Intersex-Menschen fallen aus dem Raster der traditionellen Geschlechterordnung, müssen sich aber für das eine oder andere Geschlecht entscheiden – so will es das Gesetz. In Luxemburg wird über eine „dritte Option“ nachgedacht. Die ideale Lösung ist das aber nicht.
Junge oder Mädchen? Für werdende Eltern ist es eine spannende Frage. Spätestens bei der Geburt des Kindes lüftet sich dann das Geheimnis, ob sie sich über einen Sohn oder eine Tochter freuen dürfen.
Dabei ist es nicht immer so einfach. Manche Menschen, sogenannte Intersex-Personen, leben zwischen den Geschlechtern. Sie können nicht eindeutig in das binäre System eingeordnet werden, weil sie sowohl Merkmale des weiblichen als auch des männlichen Geschlechts aufweisen.
Ein Beispiel: In dem Moment, in dem Inge per Kaiserschnitt geboren wird, gehen die Meinungen zu ihrem Geschlecht bereits auseinander. Die Hebamme sagt der Mutter im OP-Saal, es sei ein Junge. Der Arzt sagt dem Vater, es sei ein Mädchen.
Später wird festgestellt: Inge hat einen männlichen Chromosomensatz, einen nicht vollständig entwickelten Hoden und Penis, ihre inneren Organe sind aber weiblich. Sie ist intergeschlechtlich. „Und so ist wirklich nicht zu sagen ‚entweder oder'“, sagt ihre Mutter Andrea im Dokumentarfilm „Tabu Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern“.
„Intersex-Personen sind nicht sichtbar in Luxemburg“
Obwohl sich unsere Gesellschaft wohl als aufgeklärt versteht, ist Intersex immer noch ein Tabuthema. Konkrete Zahlen dazu, ob und wie viele Intersex-Menschen hierzulande leben, gibt es nicht. „Es gibt gar keine sichtbaren Intersex-Personen in Luxemburg“, bestätigt Dr. Erik Schneider von der Intersex & Transgender Luxembourg a.s.b.l (ITGL).
Der Unterschied zwischen Transgender und Intergeschlechtlichkeit
Intergeschlechtlichkeit: Intersex-Personen lassen sich weder genetisch (anhand der Chromosomenpaarung), noch hormonell (beim Verhältnis von Östrogen und Testosteron) oder anatomisch (anhand der Geschlechtsorgane) eindeutig einem Geschlecht zuordnen. Transgender: Anders als bei Intersex-Personen sind Trans-Personen anhand ihrer Geschlechtsmerkmale als „männlich“ oder „weiblich“ zu bezeichnen. Sie sind zwar biologisch eindeutig definiert, streben aber eine Anpassung an das andere Geschlecht an.
Für eine Konferenz im Jahr 2017 hat der Verein internationale Zahlen hochgerechnet, um zu einer Einschätzung zu kommen, wie die Lage im Großherzogtum aussehen könnte. Wenn der Wert bei ungefähr 1,7 Prozent weltweit liegt, müsste es laut ITGL in Luxemburg rund 9.000 Menschen mit diesen Geschlechtsentwicklungen geben.
Operationen sind keine Lösung
Als vermeintlich schnelle Lösung für dieses komplexe „Problem“ gelten Operationen. Dr. Erik Schneider kämpft gegen diese geschlechtszuweisenden OPs und Hormontherapien, denen Intersex-Kinder häufig ohne ihre Zustimmung, in manchen Fällen sogar ohne ihr Wissen, ausgesetzt werden.
Ich wurde so oft operiert, dass ich die Eingriffe gar nicht alle aufzählen kann.“Kris Günther
Sinn und Zweck der Behandlungen: Der Säugling wird kurz nach der Geburt operiert und dann als eindeutig männlich oder weiblich eingeordnet. Ärzte und Eltern machen sich dabei gegenseitig Druck – nur einer wird außen vor gelassen: das Kind.
„Teilweise sagen Ärzte oder Ärztinnen, sie müssten operieren, weil die Eltern das so wollen. Und manche Eltern sagen, die Ärzte oder Ärztinnen würden ihnen dazu raten“, resümiert Dr. Erik Schneider die Lage. Dabei seien kosmetische Genitaloperationen ohne Einwilligung der Betroffenen unmenschlich.
Er plädiert dafür, dass Jugendliche selbst entscheiden sollen, ob sie sich behandeln lassen wollen. „Wir brauchen ein Gesetz, bei dem die Jugendlichen selbst entscheiden können, welche medizinischen Maßnahmen sie in Anspruch nehmen wollen – beziehungsweise eines, das die Anwendung solcher Maßnahmen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern ohne Vorliegen eines lebensbedrohlichen Zustandes unter Strafe stellt“, so der Experte im Interview mit REPORTER. „Wenn es sich nicht um einen lebensbedrohlichen Gesundheits- oder ernsthaften Krankheitszustand beim Kind handelt, dann sind diese Eingriffe ohne Einwilligung der Person auch nicht notwendig.“
Ein körperlicher und psychischer Leidensweg
Die Operationen regeln für Ärzte und Eltern zwar die Geschlechtsfrage, sie lösen aber nicht das Problem der Identitätssuche eines Kindes. In vielen Fällen wird sie dadurch nur noch schlimmer.
