Istanbuls rasantes urbanes Wachstum wird von vielen in der Türkei als Erfolgsgeschichte verstanden. Doch während es in der Stadt eng wird, ruft die expansive Baupolitik der Regierung auch Widerstände in der Bevölkerung hervor. 

Ein Fischermann, auf seinem kleinen Boot stehend, bringt im Morgengrauen die Netze zurück in den Hafen von Kumkapi. Der Mann trägt einen eleganten Anzug und eine Mütze französischer Art, eigentlich möchte man meinen, dass er zu schick gekleidet ist für den Fischfang. Die Arme auf das Steuerhaus gestützt, blickt der Fischer melancholisch-ernst über das Wasser. Dramatische Wolkenformationen am Himmel und die dunkle Silhouette der Blauen Moschee verleihen dem Foto eine fast apokalyptisch anmutende Aura. Gleichzeitig hat die Szene aus dem Jahr 1950 etwas Erhabenes und Würdevolles. Vor allem aber strahlt sie eine gewisse Langsamkeit aus, die man heute in Istanbul leicht vermissen kann.

Der Mann, der dieses ikonische Porträt einer uralten Stadt aufnahm, starb diesen Oktober in Istanbul im Alter von neunzig Jahren. Ara Güler war in der Türkei als „Istanbul’un gözü“ oder „Das Auge Istanbuls“ bekannt, denn kein anderer hat die Entwicklung der Stadt über die letzten Jahrzehnte so intim miterlebt und festgehalten.

Bilder einer längst vergangenen Zeit

Gülers Fotos von Istanbul zeigen uns vor allem das Leben der einfachen Menschen, der Fischer, Arbeiter, Tagelöhner, fliegenden Händler, der Einwanderer vom Dorf, die sich vom Leben in der Bosporusmetropole eine bessere Existenz versprachen. Tatsächlich stand das Abbilden von Menschen und ihren urbanen Träumen stets im Mittelpunkt von Gülers Philosophie des Fotografierens. Güler betrachtete Fotografie als Medium, um das menschliche Leben und Leiden festzuhalten.

Wer jedoch heute Gülers Bilder von Istanbul betrachtet, der findet auf ihnen eine Stadt, die es so in dieser Form nicht mehr gibt. Die Moscheen und Monumente und das Blau des Bosporus sind geblieben, doch der Kontext hat sich verändert: Die architektonischen Konstanten in der Stadt sind nun eingebettet in einen unaufhaltsamen urbanen Wandel, der Istanbul vor allem in den letzten zehn Jahren im Eiltempo erfasst hat. Und so ist es oft mit einer gehörigen Prise von Nostalgie, man könnte auch sagen Trauer, dass viele Istanbuler, besonders aus intellektuellen und kunstbeflissenen Milieus, auf die Stadtaufnahmen von Ara Güler blicken.

Umstrittener Riesenflughafen im Norden

Ara Güler hat die Eröffnung des dritten Istanbuler Flughafens im Nordwesten von Istanbul nicht mehr miterlebt. Am 29. Oktober, dem türkischen Nationalfeiertag, öffnete im Bezirk Arnavutköy an der Schwarzmeerküste der nagelneue Flughafen seine Türen. Zwar wird der reguläre Flugbetrieb wohl erst im Januar einsetzen, aber das Großprojekt hat in der Türkei mit seiner Umstrittenheit schon jetzt Geschichte geschrieben: Nicht nur wurden bei Baubeginn des Flughafens laut Umweltschützern 2,7 Millionen Bäume gefällt, was zu massiver Kritik führte. Aufgrund von mangelnder Arbeitssicherheit und dem von der Regierung verbreiteten Zeitdruck verloren Dutzende der insgesamt 40 000 mangelhaft bezahlten Arbeiter während des Brauprozesses ihr Leben.

Die Regierung Erdogan jedoch hält den Flughafen für nötig und verspricht sich mit dem Riesen-Airport bald das wichtigste Luftverkehrsdrehkreuz zwischen Europa und Asien zu sein. Mit 76,5 Millionen Quadratkilometern ist der Flughafen flächenmäßig mehr als dreimal so groß wie der Flughafen in Frankfurt. Zunächst rechnet man mit einem Passagiervolumen von neunzig Millionen, doch der Flughafen ist für 120 Millionen Passagiere ausgelegt, eine Zahl, die in weniger als zehn Jahren erreicht werden sollt. Damit wäre der  Istanbuler Flughafen der größte der Welt und würde den bisher prominenteren Drehkreuzen Dubai und Katar den Rang ablaufen.

