Fehlende Notfallpläne, Personal- und Materialreserven: Die andauernde sanitäre Krise zeigt auf, wo die Schwachstellen des Luxemburger Gesundheitssystems liegen. Die meisten Probleme sind längst bekannt, wurden von der Politik aber lange stiefmütterlich behandelt.

„Diese Pandemie kam nicht ganz unerwartet“, sagt Marie-Lise Lair. Die Weltgesundheitsorganisation und Forscher hätten seit Jahren vor möglichen Epidemien gewarnt. „Solche Phänomene gab es in der Geschichte in unregelmäßigen Abständen immer wieder“, so die Beraterin für Gesundheitspolitik. Die meisten Staaten hätten in den vergangenen Jahren aber die Möglichkeit verpasst, sich auf eine mögliche sanitäre Krise vorzubereiten.

Ohne große Vorbereitung hat sich auch Luxemburg bisher durch die Coronavirus-Pandemie geschlagen. Die Krankenhäuser waren nicht überlastet, Material wurde aufgestockt, Covid-19-Tests massenweise für die Bevölkerung gekauft. „Im Nachhinein weiß man immer, was man hätte besser machen können“, so Mars Di Bartolomeo (LSAP), Präsident der Gesundheitskommission im Parlament und früherer Ressortminister (2004-2013). „Ich denke aber, dass man es nicht besser hätte machen können.“

Und dennoch: Das Krisenmanagement war vor allem improvisiert. „Wir spielen auf Zeit“, hat Gesundheitsministerin Paulette Lenert immer wieder betont. Dabei hat Luxemburg seit 2006 einen Pandemie-Plan, der sich jedoch schnell als wenig hilfreich für die Bewältigung einer wahrhaftigen Pandemie erwies.

Nicht bis zur nächsten Krise warten

Marie-Lise Lair sieht deshalb dringenden Handlungsbedarf für eine Reform des Luxemburger Gesundheitswesens. Sie schlägt einen überarbeiteten und vor allem besser strukturierten Plan vor. Es müsse eine schlagkräftige „Réserve sanitaire“ aufgebaut werden. Die Struktur und die praktischen Fragen müssten schon vor der nächsten Krise geklärt werden. Das Land brauche eine Reserve an Personal, die im Notfall sofort aktiviert werden kann, sagt die Beraterin für Gesundheitspolitik.

Auch Material müsste in regelmäßigen Abständen aufgestockt und der Bestand überprüft werden. Zu Beginn der Corona-Krise gab die Regierung massenweise Bestellungen auf. Die Sorge war groß, dass das Material nicht ausreichen würde. Und nicht immer kam an, was man bestellte. Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) sprach in einem Interview mit dem „Tageblatt“ von Material, das „Schrott“ war.

Wir müssen die Grundversorgung in Zukunft ausbauen und öffentlich unterstützen.“Mars Di Bartolomeo, ehemaliger Gesundheitsminister

Jean-Marie Halsdorf (CSV) spricht sich deshalb dafür aus, eine größere nationale Reserve anzulegen. Der Gesundheitspolitiker und ehemalige Innenminister kritisiert, dass die Regierung sich nicht schon früher und präventiv um eine Aufstockung kümmerte. „Es muss in Zukunft genug Material für den Fall der Fälle da sein – egal ob Masken, Intensivbetten oder Schutzkleidung.“

Dr. Martine Goergen, medizinische Leiterin im Centre Hospitalier du Luxembourg, sagt im Gespräch mit REPORTER jedoch, dass es nie einen richtigen Mangel an Material gegeben habe. Das bestätigt auch Jean-Claude Schmit aus dem Gesundheitsministerium. „Wir hatten seit 2009 etwa 400.000 FFP2-Masken auf Lager“, sagt der Direktor der Santé. Zusätzliches Material habe man aber trotzdem gebraucht.

Neues Logistikzentrum in Planung

Hinter den Kulissen schmiedet die Regierung aber bereits Pläne für den Bau eines gemeinsamen Logistikzentrums. Die Präsidenten der unterschiedlichen Krankenhäuser würden eine Vereinigung gründen, „die nicht nur eine gemeinsame Logistik, sondern auch ein Pandemie-Militärkrankenhaus verwalten soll“, meldet das „Tageblatt“. Die Initiative sei auf Drängen der Gesundheitsministerin entstanden, heißt es.

