Da der moderne Kapitalismus eine Erfindung des Westens ist, sind auch die Umweltbewegungen vor allem in der „Ersten Welt“ anzutreffen, sagt der Wissenschaftler Tarik Quadir. Ein Gespräch über die Facetten der Klimakrise und wie die islamische Welt dabei helfen könnte, sie zu bewältigen.

Interview: Marian Brehmer

Herr Quadir, was halten Sie von der globalen Jugendbewegung zum Schulstreiken für das Klima?

Diese Bewegung ermutigt mich, denn um die Natur zu retten, braucht es nicht weniger als einen gigantischen Wandel unserer Denk- und Lebensweise. Diesen können wir nicht ohne die Energie der Jugend herbeiführen. Es ist höchste Zeit. Wir besitzen Technologien, um Sonnen-, Wind- und geothermische Energien zu erzeugen. Diese können mithilfe einer mutigen Politik und finanzieller Unterstützung fossile Brennstoffe als Quelle des globalen Energiebedarfs ersetzen. Der Überschuss an Treibhausgasen ist jedoch nicht die einzige Bedrohung für die Umwelt. Wir verschmutzen Land, Wasser und Luft auf unterschiedliche Weise. Dies können wir nicht alleine mit Technologie rückgängig machen. In hohem Tempo zehren wir unsere Grundwasservorkommen auf, rotten die Biodiversität an Land und Wasser aus, machen unseren Boden durch industrielle Landwirtschaft unfruchtbar und manipulieren unser Gemüt mit Antibiotika, Pestiziden und Herbiziden.

Warum hat es in der so genannten „islamischen Welt“ in der Vergangenheit wenig Beteiligung an Umweltbewegungen wie dieser gegeben?

Die islamische Welt war zu sehr damit beschäftigt, sich an die sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Agenden, die der Westen in den letzten 200 Jahren global festgelegt hat, anzupassen. Aus diesem Grund sind auch die hinduistische und buddhistische Welt nicht so aktiv gewesen wie der Westen. Trotzdem sind die meisten Muslime für die Ignoranz verantwortlich zu machen, was die Lehren ihrer eigenen Tradition über die Natur angeht. Da Industrialisierung und moderner Kapitalismus sich zunächst im Westen ausbreiteten bevor sie anderswo erstarkten, wurde die Umweltkrise zuerst im Westen sichtbar. Deshalb gibt es in der islamischen Welt die fälschliche Annahme, der Westen müsse diese Krise lösen, da sie dort ihren Anfang genommen hat. Muslime sollten sich daran erinnern, dass die ganze Menschheit in einem Boot sitzt, dieser Erde. Wenn wir nicht lernen, dieses gemeinsam zu retten, werden wir zusammen untergehen. Zumindest müssen Muslime ihren Teil beitragen.

Was lehrt der Islam über das Verhältnis von Mensch zur Umwelt?

Nicht nur die moderne Wissenschaft lehrt uns, wie wir der Natur begegnen sollten. Der Islam und andere Religionen haben viel dazu zu sagen. Der Koran bringt uns bei, dass jede Kreatur ein Zeichen Gottes ist und jede Spezie eine eigene Gemeinschaft darstellt. Alles wurde in einer Balance geschaffen, die der Mensch nicht stören sollte. Die Menschen wurden als Stellvertreter Gottes auf Erden geschaffen und haben deshalb die Verantwortung, sich um den Planeten zu kümmern. Stellvertreter Gottes zu sein, gibt uns jedoch keinen Freifahrschein, die Erde auszubeuten, denn ihre Geschenke sind laut dem Koran unter allen lebendigen Geschöpfen zu teilen. Was auch immer wir der geringsten von Gottes Kreaturen antun, tun wir uns selbst an.

Es gäbe keine Umweltkrise, wenn unser vorherrschendes Wirtschaftssystem des modernen Kapitalismus der Gier keinen freien Lauf gewähren würde.“

Wenn Sie einen Punkt nennen sollten, welcher in der aktuellen Klimadebatte fehlt, welcher wäre dies?

Die aktuelle Debatte konzentriert sich fast ausschließlich auf die Notwendigkeit, fossile Brennstoffe aufzugeben. Selten stellt man die vorherrschenden materiellen Werte infrage, auf die die globale Konsumkultur gründet. Man lässt außer Acht, dass die moderne Wissenschaft zwar zu Messungen taugt und uns die Probleme im Äußeren vor Augen führt, die Nutzen der Wissenschaft und die ihr zugrunde liegende rein materialistische Weltsicht jedoch unsere Seelen irregeführt haben. Daher liegt die Wissenschaft an der Wurzel eines Werte- und Wirtschaftssystems, welches die Umweltkrise überhaupt erst ausgelöst hat.

