Eine halbe Millionen Flüchtlinge sind zurzeit in Istanbul beheimatet. Gerade die Frauen stehen oft vor einem perspektivlosen Nichts. Eine Nichtregierungsorganisation bietet den Flüchtlingsfrauen neue Chancen mithilfe von Handarbeit. Unser Korrespondent Marian Brehmer hat das Projekt besucht.
Bei einem Spaziergang durch die Malta Carsisi Straße im Istanbuler Stadtteil Fatih, eine Gegend die auch unter dem Namen “Malta Basar” bekannt ist, fühlt sich der einheimische Besucher unmittelbar in eine fremde Welt versetzt. Die Ladenschilder der Lebensmittel-, Süßwaren- und Bekleidungsgeschäfte sind hier nicht auf Türkisch, sondern auf Arabisch geschrieben. Die Straße hat in den letzten Jahren zahlreiche syrische Unternehmer angezogen, die sich nach der Flucht aus ihrer Heimat nun eine neue Existenz aufbauen wollen. Das hat dem Viertel in Istanbul den Spitznamen “Kleines Damaskus” eingebracht.
Keine andere Stadt in der Türkei beherbergt derzeit so viele syrische Flüchtlinge wie Istanbul. Nach Schätzungen des türkischen Innenministeriums leben aktuell mehr als 500.000 der rund 3,6 Millionen Syrer in der Türkei in Istanbul. Die Mehrheit der Flüchtlinge wohnt in Vororten auf der europäischen Stadtseite, zum Teil werden ganze Nachbarschaften von syrischen Familien bewohnt.
Mit T-Shirts zu neuem Selbstbewusstsein
In den Fabriken und Werkstätten von Industriegebieten in den Randgebieten der Stadt verrichten Syrer oftmals Niedriglohnjobs, meist ohne eine Arbeitsgenehmigung. So sind etwa viele der allgegenwärtigen Müllsammler auf Istanbuls Straßen Syrer. Sie sammeln Plastik von den Straßen auf und verkaufen es zum Kilopreis, der in den Centbeträgen liegt.
Seit dem Jahr 2012 bietet die Istanbuler Graswurzel-NGO “Small Projects Istanbul” (SPI) syrischen Familien Unterstützung an, etwa bei der Wohnungssuche oder in der Gesundheitsversorgung. Was mit zwei Familien begann wuchs über die Jahre auf ein Netzwerk von rund 200 Familien an. Neben Grundschulunterricht und Kunstworkshops für syrische Kinder hat die Organisation ihren Schwerpunkt auf die soziale und wirtschaftliche Stärkung von Flüchtlingsfrauen gelegt.
Das “Women’s Social Enterprise”-Programm ist gelegen in einer der verwinkelten Gassen des Istanbuler Capa-Bezirks, einer Nachbarschaft, in der Syrer mit Türken aus der Arbeiterklasse Haustür an Haustür leben. Hier, im ersten Stock eines sanierten Wohnhauses, produziert Wafa seit dem letzten Jahr ihre eigenen T-Shirts. Die Shirts sind Teil der von den Frauen selbstgegründeten Produktionsreihe “Muhra”, die inzwischen ihren eigenen Online-Shop besitzt.
Konzentriert führt die Mutter mit dem rosafarbenen Kopftuch entlang einer Schablone eine Schere über den Baumwollstoff. Nach dem ersten Schnitt wird der Stoff bedruckt, anschließend geht es ans Nähen. In der Textilwerkstatt stehen vier Nähmaschinen, darüber hängt ein Whiteboard mit Berechnungen und Instruktionen auf Arabisch.
Stärkere Gemeinschaft von Frauen
Die neun Handarbeitsworkshops, die man hier an verschiedenen Wochentagen anbietet, werden von insgesamt 48 Frauen besucht. Je nach individuellem Geschmack und Fähigkeiten können die Hausfrauen zwischen Kursen im Nähen, Sticken, Häkeln, Textilfärben, im Makramee oder dem Fertigen von Ohrringen und Halsketten wählen.
Wafas Geschichte ist typisch für viele der größtenteils jungen Frauen, die am Muhra-Projekt beteiligt sind: Als Wafa mit ihren Kindern in der Türkei ankam, sprach sie kein Wort Türkisch und kannte niemanden außer ihrem Bruder, der bereits geflüchtet war. Ihren Mann hatte sie im syrischen Bürgerkrieg verloren. Über neugewonnene Kontakte aus der syrischen Exilcommunity hörte sie nach fünf Monaten von den “Small Projects Istanbul”. Seitdem kann sie die Handarbeitsinitiative nicht mehr aus ihrem Leben wegdenken.
