„Glatt wie Glanzpapier“ oder doch ein Historiker mit Ecken und Kanten? Gilbert Trausch dominierte die Luxemburger Geschichtsschreibung jahrzehntelang. Seine Arbeit über die Entstehung der Luxemburger Nation bleibt wertvoll in der aktuellen Identitätsdebatte.
Dunkle Hornbrille, himmelblaues Sakko, der erhobene Zeigefinger des Lehrers und eine sanfte, aber feste Stimme: Gilbert Trausch erklärt und erzählt die Geschichte von Robert Schuman in einem halbstündigen Beitrag für das „Hei elei“ im Juni 1986. So werden ihn wohl die meisten nach seinem Tod am vergangenen Sonntag in Erinnerung behalten: Als jenen Historiker, der ihnen im Radio oder im Fernsehen die Luxemburger Geschichte erzählt – oft anlässlich des Nationalfeiertags.
Diese Rolle als Geschichtslehrer der Nation war für Gilbert Trausch Segen und Fluch zugleich. Segen, weil sie ihm wohl den Höhepunkt seiner Karriere bescherte, als er 1989 anlässlich der 150-Jahrfeier der Unabhängigkeit Luxemburgs vor Staats- und Regierungschefs seinen berühmten Vortrag über die Entstehung der Luxemburger Nation hielt. Fluch, weil er in seiner Rolle als „offizieller“ Historiker mit Staatsauftrag in den Augen von Kritikern jenen kritischen Geist vermissen ließ, der sein frühes Werk prägte.
Mit Wissenschaft gegen Mythen
Einen Namen machte Gilbert Trausch sich mit seinen Arbeiten zum „Klëppelkrich“ ab Ende der 1950er Jahre. Sie stehen für gleich mehrere wichtige Neuerungen, die er in die Luxemburger Geschichtsschreibung einbrachte.
„Trauschs größtes Verdienst ist es, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Luxemburg eingeführt zu haben“, betont Michel Pauly, emeritierter Professor der Universität Luxemburg. So sah Trausch vor allem sozioökonomische Gründe für den Aufstand der Öslinger Bauern gegen die französische Staatsgewalt Ende des 18. Jahrhunderts, erklärt Pauly.
Während knapp 30 Jahren begleitete er Studenten.“Jean-Marie Majerus
Trausch brach auf diese Weise mit der Tradition. „Er stellte sich gegen die patriotischen Erzählungen der 1920er und 1930er Jahre“, erklärt der Leiter der „Maison Robert Schuman“, Jean-Marie Majerus. Ganz offen betrieb Trausch eine Aufklärungsarbeit gegen den Mythos des „Klëppelkrich“ als religiöser und nationaler Aufstand gegen das laizistische Revolutionsfrankreich, wie Monique Kieffer 2011 schrieb. Er stützte sich auf historische Quellen und deren wissenschaftliche Analyse, während die früheren Einschätzungen auf mündliche Überlieferung zurückgriffen.
Lehrmeister einer Historikergeneration
Diese wissenschaftliche Sorgfalt gab Trausch ab 1966 an die Geschichtsstudenten am Cours supérieur – dem Vorläufer des Centre universitaire – weiter. „Während knapp 30 Jahren begleitete er Studenten“, erzählt Jean-Marie Majerus, der selbst ab 1980 Trausch-Schüler war.
Fast wichtiger war aber seine informelle Rolle bei ungezählten universitären Abschlussarbeiten: Er half Luxemburger Studenten an ausländischen Unis ein geeignetes Thema zu finden und so zu verhindern, dass mehrere an der gleichen Forschung arbeiteten. Das war durchaus von Bedeutung, wie Michel Pauly erklärt: „Es gab damals keine Uni Luxemburg und die Forschung bestand zum größten Teil aus den Abschlussarbeiten.“ So verschaffte sich Trausch auch einen Fundus an Grundlagenforschung, die er für seine eigenen Arbeiten verwenden konnte.
Parallel war Gilbert Trausch von 1972 bis 1984 Direktor der Nationalbibliothek. In dieser Zeit schrieb er ebenfalls zwei Bände einer vierteiligen Schulbuchreihe zur Luxemburger Geschichte. Ihm fiel die Aufgabe zu, über die Zeit von 1715 bis 1960 zu schreiben. Aus dem früheren Fachmann für die Zeit der französischen Revolution wurde nun auch ein Experte für die Zeitgeschichte.
Der Überparteiliche
Gerade für seinen Band über die Zeit nach 1839 gelang Trausch das seltene Kunststück sowohl von konservativen als auch linken Intellektuellen gelobt zu werden, wie Monique Kieffer in ihrer Kurzbiografie hervorstreicht. „Tabus gibt es für den Historiker Trausch keine“, schrieb ein Rezensent im „Luxemburger Wort“ und meinte das tatsächlich positiv.