Ein weiteres Problem: Die Geschlechtsumwandlung ist in der Regel nicht nach einer Operation abgeschlossen – so dass Kinder über Jahre hinweg behandelt werden müssen. Die Folge: Ein langer Leidensweg – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch.
So hat es auch Kris Günther aus Lüttich erlebt. Das erste Mal wurde er kurz nach seiner Geburt operiert. Es folgten weitere Eingriffe, zahlreiche Untersuchungen und Besuche beim Psychologen: „Ich wurde so oft operiert, dass ich die Eingriffe gar nicht alle aufzählen kann.“ Warum er wirklich operiert wurde, wurde ihm verschwiegen. Als Ursache nannten die Ärzte unter anderem Leistenbrüche.
Aus Kris sollte ein Mädchen werden, er wurde auf eine Mädchenschule geschickt und weiblich erzogen. „Dabei habe ich aber immer eher wie ein Junge agiert und konnte nichts mit Mädchenthemen anfangen“, sagt er. Als er im Alter von 21 Jahren zum Militär ging, hat er eher durch Zufall erfahren, dass er eine Intersex-Person ist. Danach hat Kris mit den Nachforschungen angefangen.
Durch die OPs und Beobachtungen in den Krankenhäusern ist sein Verhältnis zu Medizinern bis heute gestört. „Man hat mich durch die Eingriffe mehr oder weniger krank gemacht“, sagt der 60-Jährige. „Es soll endlich aufgehört werden, im Kindesalter solche Eingriffe vorzunehmen. Die sind alle unnötig.“
Zahl der Operationen nimmt nicht ab
Die Arzt-Praktiken, wie Kris Günther sie am eigenen Leib erfahren hat, stehen seit Jahren in der Kritik. Eben, weil es eine schnelle, wenn auch nicht die endgültige Lösung ist. In Deutschland hat die Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin deshalb ihre Leitlinien überarbeitet, seitdem wird, „außer in Notfallsituationen“ von vorschnellen Eingriffen und Hormonbehandlungen abgeraten, wie es dort heißt.
Neugeborene dürfen nicht operiert werden, wenn es aus gesundheitlichen Gründen nicht wirklich notwendig ist.“Familienministerin Corinne Cahen
Die Realität ist aber oft eine andere: Eine Studie der deutschen Genderforscherin Ulrike Kloeppel zeigt, dass trotz der geänderten Leitlinien die Anzahl der Operationen an unter 10-Jährigen von 2005 bis 2014 nicht abgenommen hat.
Geschlechts-OPs werden Wahlkampfthema
Und in Luxemburg? Dem Wochenmagazin Revue sagte der im CHL praktizierende Endokrinologe Michael Witsch, dass er auf die Operationen verzichtet – allerdings unter der Bedingung, dass „auch die Familie es aushält“. Er sei der Meinung, einem Kind sei nicht weitergeholfen, wenn seine Eltern es ablehnten. Dies zeigt wiederum, dass nicht der Wille und das Wesen des Kindes im Mittelpunkt der Diskussionen steht.
Familienministerin Corinne Cahen spricht sich dagegen ganz deutlich gegen operative Eingriffe an Säuglingen aus. Im Gespräch mit REPORTER sagt sie, dass das Thema Teil des DP-Wahlprogramms sein wird. „Neugeborene dürfen nicht operiert werden, wenn es aus gesundheitlichen Gründen nicht wirklich notwendig ist“, so Cahen. Auch die Grünen haben ein solches Verbot in ihr Wahlprogramm aufgenommen.
Weil unnötige Eingriffe dennoch immer wieder durchgeführt werden, fordert auch der Europarat, dass solche Operationen bei Kindern zur Geschlechtsumwandlung unterbunden werden.
Neuer Gesetzesentwurf macht Hoffnung
Betroffene in Luxemburg dürfen nun hoffen: Justizminister Felix Braz hatte im Mai 2017 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der zumindest Änderungen des Geschlechts und des Namens im Personenstandsregister vereinfachen soll. Künftig müssen Intersex- und Transgender-Menschen dafür lediglich einen Antrag beim Justizministerium stellen. Anders als bisher, braucht es kein ärztliches Attest oder psychiatrisches Gutachten mehr. Auch eine Sterilisation oder andere medizinische Behandlungen bei Transsexuellen sind keine Voraussetzungen mehr.
Wer sich demnach eher als Mann oder als Frau fühlt, kann das entsprechend ändern lassen: Der Gesetzesentwurf soll „die Rechte von Transgender- und Intersex-Personen stärken“, indem ein legaler Rahmen zur Geschlechts- und Namensänderung im Personenstandsregister ausgearbeitet wird.