Ich fühle mich nicht mehr nur verantwortlich für meine Familie, sondern für die gesamte Gruppe und für die Qualität unserer Produkte.“Wafa
“Mein Leben spielt sich nun vor allem im Projekt ab. Meine Kinder kommen zum Lernen und Spielen hierher, aber vor allem erlebe ich mich selbst in der Gemeinschaft von Frauen als stärker denn zuvor”, schildert Wafa. “Ich fühle mich nicht mehr nur verantwortlich für meine Familie, sondern für die gesamte Gruppe und für die Qualität unserer Produkte.” Wafa deutet auf einen Kleiderständer, an dem ein Dutzend T-Shirts in Pastellfarben baumelt. Die Hemden sind mit lebensbejahenden Botschaften auf Arabisch oder mit Motiven aus der syrischen Kultur bedruckt, entworfen von den Frauen selbst. Auf einem T-Shirt steht das Wort “Liebe” in Arabisch, Türkisch und Englisch.
Handarbeit zur Aufarbeitung des Erlebten
Die Arbeit mit den Händen sei immer auch ein stückweit eine Aufarbeitung des Erlebten, erklärt die amerikanische Sozialarbeiterin Lauren Simcic, die seit 2015 in der Türkei lebt. “Für uns ist es wichtig, dass die Frauen all die Fertigkeiten, die sie hier erlernen, später auch in ihrem Alltag einsetzen können”, sagt Simcic. Dazu gehöre auch ein beträchtlicher Zugewinn an Selbstbewusstsein, etwa wenn Frauen, die zunächst Schülerinnen in den Handarbeitsgruppen waren, selbst zu Teamleiterinnen avancieren. Zudem lernten die Frauen ein Gespür für Produktdesign und für die Nachfrage der Kunden zu entwickeln, was bei ihnen zur Identifikation mit der eigenen Marke führe.

Diese Entwicklung, so Simcic, sei vielleicht sogar wichtiger als der Zuverdienst, den die Frauen in ihre Familien tragen. Einige der Frauen sind nun sogar Hauptverdiener in ihren Haushalten, was in manchen Familien zur Verschiebung der Geschlechterrollen geführt habe. “Die Botschaft, die von Muhra ausgeht, ist erst einmal, dass Frauen auch produktiv sein können”, sagt Simcic. Viele der Hausfrauen, die sonst zuhause sitzen würden, erhielten so ein Gefühl von Sinn und Aufgabe im sonst so unsicheren und mitunter perspektivlosen Flüchtlingsleben. Neugewonnene Freundschaften helfen den Frauen, Kriegstraumata und in manchen Fällen auch den Tod ihrer Ehemänner oder Kinder zu verarbeiten.
Sprache als Schlüssel der Integration
So geht es auch Wafa. “Meine Kinder haben ihr Land und ihren Vater verloren. Doch hier haben sie Sicherheit und Gemeinschaft gewonnen”, sagt die Aleppinerin. Ihre Kinder seien stolz, wenn sie die Produkte sehen, die ihre Mutter produziert hat. “Jede von den Frauen, mit denen ich zusammenarbeite, hat ihre eigenen Probleme und Lebensumstände, doch wir unterstützen uns untereinander. Unser gemeinsames Ziel ist es, ‘Muhra’ weiter auszubauen.”
Nur mit einem tut sich Wafa noch schwer: mit der türkischen Sprache. “Als Syrer in Istanbul ist es leicht, sich in einem der Flüchtlingsghettos zu isolieren. Sprache jedoch ist der Schlüssel zu einem erfolgreichen Zusammenleben hier in der Türkei”, erklärt Sozialarbeiterin Simcic.
Das ist nicht immer ganz einfach: Im vergangen Jahr gab es in vielen der stark von Syrern bevölkerten Stadtteile einen Anstieg an Konflikten zwischen Gästen und Gastgebern. Viele der zum Teil selbst sozial schwachen ortsansässigen Türken fürchten um ihre Arbeitsplätze, denn Syrer seien oftmals bereit, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Auch die gestiegenen Mietpreise aufgrund von erhöhter Nachfrage nach Wohnraum sowie die Überlastung von Krankenhäusern und Schulen bringt Streitpotenzial mit sich.
Neue Flüchtlingswellen erhöhen Druck auf die Türkei
Doch neue Flüchtlingsströme könnten schon bald den Druck auf die türkische Infrastruktur erhöhen: Im September hatte die Türkei Europa vor einer neuen Flüchtlingswelle aus der Provinz Idlib gewarnt. Das Land fürchtet nun im Zuge der bevorstehenden Regime-Offensive in der nordsyrischen Region selbst neue Flüchtlingsströme. Nach Schätzungen der Vereinigten Nationen könnten sich bis zu 800 000 Menschen erneut aus Idlib auf den Weg zur nahegelegenen türkischen Grenze mache. Gut die Hälfte davon sind Binnenvertriebene aus anderen Regionen Syriens die im Zuge des Bürgerkrieges in Idlib Schutz gesucht hatten.
Wafa jedenfalls hat das schlimmste hinter sich. Der Krieg scheint in der T-Shirt-Werkstatt von Fatih weit weg, von den Hemden sprechen Botschaften des Friedens. Sie möchte nun erst einmal Englisch lernen, denn eines Tages hofft Wafa aus Istanbul in Richtung Europa weiterziehen zu können. Wohin? Nach Deutschland, denn da wohnten bereits Verwandte von ihr.