Nach dem Doppelanschlag auf die zwei Moscheen von Christchurch sollte sich die Welt an die Opfer erinnern und sich an Premierministerin Jacinda Ardern ein Beispiel nehmen. Sie verkörpern Werte, die wir mehr denn je brauchen. Ein Kommentar von Marian Brehmer.

„Hello brother. Welcome!“ konnte Daud Nabi gerade noch sagen, bevor er von dem Terroristen in Christchurch niedergeschossen wurde. Der 71-jährige Afghane mit dem typischen Pakol-Hut stand am letzten Freitag an der Tür der Al-Noor-Moschee, um Neuankömmlinge zu begrüßen. Er fiel dem Anschlag während des Freitagsgebets als erster zum Opfer.

Über den Hintergrund und die furchterregende Ideologie des rechtsterroristischen Täters wurde viel geschrieben. Doch die wirkliche Aufmerksamkeit verdienen die Opfer, verdienen Menschen wie Daud Nabi.

Der Afghane kam als Flüchtling während der sowjetischen Besatzung seines Landes vor vierzig Jahren nach Neuseeland. In den letzten Jahrzehnten leitete Daud Nabi die kleine afghanische Exilcommunity im Inselstaat und engagierte sich jahrzehntelang in der Integration von neuankommenden Flüchtlingen. Der Familienvater und Opa wollte wohl die letzten Jahre seines Lebens friedlich mit seinen Kindern und Enkelkindern verbringen. Dies blieb ihm verwehrt, doch seine Geste des Friedens lebt weiter.

Den Opfern Aufmerksamkeit schenken

Die Al-Noor Moschee war die erste Moschee von Christchurch, eröffnet im Jahr 1985. Daud Nabi war einer ihrer Gründerväter und setzte sich für eine Moschee der offenen Türen ein. An Ramadanabenden öffnete die engagierte Gemeinde ihre Türen für alle zum Fastenbrechen, es wurden Informationsabende zum Islam veranstaltet. Die Community fuhr zudem eine ausgesprochen unpolitische Linie – schließlich waren viele der Gemeindemitglieder vor politisch motivierter Gewalt in ihren Heimatländern nach Neuseeland geflohen.

Wärme, Großzügigkeit und Großmut sind die wirklichen Waffen, gegen die auch ein Maschinengewehr nichts anhaben kann.“

Hello Brother. Die warme Willkommensgeste dem kaltblutigen Massenmörder gegenüber – der Hashtag #HelloBrother machte inzwischen in zahlreichen Tweets auf verschiedenen Sprachen die Runde. Warum sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Lebensgeschichten der Opfer richten, auf Menschen wie Daud Nabi? Weil er Wärme, Großzügigkeit und Großmut verkörpert. Dies sind Eigenschaften, die dem verirrten Hass des Massenmörders gegenüberstehen. Sie sind die wirklichen Waffen, gegen die auch ein Maschinengewehr nichts anhaben kann; unsichtbar, aber umso wirksamer und beständiger, erinnern sie uns doch an die uns verbindende Menschlichkeit.

Dass diese Charakterzüge aus einer gelebten religiösen Ethik entspringen, wie sie Daud Nabi aus seinem islamischen Glauben zog, ist eine wichtige Einsicht. Dabei können wir die eifrige, manchmal plattitüdenhafte Beteuerung von vielen heute in die Defensive gedrängten Muslimen, dass der Islam doch eine Religion des Friedens sei, einmal beiseite lassen.

Jacinda Ardern als politisches Vorbild

Eine ähnlich menschlichkeitsbejahende Wirkung wie die letzte Geste von Daud Nabi hat die Politik von Neuseelands Premierministern Jacinda Ardern, die ebenso besonnen wie entschieden auf die Tragödie reagierte. Ardern, die kurz vor der Tat eine E-Mail mit dem hasserfüllten Manifesto des Täters erhielt, bezeichnete die Vorgänge früh als „Terrorismus“ und setzte als ersten praktischen Schritt umgehend eine Änderung der Waffengesetze in Bewegung.

Vor allem aber legte sie jene wertvolle Führungsqualitäten an den Tag, die in der Welt von heute mehr denn je gefragt sind: Authentizität, die Kapazität zuzuhören und aufrichtiges Mitgefühl. Ardern trug dazu bei, dass Neuseeland aus dem Anschlag zusammengewachsen hervorgegangen ist.

Das beständige Klima von Ausgrenzung und Dämonisierung trägt zu jenem vergifteten Nährboden bei, aus dem Extremisten wie der Täter von Christchurch ihre Energie und ihr Gefühl von Berechtigung ziehen.“

Am Tag nach dem Anschlag besuchte Ardern trauernde Mitglieder der muslimischen Gemeinde. Ein Video, das ein Abgeordneter von Arderns Labour-Partei teilte, zeigt die Premierministerin wie sie in ein schwarzes Kopftuch gekleidet die Gemeinde mit „Asalamu alaykum“ – Frieden sei mit Euch – begrüßt und ihren eigenen Tränen freien Lauf gewährt. Den Trauernden in der Moschee lässt sie bei diesem Treffen Zeit, ihren Kummer auszusprechen und das Gespräch zu leiten.

Gegenüber Donald Trump sagte Ardern, sie wünsche sich von ihm, dass er „Mitgefühl und Liebe gegenüber allen muslimischen Communities“ zeige. Arderns Botschaft in Richtung Washington ist von essentieller Bedeutung, denn sie spielt auf einen oft nicht hinreichend beachteten Zusammenhang hin: Islamhass und Islamophobie sind in den letzten Jahren immer salonfähiger geworden.

Gefährliches Klima der Islamophobie

Das beständige Klima von Ausgrenzung und Dämonisierung wird von Donald Trump und anderen Politikern geschürt, oft genug mit massenmedialer Unterstützung. Dies trägt zu jenem vergifteten Nährboden bei, aus dem Extremisten wie der Täter von Christchurch ihre Energie und ihr Gefühl von Berechtigung ziehen. Es sind ja nur Tweets, rhetorische Tiraden und tendenziöse Schlagzeilen, könnte man einwenden – doch die Kraft der Worte sollte nicht unterschätzt werden.

Die meisten Opfer des Terroranschlags waren Muslime aus Pakistan, Indien und Afghanistan. Sie waren Flüchtlinge, die in Neuseeland eine neue Heimat gefunden hatten. Sie fühlten sich sicher und wurden von den allermeisten Neuseeländern als Nachbarn akzeptiert und geschätzt. Der Anschlag vom Freitag erscheint nun ein Stück weit als ein Wendepunkt in der internationalen Wahrnehmung.

Das Zusammenrücken der Trauernden, der Führungsstil von Jacinda Ardern, die Menschlichkeit von Opfer Daud Nabi – all dies führt vor Augen, dass die Bruchlinien in unserer modernen Zivilisation nicht Islam gegen Christentum, Muslime gegen den Westen oder Flüchtlinge gegen Einheimische heißen. Vielmehr geht es um Inklusivität gegenüber Ausgrenzung, Empathie gegenüber Hass und Menschlichkeit gegenüber Verhärtung. Von der Stärkung dieser Werte hängt es ab, dass sich Ereignisse wie der Angriff von Christchurch nicht wiederholen.