Luxemburgs Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Viele Menschen haben aber nur begrenzten oder gar keinen Zugang. Betroffene, die Hilfe in Anspruch nehmen, fühlen sich dabei oft stigmatisiert. Ein Systemwandel ist aber nicht in Sicht.
Dicke Tränen kullern der Frau über die Wangen. Zwei Angestellte kümmern sich um sie, reden auf sie ein – so lange bis sie sich wieder gefangen hat. Sie sitzt am Schalter der Gesundheitskasse CNS, sucht Hilfe, sucht Rat. „Es kommt häufig vor, dass die Menschen, die zu uns kommen, emotional werden und weinen müssen“, erzählt Sylvie Schönenberger. „Oft sind sie verzweifelt, weil sie von einem plötzlichen Schicksalsschlag getroffen sind oder ihre Rechnungen einfach nicht mehr zahlen können.“
Schönenberger arbeitet an einem der neun Schalter der CNS in der Route d’Esch in Luxemburg-Stadt. Sie kennt viele solcher Geschichten, musste selbst schon trösten, helfen, erklären.
Der Wartesaal der CNS ist an diesem Morgen gut gefüllt. Nummer ziehen, Schlange stehen und warten bis man drankommt. Standardprogramm für Menschen, die hierhin kommen. Einige wollen einfach nur eine kurze Auskunft. Andere haben größere Probleme.
Das „beste“ Gesundheitssystem – aber nicht für jeden
Eines dieser Probleme ist die Sorge, wie man seine Arztrechnung zahlen soll. „Das ist eine der Hauptursachen, warum die Menschen zu uns kommen“, so Schönenberger.
Dabei gilt Luxemburgs Gesundheitssystem als eines der besten der Welt. Mars Di Bartolomeo (LSAP) habe es einmal als „das Beste der Galaxis“ gelobt, wie das „Lëtzebuerger Land“ schreibt. Was aber nur selten erwähnt wird: Nicht alle haben Zugang zum „Besten“.
Vor allem Einkommensschwache haben häufig Ärgernisse im Versorgungsalltag. Das System will ihnen zwei Möglichkeiten zur Abhilfe bieten. Einmal die Sofort-Zurückerstattung an einem Schalter der CNS oder den Tiers payant social. Doch auch diese beiden Methoden stoßen in Luxemburg an ihre Grenzen.
Warten auf die Rückerstattung
Wer die Möglichkeit hat, das Geld für einen Arzttermin vorzustrecken, kann sein Geld sofort an einem der CNS-Schalter zurückerstattet bekommen. Er muss die Rechnung dann nicht extra per Post einschicken und auf die Rückerstattung warten. Einzige Bedingung: Die Rechnung muss höher als 100 Euro sein.

Wer jetzt aber denkt, dass nur sozial schwache Menschen sich bei den Schaltern anstellen, um ihr Geld zurückzubekommen, der irrt. „Wir haben von Beamten über Arbeiter bis hin zu Freischaffenden alle möglichen Gesellschaftsklassen hier. Das zeigt, dass die Menschen ihr Geld brauchen – unabhängig davon, was sie verdienen“, so Martha Maar von der CNS. „Manche warten auch schon mal zwei Stunden bei uns, um ihr Geld zu bekommen“, so Maar weiter. Etwa 5.000 Schecks stellen die 16 Agenturen der CNS pro Tag aus. Es stellt sich die Frage, ob das öffentliche Gesundheitssystem dann tatsächlich so gesund ist, wie es dargestellt wird. „Ideal ist es nicht“, so Maar. „Aber auch schwer zu ändern.“
Tiers payant social soll Zugang vereinfachen
Was aber, wenn der Patient das Geld für den Arztbesuch gar nicht erst vorstrecken kann? Im Januar 2013 wurde für einkommensschwache Personen mit Wohnsitz in Luxemburg der Tiers payant social eingeführt. Er soll ihnen einen einfacheren Zugang zur ärztlichen Versorgung ermöglichen, indem ihre Arztkosten direkt von der Gesundheitskasse übernommen werden.