In einem gemeinsamen Zentrum könnte künftig zentral Material bestellt, gelagert und verteilt werden. Für Mars di Bartolomeo (LSAP) gibt es dann auch einen „Bedarf an strategischen Reserven“. Es würde Sinn machen, Medikamente, Masken, und Schutzkleidung gemeinsam zu bestellen und zu lagern und zu zentralisieren.

Wir müssen den ambulanten Bereich stärker ausbauen – vor allem in den Regionen. Dann hat man eine größere Flexibilität.“
Jean-Marie Halsdorf, CSV-Abgeordneter

Die Idee eines Militärkrankenhauses sieht er allerdings kritisch: „Sie ist nicht wirklich durchdacht.“ Der Vorschlag sei eher aus der Hüfte geschossen. Das Lazarett müsse man entweder an ein anderes Krankenhaus anbauen oder eine ganz neue Struktur errichten. Der ehemalige Gesundheitsminister plädiert eher dafür, sich weg von großen Strukturen und hin zu einem breiter aufgestellten Netz einer medizinischen Grundversorgung zu bewegen.

„Wir müssen die Grundversorgung in Zukunft ausbauen und öffentlich unterstützen“, sagt Mars Di Bartolomeo. Will heißen: Mehr Hausärzte, mehr Gruppenpraxen, mehr Maisons Médicales – und auch mehr Ausgaben des Staates. Nur so könnte man sicherstellen, dass auch in einer Ausnahmesituation wie in den vergangenen Wochen andere Patienten Zugang zu medizinischer Versorgung behalten.

Weniger zentral, breiter aufgestellt

Seit Jahren diskutieren Ärzte und Politiker darüber, welche Dienste ambulant, und welche in den Krankenhäusern angeboten werden sollen. Die Ärzte fordern eine größere therapeutische Freiheit, die Politik hat ihren Fokus bisher aber vor allem auf den Ausbau der Krankenhaus-Strukturen gelegt.

Jean-Claude Schmit hält daran fest. Die Kliniken seien in der Krise besonders effizient und die Teams gut aufeinander abgestimmt, sagt der Direktor des Gesundheitsamtes. Tatsächlich waren die Krankenhäuser gut auf die Situation vorbereitet – allerdings auch, weil sie hauseigene Katastrophenpläne haben, an denen sie sich orientieren.

Luxemburg ist nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert.“Marie-Lise Lair, Beraterin für Gesundheitspolitik

„Wir müssen den ambulanten Bereich stärker ausbauen – vor allem in den Regionen. Dann hat man eine größere Flexibilität“, meint Jean-Marie Halsdorf. Er kritisiert, dass in dieser Krise die normalen Aktivitäten praktisch brach lagen und sich nur noch um Covid-19-Patienten gekümmert wurde. „Vielleicht müssen wir in Zukunft Krankenhäuser auch anders bauen. Damit sie Krisen-konform sind und sowohl Covid-19-Patienten als auch normale Patienten aufnehmen können“, so der CSV-Politiker.

Ähnlich sieht es sein Abgeordneten-Kollege der LSAP. „Ich bin für eine stärkere Dezentralisierung“, so Mars Di Bartolomeo. In Absprache mit den Krankenhäusern könnten in Zukunft sicherlich verschiedene Tätigkeiten ausgelagert werden. Dabei war es im Jahr 1993 der LSAP-Gesundheitsminister Johny Lahure, der die Liste festlegte, welche Apparate ausschließlich in Krankenhäusern genutzt werden dürfen. Es wurde als sozialistische Maßnahme interpretiert, um das Monopol der Krankenhäuser zu festigen.

Knapp an einer Katastrophe vorbei

Darüber hinaus muss Luxemburg sicherlich auch dringend an seinem generellen Personalbestand im Gesundheitssektor arbeiten. Ein Mangel an Pflegekräften hätte dem Land zu Beginn der Krise zum Verhängnis werden können. Frankreich spielte mit dem Gedanken, Personal, das im Ausland arbeitet, zurück zu beordern. Alleine Frankreich stellt aber 30 Prozent des Luxemburger Pflegepersonals. Insgesamt sind 65 Prozent der Krankenpfleger in Luxemburg Berufspendler – lediglich 35 Prozent sind im Großherzogtum ansässig.

Dass sich daraus ein Problem entwickeln kann, war schon lange vor der akuten sanitären Krise bekannt. „Luxemburg ist nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert“, sagt Marie-Lise Lair. Die Expertin weist seit Jahren darauf hin, dass man die Gesundheitsberufe attraktiver gestalten und mehr Fachkräfte hierzulande ausbilden muss.