Gilbert Trausch war der erste Historiker, der eine spürbare Medienpräsenz hatte“Michel Pauly
Bereits bei seinen Veröffentlichungen zum „Klëppelkrich“ gab es Wohlwollen aus konservativen Kreisen und regelrechten Beifall in linken Publikationen – etwa von Ben Fayot im „Tageblatt“. Trausch hatte – gewollt oder nicht – ein Geschichtsbild entworfen, dem sowohl kirchliche Kreise als auch das antiklerikale und liberale Milieu zustimmen konnten.
„Gilbert Trausch hatte zu allen politischen Seiten gute Kontakte“, betont Jean-Marie Majerus. Dazu zählt auch die Gewerkschaft LAV – die Vorgängerin des OGBL -, die Trausch Anfang der 1970er Jahre mit einer Geschichte der Organisation beauftragte. Zwar war Trausch ein „Minetter“ und wuchs in Differdingen auf, doch sein Vater zählte als Ingenieur in der Stahlindustrie zum katholischen Bürgertum.
Der mediale Historiker
Gilbert Trausch gelang es demnach spannende Thesen aufzustellen und gleichzeitig auf Konsens zu setzen. In dieser Rolle als Vermittler war er auch interessant für Medien. So schrieb er etwa für das „Lëtzebuerger Land“ einen Beitrag zum Jahrestag des „Referendum“ von 1941 und 1987 zu 50 Jahren „Maulkueref“-Gesetz von 1937. Dazu kamen Beiträge für das „Hei elei“ von RTL.
„Gilbert Trausch war der erste Historiker, der eine spürbare Medienpräsenz hatte“, sagt Michel Pauly. Für Jean-Marie Majerus lag das auch an dessen pädagogischem Talent: „Es gelang ihm, Geschichte einfach und plausibel darzustellen.“
Trauschs Fähigkeit, historische Zusammenhänge zu vermitteln war der Segen, der ihn zum Geschichtslehrer der Nation machte. Doch seine Wirkkraft steigerte sich nochmals, als er zusammen mit den Historikern Jules Christophory und Christian Calmes sowie dem Diplomaten Jean-Jacques Kasel das Projekt einer Feier von 150 Jahren Unabhängigkeit ersann. Der damalige Premier Jacques Santer (CSV), den Trausch persönlich kannte, akzeptierte die Idee schnell.
Der Staat erscheint als Gebärmutter der Luxemburger Nation.“Gilbert Trausch
Dass Luxemburg seine Unabhängigkeit 1989 feierte, war dabei alles andere als offensichtlich. Trausch legte mehr Wert auf das Datum 1839 als seine Vorgänger. Bis zu diesem Punkt sei das 1815 beim Wiener Kongress entstandene Großherzogtum eine reine Fiktion gewesen, argumentierte er. Heute hat sich das Datum etabliert: 2014 feierte die Regierung 175 Jahre Unabhängigkeit – diesmal in bescheidenem Rahmen.
Trauschs große Erzählung
Die Feier am 18. April 1989 wird zum Triumph für Trausch. Seine Rede wird im Radio übertragen, in Zeitungen abgedruckt und später als Broschüre veröffentlicht. Zusätzlich findet eine Ausstellung in der Victor-Hugo-Halle in Limpertsberg statt und wird ein Sammelband veröffentlicht.
Seine Hauptthese: „Der Staat erscheint als Gebärmutter der Luxemburger Nation“. Die ab 1839 entstehenden staatlichen Institutionen hätten nach und nach ein Nationalgefühl entstehen lassen. „De l’Etat à la Nation“ lautete der Titel seines Vortrags. Mit dem Widerstand gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg sei der Prozess der Nationsbildung abgeschlossen worden, sagte Trausch damals. Damit vertrat er die Ansicht, dass es den Luxemburger nicht schon immer gab, sondern dass die Nation letztlich ein Konstrukt ist. In den nationalistisch angehauchten 1980er Jahren war dies alles andere als selbstverständlich.
In der Folge wurde Trausch zum Staatshistoriker. Er erhielt das Forschungsinstitut „Centre d’études et de recherches européennes Robert Schuman“, wo er zum Direktor wurde. Im Rang eines Regierungsrates unterstand er dabei unmittelbar dem Staatsminister. Parallel veröffentlichte er schwere Bildbände mit Synthesen der Luxemburger Geschichte, während er ebenfalls die Forschung über die europäische Einigung vorantrieb. Platz für kritisches Denken war im engen Kokon des Staatsbetriebs kaum.
