gelten seit Mitte Juni keine Maßnahmen mehr. Allerdings waren die vorherigen Wellen bereits verheerend, wodurch ein Großteil der Bevölkerung Antikörper gegen das Virus erzeugt hat. Trotzdem steigen seitdem auch dort kontinuierlich die Todeszahlen. Im Schnitt sterben im Vereinigten Königreich täglich 170 Menschen an Covid.
Ein bereits belastetes System
In Luxemburg machen indes nicht nur die Covid-Patienten den Krankenhäusern zu schaffen. „In der Regel sind die 18 Betten auch außerhalb von Corona-Zeiten größtenteils besetzt“, sagte kürzlich der Intensivmediziner des CHL, Jean Reuter, im Gespräch mit dem „Lëtzebuerger Land“. Das liege jedoch nicht an den sonstigen Erkältungs- oder Grippeviren. Vor Covid habe man im CHL nie mehr als zwei Grippepatienten gleichzeitig behandeln müssen. Allerdings seien im Winter auch mehr Operationen geplant als im Sommer. Genau diese Eingriffe müssen notfalls wieder verschoben werden. „Wenn wir den Normalbetrieb aufrechterhalten wollen, sind wir wirklich schon am Limit“, sagte auch Anja Di Bartolomeo vom CHdN.
Wenn die Belegung in den Krankenhäusern wieder zunimmt, muss man natürlich erneut über weitere Maßnahmen nachdenken.“Jean-Claude Schmit, Direktor der „Santé“
Demnach sind auch erneute Restriktionen nicht ausgeschlossen. „Wenn die Belegung in den Krankenhäusern wieder zunimmt, muss man natürlich erneut über weitere Maßnahmen nachdenken“, sagte „Santé“-Direktor Jean-Claude Schmit. Vor einem Jahr reagierte die Regierung zaghaft auf die bisher größte Infektionswelle. Mit einer Ausgangsperre und einer Begrenzung auf vier Menschen pro Tisch im Restaurant sollte das Infektionsgeschehen aufgehalten werden. Erst Ende November 2020 wurde der Gastronomiebetrieb geschlossen.
Ob erneut weitere Maßnahmen benötigt werden, ist heute zwar noch schwer zu sagen. Klar ist jedoch, dass aus einem „Freedom-Day“ zumindest bis zum Ende des Winters nichts werden wird. „Es ist schwer zu spekulieren, aber ich sehe nicht, dass wir zurzeit Maßnahmen weglassen könnten“, so Jean-Claude Schmit.
Auch Paulette Lenert will sich nur zaghaft zu der Frage äußern. Die Restriktionen können „wahrscheinlich weniger früh, als ich es mir gewünscht und erhofft habe“, fallen gelassen werden, so die Gesundheitsministerin im Interview mit „RTL“ am vergangenen Wochenende. Auch hier hätte wohl eine transparentere Kommunikation nicht geschadet, um bereits früher auf die weiterhin kritische Lage aufmerksam zu machen und keine falsche Hoffnungen zu schüren.


