„Breaking the Silence“ dokumentiert seit vierzehn Jahren Erfahrungsberichte von ehemaligen Mitgliedern der israelischen Armee. Daraus erwachsen in Israel Fragen, die in dem Land nur wenige zu stellen wagen.

Ein Jahr und zwei Monate hatte Nadav Weiman trainiert, um in eine Spezialeinheit der israelischen Armee aufgenommen zu werden. Mit 18 Jahren hatte er in Camps gelernt, wie man Panzer bedient, Menschen durchsucht, in Häuser eindringt und aus dem Hinterhalt einen Terroristen ausschaltet. In Israel herrscht für alle eine dreijährige Wehrpflicht. Wer sich weigert, wird in der Regel verhaftet.

Auf die Theorie folgte bald die Praxis: Weimans erster Einsatz war in einer zwölf Mann starken Scharfschützen-Truppe. Jenin, Westjordanland, eines der heißesten Pflaster im Nahostkonflikt. „Plötzlich war ich in der Hölle“, erinnerte sich Weiman bei einem Interview in Berlin.

Mein erster Gedanke in diesem Moment war: Das heißt also nun, mein Land zu verteidigen?“Nadav Weiman

Sein Team bekam die Anweisung, ein palästinensisches Wohnhaus zu finden und es zu einem Posten der „Israeli Defence Forces“ (IDF) zu machen – eine gängige Aufgabe, die Weiman bald drei- bis viermal in der Woche durchführen sollte. Der Ablauf ist Routine: Zuerst wird beim Geheimdienst angefragt, ob sich in dem Haus Terroristen aufhalten. Nur wenn sicher ist, dass die Familie unschuldig ist, stürmen Soldaten das Haus.

Israelische Öffentlichkeit aufklären

​​“Es ist wie ein großes Videospiel“, sagt Weiman. Alles geht sehr schnell. Im Tarnanzug und mit der Waffe in der Hand stand er plötzlich im Wohnzimmer einer fremden Familie. „Mein erster Gedanke in diesem Moment war: Das heißt also nun, mein Land zu verteidigen?“ Die arglosen Menschen werden aus den Betten geholt, ihre Handys konfisziert. Sie müssen das Haus verlassen, das die IDF nun zu einem Stützpunkt machen wird, um von dort auf Terrorverdächtige zu schießen.

Keiner in Israel weiß, was wirklich passiert. Wir wollen die Menschen dazu bringen, Fragen zu stellen.“Navid Weiman

Nadav Weiman ist heute 32 Jahre alt, seine Armeeerlebnisse liegen über ein Jahrzehnt zurück. Doch das Vorgehen in der israelischen Armee habe sich kontinuierlich verroht und verschlechtert, sagt er. Seit sieben Jahren ist Weiman Mitglied der Organisation „Breaking the Silence“, die im März 2004 von ehemaligen Soldaten der israelischen Armee gegründet wurde. Nun fungiert er als Bildungsbeauftragter der NGO und ist oft in israelischen Talkshows zu sehen.

Ziel von „Breaking the Silence“ ist es, die israelische Öffentlichkeit auf Grundlage von Zeugenaussagen hunderter Soldaten über den Besatzungsalltag in ihrem Land aufzuklären. So soll die große Kluft in Israel zwischen der Wahrnehmung und Realität der Streitkräfte überwunden werden.

„Moralischer Zerfall“ in der Armee

„Breaking the Silence“ spricht bereits seit Jahren von einem „moralischen Zerfall“, der in den vergangenen Jahren alle Bereiche der Armee sowie der israelischen Gesellschaft durchdrungen habe. Ungerechtigkeiten und Schikanen gegenüber Palästinensern, die früher noch die Ausnahme waren, seien zur Norm geworden. „Während wir uns vor Gefahren schützen, schaffen wir eine weitere Katastrophe“ kann man in der Selbstdarstellung von „Breaking the Silence“ lesen. „Keiner in Israel weiß, was wirklich passiert. Wir wollen die Menschen dazu bringen, Fragen zu stellen“, sagt Weiman. Dafür organisiert „Breaking the Silence“ zum Beispiel Vorträge an Unis und Stadtführungen in den palästinensischen Gebieten.