Und nicht nur sie. Die Weltgesundheitsorganisation pocht darauf, dass Staaten ihre Abhängigkeit von Pflegepersonal, das im Ausland ausgebildet wurde, bis 2030 um 50 Prozent reduzieren. Wie und ob Luxemburg das überhaupt erreichen will, ist jedoch noch nicht ausgemacht.

Bessere Ausbildung, mehr Fachkräfte

Laut Jean-Claude Schmit will die Regierung mit den Akteuren des Sektors beim sogenannten „Gesondheetsdësch“ besprechen, wie man die medizinischen Berufe künftig attraktiver gestalten kann. Konkrete Pläne scheint das Gremium demnach noch nicht zu haben.

Fest steht aber, dass Pfleger seit Jahren für eine Aufwertung ihres Berufes und eine international anerkannte Ausbildung plädieren. Sprich: Sie fordern einen Bachelor-Studiengang – wie es ihn in den meisten europäischen Ländern längst gibt. Dafür setzt sich auch Marie-Lise Lair ein. „Es bräuchte einen Bac +3“, sagt sie. „Nur mit einer attraktiven Ausbildung lockt der Beruf mehr Leute an.“

Für Medizinstudenten wird ab September an der Universität ein Bachelor-Studium angeboten. Von den Pflegern ist allerdings keine Rede. Manche Politiker hätten das Risiko aber noch nicht erkannt, das Luxemburg drohe, wenn ihm irgendwann die Pfleger ausgehen, meint Marie-Lise Lair. „Meines Erachtens ist das die größte Investition, die man im Gesundheitsbereich tätigen muss.“

Mehr Betten nicht unbedingt die Lösung

In einem Punkt sind sich alle einig: Es fehlt in Luxemburg nicht an Intensivbetten. Auch wenn Gesundheitsminister unterschiedlicher politischer Couleur ihre Anzahl immer wieder nach unten korrigierten. Unter Minister Carlo Wagner (DP) schrumpfte die Zahl von 2.532 Betten (1994) auf 2.282 (2005). Mars Di Bartolomeo (LSAP) verordnete im Jahr 2012 eine „Carte Sanitaire“, die vorsah, dass bis 2020 die Zahl der Akutbetten von 4,4 auf 4,0 Betten pro 1.000 Einwohner reduziert werden soll.

Wenn die Pandemie uns etwas gelehrt hat, dann, dass wir uns bemühen müssen, uns besser aufzustellen. Ansonsten bringen wir uns selbst in Gefahr.“
Marie-Lise Lair, Beraterin für Gesundheitspolitik

Am Gedanken, dass Krankenhäuser nicht so viele Intensivbetten brauchen, hält der ehemalige Minister auch weiterhin fest. „In der Krisensituation waren die Betten nicht überlastet, warum sollten sie es dann in normalen Zeiten sein“, fragt Di Bartolomeo. Heutzutage müssten Krankenhäuser nicht mehr als „Betten-Bunker“ fungieren. Auch weil die Patienten durch die Fortschritte in der Medizin nicht mehr so lange im Krankenhaus bleiben müssten.

Für diese Krise reichte es aus. Luxemburg bestellte Betten, Beatmungsgeräte und Zelte im Ausland. Das Militärzelt aus Italien wurde medienwirksam eingeflogen und vor dem CHL aufgebaut. Doch es blieb leer – und viele Beatmungsgeräte unbenutzt.

Mehr Unabhängigkeit, mehr Flexibilität

Doch noch ist die Gefahr nicht gebannt. Die Reserven an Masken und anderem Material müssten laut Jean-Claude Schmit noch für drei bis vier Monate reichen. Das Militärzelt beim CHL soll voraussichtlich bis Ende des Jahres stehen bleiben.

Marie-Lise Lair blickt da aber um einiges weiter. Sie erhofft sich, dass Luxemburg in Zukunft unabhängiger agieren kann. Alles, was es dafür braucht, ist ein flexibleres Gesundheitssystem. „Wenn man die ambulanten Strukturen und die medizinische Grundversorgung entwickeln würde, müssten weniger Patienten ins Krankenhaus. Dann braucht es auch nicht mehr Betten“, sagt die Expertin. „Wenn die Pandemie uns etwas gelehrt hat, dann, dass wir uns bemühen müssen, uns besser aufzustellen. Ansonsten bringen wir uns selbst in Gefahr.“