Der Flughafen ist nicht das einzige Riesenprojekt, das Erdogan in den letzten Jahren realisiert hat – denn Prestigebauvorhaben kommen bei seiner Wählerschaft besonders gut an. Die dritte Bosporusbrücke wurde 2016 eröffnet, deren Zufahrtsbahnen Schneisen durch Istanbuls letzte Waldgebiete schnitten. Die größte Moschee der Türkei steht inzwischen im Stadtteil Camlica auf einem Hügel, mit neunzig Meter hohen Minaretten. Außerdem plant die AKP-Regierung den Bau eines gigantischen Kanals, um den Bosporus als einzigen Schifffahrtsweg zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer zu entlasten. Kritiker des Projekts warnen vor massiver Umweltzerstörung und Bedrohung für die Landwirtschaft.

Stadtentwicklung birgt sozialen Sprengstoff

Forschungen zeigen auch, dass Bauprojekte wie jene der AKP den weiteren Bevölkerungswachstum befördern und immer weitere Bauten mit sich ziehen. Der Bau der zweiten Bosporusbrücke im Jahr 1988 etwa führte zu einer explosiven urbanen Ausbreitung, sodass sich das Stadtzentrum immer weiter gen Norden ausweitete. Die Einwohnerzahl von Istanbul ist seit 1945 von 1,5 Millionen auf heute rund 15 Millionen gewachsen.

Doch die urbane Entwicklung stößt auch auf Widerstand. Die international aufmerksam verfolgten Gezi-Proteste im Jahr 2013 entzündeten sich an dem geplanten Bau einer Shopping Mall auf dem Taksim-Platz. Der beliebte Gezi Park, eine der letzten Grünflächen im Zentrum der europäischen Stadtseite Istanbuls, sollte dem Bauprojekt zum Opfer fallen. Auch wenn die damals entstandene Bewegung seit der Niederschlagung der Proteste eingeschlafen ist wurde damit zumindest das Kaufhaus verhindert. Das Momentum von 2013 zeigt, dass das Thema Stadtentwicklung in Istanbul einiges an potenziellem sozialen Sprengstoff birgt.

Der kapitalismuskritische Dokumentarfilm “Ekümenopolis” aus dem Jahr 2011 zeichnet die Entwicklung der Stadt nach und thematisiert Probleme wie die allmähliche Gentrifizierung von Stadtbezirken, den Wohnblockbau in den Vororten, die Riesenprojekte sowie zunehmende soziale Spannungen in der türkischen Metropole. Politikwissenschaftler Imre Azem, Regisseur des Films, engagiert sich seit Jahren gegen die großflächige Umstrukturierung Istanbuls.

„Fetischismus der Superlative“ in der Kritik

“Meiner Meinung nach ist es ein Verdienst des Films, die Verbindung zwischen dem Geldfluss in die Stadt, jener Vision von einer ,Global City’, und dem, was in den Vierteln der Menschen passiert, zu ziehen. Denn viele Menschen hatten diese größeren Verbindungen bisher nicht realisiert. Jetzt ist dieses Bewusstsein hingegen viel weiter verbreitet. Die Menschen wissen inzwischen, dass solche Projekte einen Verlust ihres Lebensraumes bedeuten”, erklärte Imre Azem in einem Interview. “Was mich wirklich an den Projekten stört, ist dieser Fetischismus der Superlative: immer das Höchste, das Größte muss es sein.”

Und so bleibt es ungewiss, wie der Bauwahn am Bosporus die Zukunft der Stadt weiter beeinflussen wird. Man sollte auch nicht vergessen: Istanbul liegt in einem Erdbebengebiet. Seismologen sagen seit Jahren ein größeres Erdbeben in der Region Istanbul voraus.

Ara Gülers Bilder von Istanbul jedoch bleiben. Viele werden sich beim Betrachten der Fotos weiterhin nach dem entschleunigten Istanbul sehnen – dem Istanbul der Fischerkähne, der holprigen Gassen und Teehäuser, von dem heute nur noch vereinzelte Inseln übrig geblieben sind. Das Blau des Bosporus jedenfalls wird bleiben und der Stadt weiterhin ihren einzigartigen Charme verleihen.