Weiman war einst selbst Scharfschütze in der israelischen Armee und damit in der gleichen Position wie jene Sniper, die in den letzten Wochen und Monaten auf Befehl ihrer Kommandeure für Dutzende Tote an der Grenze von Gaza gesorgt haben. Israels Regierung reagiert auf lauter werdenden Protest wie immer mit dem Argument der Selbstverteidigung. Doch Weiman sieht eine drastische Zuspitzung im Vorgehen der IDF. Habe die israelische Armee vor früheren Operationen wie „Protective Edge“ noch Flugblätter abgeworfen und Schützen nur im Fall von eindeutiger Bedrohung schießen lassen, seien heute unbewaffnete Demonstranten die Zielscheibe, wie Weiman in einem Interview im israelischen Fernsehen darlegte.

Heutzutage ist es fast schon ein Verbrechen in Israel, Mitgefühl zu zeigen, auch wenn es um Frauen und Kinder geht.“
Yehuda Shaul

Yehuda Shaul, ein ehemaliger Kommandant der israelischen Armee und Mitbegründer von „Breaking the Silence“, macht seit Jahren auch auf den ideologischen Hintergrund von Israels Vorgehen in den besetzten Gebieten aufmerksam, die eng mit den Ereignissen in Gaza verwoben sei.

In einem Interview mit „Qantara“ sagte Shaul: „Die Welt in den besetzten Gebieten ist sehr einfach gestrickt: Es gibt uns und es gibt sie. Alles was wir tun, ist richtig, und alles was sie tun, ist falsch. Die Menschen in Israel sind mittlerweile vollkommen empfindungslos geworden. Sie können die Palästinenser nicht mehr als Menschen sehen. Sie stehen dem Leiden der anderen Seite völlig gleichgültig gegenüber. Heutzutage ist es fast schon ein Verbrechen in Israel, Mitgefühl zu zeigen, auch wenn es um Frauen und Kinder geht.“

Aktivisten als „Unterstützer des Terrorismus“

Die NGO ist in Israel die einzige Einrichtung, die ehemaligen Soldaten die Verarbeitung und Aussprache ihrer Erlebnisse ermöglicht. Damit sind nicht alle glücklich. Mitglieder von ​​“Breaking the Silence“ wie Nadav Weiman werden daher in der israelischen Gesellschaft oft als Verräter betrachtet. Israels Hardliner-Verteidigungsminister und ehemaliger Außenminister Avigdor Lieberman brandmarkte die Mitglieder von „Breaking the Silence“ gar als „Unterstützer des Terrorismus“.

Der einzige Weg, wie Juden ihr Recht auf Selbstbestimmung in Israel verwirklichen können, ist, indem sie aufhören, den Palästinensern genau dieses Recht zu entziehen.“Yehuda Shaul

Dabei erscheint die Sicht der ehemaligen Soldaten auf die Lage in Nahost als durchaus differenziert. Selbstverteidigung sei ein Recht, aber die Verhältnismäßigkeit habe die IDF schon lange verloren, so ihre Botschaft. Shaul jedenfalls ist sich sicher: „Der einzige Weg, wie Juden ihr Recht auf Selbstbestimmung in Israel verwirklichen können, ist, indem sie aufhören, den Palästinensern genau dieses Recht zu entziehen. Tatsächlich stellt die Behandlung der Palästinenser die größte Bedrohung für Israel dar. Sie untergräbt die Legitimation des Staates Israel. Die Sicherheit Israels hängt von einem souveränen palästinensischen Staat an unserer Seite ab. Sie hängt davon ab, den Palästinensern Würde und Rechte zuzugestehen.“

Die Aufgabe einer Organisation wie „Breaking the Silence“ sei es, mit Nachdruck wichtige Fragen zu stellen: „Wie begreifen wir uns als Gesellschaft? In was für einem Land wollen wir künftig leben?“ Dies sind Fragen, die in Israel dieser Tage nur wenige stellen wollen, zumal in den Massenmedien. Will das Land und die israelische Gesellschaft fortbestehen, kommt es jedoch an einer gründlichen Selbstreflexion nicht vorbei.