Der Text ist auf dem Instanzenweg, am Dienstag erwartet man im Justizministerium das Gutachten des Staatsrats, am Mittwoch steht das Dossier dann auf dem Programm der parlamentarischen Justizkommission.
CSV hat Vorreiterrolle übernommen
Vor Felix Braz hatten sich aber bereits andere diesem Thema angenommen. Im Februar 2016 hatten Françoise Hetto-Gaasch und Sylvie Andrich-Duval (beide CSV) einen Gesetzesvorschlag eingereicht, der das Prozedere für Geschlechts- und Namensänderungen von Menschen regeln soll, die im falschen Körper geboren sind.
Damals fand der Staatsrat den Vorschlag noch zu vage. Dennoch waren es Hetto-Gaasch und Andrich-Duval, die dieses Nischenthema auf die Agenda gebracht haben. Der Vorschlag von Felix Braz ließ noch gut 15 Monate auf sich warten.
Man muss dem Staat die Möglichkeit entziehen, Menschen in Kategorien einzuteilen, ohne dass es dafür eine Begründung gibt.“Véronique Bruck
Nichtsdestotrotz trifft sein Gesetzesentwurf jetzt auf viel Zustimmung. Auch das „Ombuds-Comité fir d’Rechter vum Kand“ begrüßt den Text – weist in einem Gutachten aber darauf hin, dass Operationen bei Trans- und Intersex-Menschen einen anderen Stellenwert haben. Die einen entscheiden sich freiwillig dazu, die anderen werden häufig ohne Zustimmung behandelt.
Es sei „eine Realität“, dass Ärzte Säuglinge häufig entweder dem einen oder dem anderen Geschlecht zuweisen, um so den gesellschaftlichen Normen gerecht zu werden. „Diese Orientierung wird anhand eines chirurgischen Eingriffs vollzogen, den das Kind nicht entscheidet.“ Das Komitee spricht sich dafür aus, dass ein „gesunder Körper“ nicht operiert werden muss.
Kommt die „dritte Option“?
Trotz Gesetzesentwurf bleibt ein großes Problem bestehen: Es kann, beziehungsweise muss weiterhin zwischen den zwei Geschlechtern gewählt werden. Der Text ändere nichts an der Tatsache, dass man sich weiterhin entweder dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht anpassen müsse, heißt es im „Forum“. Dabei dürfe der Staat nicht nach Geschlechtern diskriminieren: „Man muss dem Staat die Möglichkeit entziehen, Menschen in Kategorien einzuteilen, ohne dass es dafür eine Begründung gibt“, schreibt die Juristin Véronique Bruck.
Als Minister Braz den Gesetzesentwurf zur Geschlechts- und Namensänderung vorstellte, ist er auch auf diese Kategorisierung eingegangen. Und sprach sich für eine mögliche „dritte Option“ im Personenstandsregister aus. Eine ministerielle Arbeitsgruppe sollte sich dem Thema annehmen und ein weiterer Gesetzesentwurf entstehen. Inzwischen wurde es aber wieder ruhig um die „dritte Option“.
Der Vorteil davon wäre deutlich: Wenn bei der Geburt nicht klar feststellbar ist, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, könnte dies auch so beim Personenstandsregister eingetragen werden. Damit fällt der Druck von den Eltern ab, ihr Kind in das eine oder andere Raster zu drängen. Und erzwungene Operationen würden sich im besten Fall erübrigen.
Das Kind entscheiden lassen
Für Dr. Erik Schneider ist die „dritte Option“ für Intersex-Kinder oder Personen allerdings keine gelungene Lösung. Ganz im Gegenteil. Sie würde eher zu einer Diskriminierung der betroffenen Personen führen, sagt er. „Wenn in der Geburtsurkunde oder im Personenstandsregister neben männlich oder weiblich eine dritte Option bei einem Kind angekreuzt wird, kann das so verstanden werden, dass mit ihm etwas nicht stimmt“, sagt er. Die „dritte Option“ wäre somit wieder eine Art der Stigmatisierung der betroffenen Kinder. Bei Jugendlichen und Erwachsenen sehe die Lage wieder anders aus.
Was bleibt also als mögliche Lösung? Schneider spricht sich dafür aus, dass der Geschlechtseintrag bei Kindern fakultativ bleibt. Und das mindestens bis zu ihrem 15. Lebensjahr. Danach könnten Jugendliche selbst entscheiden, ob sie einem Geschlecht – und wenn ja, welchem Geschlecht, zugewiesen werden wollen.
Wenn aber Säuglinge nicht operiert werden sollen und weder als männlich noch als weiblich eingestuft werden müssen, spätestens dann wird eine dritte Option oder ein freiwilliger Eintrag im Personenstandregister unumgänglich sein. Dafür braucht es dann eben doch ein passendes Gesetz.