Die meisten Stimmen des Umweltschutzes stammen aus einem wissenschaftlich-säkularen Hintergrund. Können wir die Erde ohne Gott retten?

Aus islamischer Perspektive liegt die tiefste Ursache für die Umweltkrise im Verlust einer spirituellen Sicht auf die Natur. Viele christliche Heilige sprachen im Mittelalter von Natur auf eine ähnliche Weise wie es der Koran explizit tut. Nach dem Siegeszug der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert begann Europa, die traditionelle christliche Ehrfurcht gegenüber der Natur zugunsten einer rein materialistischen Perspektive, wie sie die moderne Wissenschaft zeichnet, aufzugeben. Wir müssen begreifen, dass unsere Sichtweise auf etwas maßgeblich bestimmt, wie wir damit umgehen. Diese Veränderung der Weltsicht von einer spirituellen zu einer rein materiellen liegt dem modernen Kapitalismus und der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts zugrunde. Sollten wir versuchen, dem bevorstehenden Umweltchaos in den nächsten Jahrzehnten allein mithilfe von säkularen Lösungen zu entkommen, das heißt ohne die spirituelle Natursicht wiederherzustellen, so werden wir die Desaster höchstens herauszögern.

Muslime sollten sich daran erinnern, dass die ganze Menschheit in einem Boot sitzt, dieser Erde. Wenn wir nicht lernen, dieses gemeinsam zu retten, werden wir zusammen untergehen.“

Welche Rolle kann der Islam dabei spielen, die Einstellung der Menschen gegenüber der Umwelt zu verändern?

Es gäbe keine Umweltkrise, wenn unser vorherrschendes Wirtschaftssystem des modernen Kapitalismus der Gier keinen freien Lauf gewähren würde. Die moderne wissenschaftliche Weltsicht hat unsere Sichtweise der Natur als einzigartige Schöpfung Gottes zu der von einer Materie reduziert, derer sich der Mensch nach Gutdünken bedienen kann. Im Islam wird die menschliche Verantwortung gegenüber der Natur im Koran und in den Aussprüchen und Lebensbeispielen des Propheten Mohammed deutlich. Muslime sollten sich, ohne Zeit zu verlieren, der Schwere der Umweltkrise bewusst werden. Dann müssen sie realisieren, wie der Koran und der Prophet von uns verlangen, dass wir die Natur behandeln. Diejenigen, die sich Muslime nennen, müssen Acht geben und mit Güte auf der Erde laufen.

Wie sehen Sie als gebürtiger Bangladeschi die Zukunft ihres Geburtslands angesichts der Umweltbedrohung?

Die Situation in Bangladesch ist wirklich schlimm, hauptsächlich aus demselben Grund, weshalb sie in den meisten islamischen oder nicht-islamischen Ländern schlimm ist. So wie die meisten Entwicklungsländer versucht Bangladesch Anschluss an das Entwicklungsmodell zu finden, welches der Westen weltweit so erfolgreich propagiert hat. Gleichzeitig verbrauchen viele der nicht-islamischen Länder, die in Sachen Emissionsreduzierung oder Recycling mehr tun, weitaus mehr fossile Brennstoffe, welche die Erde weiter verschmutzen. Der CO2-Fußabdruck von Bangladesch ist im Vergleich zu jenem von England, Frankreich, Deutschland oder Japan zu vernachlässigen. Dennoch müssen die Bangladeschis verstehen, dass der aktuelle Pfad der Entwicklung das Leben ihrer Kinder und das folgender Generationen ernsthaft aufs Spiel setzt. Jede Nation sollte infrage stellen, was es wirklich heißt, „entwickelt“ zu sein. Die Menschen müssen mutig handeln und ein Beispiel für andere setzen. Sie sollten regelmäßige Diskussion über die Ursachen und Konsequenzen der Umweltkrise führen und dabei das Potenzial von Schulen, Medien und Moscheen ausschöpfen.


Zur Person: Tarik Quadir arbeitet als Hilfsprofessor an der Fakultät für Philosophie der Necemettin Erbakan Universität in Konya, Türkei. Quadirs Forschungsgebiete umfassen den Sufismus, Geschichte der Wissenschaft, islamische Philosophie, Peacemaking und südasiatische Religionen. Er ist der Autor des Buches “Traditionell islamischer Umweltschutz: die Vision von Seyyed Hossein Nasr”.