„Totem Trausch“
Durch seine faktische Monopolstellung unter den Historikern wurde Trausch zur Autorität, an der sich jüngere Intellektuelle abarbeiteten. Während Trausch in den 1960er Jahren liebgewonnene Ansichten vom Podest holte, stand er nun selbst auf einem Sockel.
Bereits 1983 beklagte der Historiker Henri Wehenkel in einer marxistischen Zeitschrift, dass Trausch eine monopolistische Stellung in der Geschichtsschreibung habe. Inhaltlich kritisierte er etwa Trauschs Einschätzung von Joseph Bech und dessen Rolle beim „Maulkorb“-Gesetz. Doch dann kam lange nichts. Victor Weitzel schrieb 1991 gar vom „Totem Trausch“, den niemand anzufassen wage. „Fast jeder war irgendwann einmal sein Schüler“, erklärt sich Weitzel diese Zurückhaltung.
„Glatt wie Glanzpapier“
Romain Hilgert mokierte sich 2000 im „Land“ über den „Nationalhistoriker Trausch“, „der seit Jahrzehnten zuverlässig und staatstragend für Verlage, Banken und akademische Sitzungen“ Texte liefere. Auch der damals neueste Bildband Le Luxembourg au tournant du siècle et du millénaire sei „glatt wie Glanzpapier“. Das Buch enthalte keinen einzigen kritischen Gedanken, bemängelte der heutige Chefredakteur des „d’Lëtzebuerger Land“.
2007 unternahm der Historiker Benoît Majerus zu Beginn seiner Karriere den bisher letzten Versuch, den Nationalhistoriker vom Podest zu holen. Sein Vorwurf: Ab den 1980er Jahren habe Trauschs Werk vor allem dazu gedient, den Luxemburger Staat und die Nation zu legitimieren. Majerus schockierte damals mit seinem Vortrag und hält manches davon heute selbst für überspitzt, wie er dem „Tageblatt“ erzählte.
Die übersehenen Nuancen
Sowohl Trauschs Kritiker als auch seine Verehrer übersehen jedoch, dass er seine Vermittlerstellung nutzte, um die Luxemburger manch bittere Erkenntnis schlucken zu lassen. „Jedes Mal, wenn ich einen Text von Trausch lese, und mag er noch so apologetisch und monarchistisch klingen, gelange ich immer wieder zur Überzeugung, dass er von derselben Sache spricht wie ich, nur anders und besser belegt“, wunderte sich Victor Weitzel über die schlummernde Tiefgründigkeit in Trauschs Texten.
Tatsächlich finden sich beide Seiten der Medaille in seinem Werk. Im 2002 erschienenen Band zur Geschichte Luxemburgs erzählt Trausch die glorreichen Momente des Widerstands im Zweiten Weltkrieg. Doch wenige Seiten weiter macht er auch deutlich, dass die Zahl der Resistenzler sich in etwa die Waage hielt mit jener der Kollaborateure. Weit entfernt vom Hurra-Patriotismus des „Let’s make it happen“ beschreibt er darin ebenfalls die Entstehung des Finanzplatzes als einen Zufall, eine Entwicklung unabhängig von den Taten der Regierung.
Ein anderes Konzept der Nation
Vor einer Identitätskrise in Luxemburg warnte er 2007 in der Neuauflage des Bandes von 1989. Diese machte er an der Debatte über den 700.000-Einwohner-Staat fest, den Streit über den „Roude Léiw“ als Nationalflagge und das knappe Ja im Referendum zur EU-Verfassung. Diese Krise komme in einer Zeit, in der Luxemburg sich eigentlich weiter öffnen müsse, so Trausch.
Der wachsende Anteil an Nicht-Luxemburgern in der Bevölkerung trieb Trausch um. „Die mittel- und langfristigen Folgen scheinen besorgniserregend“, schrieb er 2002. Bereits in seinem 1975 erschienenen Schulbuch beschäftigte sich Trausch mit der Geschichte der Einwanderung – eine Premiere in der Luxemburger Geschichtsschreibung, so Pauly.
Trauschs Überlegungen dazu führten soweit, dass er seine eigenen Ansichten von 1989 revidierte. Heute sei Luxemburg nicht mehr das gleiche Land wie noch 1989, schrieb er 2007 in der Zeitschrift forum. Deshalb brauche es auch ein neues Konzept der Nation. Trausch sprach sich für einen „Verfassungspatriotismus“ aus – sprich, dass sich Nicht-Luxemburger mit dem Gemeinwesen hierzulande identifizieren. Es wäre eine Umkehrung seiner 1989er Prämisse: von der Nation zum Staat.
„Sich selbst so in Frage zu stellen: Das zeigt wahre geistige Größe“, meint Michel Pauly.