Es ist nicht die CNS, die entscheidet, ob ein Antragsteller die Bedingungen für einen Tiers payant social erfüllt, sondern das Sozialamt. Erfüllt er diese, bekommt er vom Sozialamt die gelben Etiketten mit seiner persönlichen Sozialversicherungsnummer für drei Monate ausgestellt. Bei einem Arztbesuch gibt der Patient eine dieser Etiketten ab und muss dann die Kosten nicht selbst übernehmen. Die werden dann vom Sozialamt direkt an den Arzt gezahlt.
„Jedes Sozialamt macht, was es will“
Wer aber vom Tiers payant social Gebrauch machen kann, scheint mehr als willkürlich zu sein. Unter welchen Bedingungen ein Patient diesen anfragen kann, steht nirgendwo geschrieben. Auf der Informationsplattform Guichet.lu steht lediglich, dass der Antragsteller „die erforderlichen Bedingungen“ erfüllen, seinen Wohnsitz in Luxemburg und hierzulande krankenversichert sein muss. Mehr nicht.
Jean-Paul Reuter, Leiter des Sozialamtes in Differdingen, sagt, dass es keine einheitlichen Kriterien gibt. „Es gibt keine Vorgaben dafür, wer Anspruch auf den Tiers payant social hat. Es gibt in Luxemburg 30 Sozialämter und jedes macht, was es will.“ Klare Worte, die zeigen, wie beliebig über das Schicksal oder die Gesundheitsversorgung der Menschen entschieden wird. „Ich kenne Sozialämter, die gar keinen Tiers payant social bewilligen. Sie sagen stattdessen, dass die Menschen mit ihren Rechnungen vorbeikommen sollen.“ Jeder Fall müsse einzeln betrachtet werden, so Reuter weiter.
„Wir in Differdingen haben beispielsweise ein Ausschlusskriterium für die Vergabe des Tiers payant social. Drogenabhängigen bewilligen wir keinen Zugang, weil die Gefahr besteht, dass sie das System ausnutzen.“ Er sagt auch: „Wir haben absoluten Freiraum, wem wir den Tiers payant social bewilligen. Kontrollen gibt es keine. Es gibt in Luxemburg auch kein einheitliches Sozialsystem.“
„Pauschale Kriterien machen wenig Sinn“
Ganz so einfach sieht es Marc Meyers vom Familienministerium nicht. Er sagt, eine gewisse Flexibilität sei wichtig, damit jeder einzelne Fall korrekt untersucht werden kann. „Ob jemand den Tiers payant social zugesprochen bekommt, muss individuell analysiert werden“, so Meyers. Hat jemand eine chronische Krankheit, hat er ein niedriges Gehalt oder einen kinderreichen Haushalt – all das könne eine Rolle spielen. „Pauschale Kriterien gibt es tatsächlich nicht – das würde aber auch wenig Sinn machen“, so Meyers.
Es muss endlich ein System her, das dieses Stigma aufhebt.“Isabelle Gerard, MDM
Obwohl die Bedingungen vage erscheinen, steigt die Zahl derer, die in Luxemburg auf den Tiers payant social zurückgreifen. Die Zahl stieg in den vergangenen Jahren rasant an. 2015 waren es 24.677, im Jahr 2016 waren es 33.116 und im vergangenen Jahr stieg die Zahl auf 38.567 Rechnungen.
Hilfe wird demnach benötigt. Doch nicht alle Betroffenen wollen auch auf diese Hilfe zurückgreifen. Hinter dem Etiketten-System des Tiers payant social verbirgt sich nämlich ein Problem: Viele Patienten fühlen sich dadurch stigmatisiert, weil sie die gelben Kärtchen bei jedem Arztbesuch vorzeigen müssen. Auf den ersten Blick wird dadurch klar: Ich kann mir meinen Arztbesuch auf normalem Weg nicht leisten. „Es muss endlich ein System her, das dieses Stigma aufhebt“, so Isabelle Gerard von der Organisation Médecins du Monde (MDM).
Schutzbedürftige nicht ausschließen
Die Verantwortlichen dieser Organisation wissen genau, dass längst nicht jeder Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem hat. Sie bieten all denjenigen eine medizinische Versorgung, die hierzulande nicht krankenversichert – und somit vom System ausgeschlossen sind. Zu den Betroffenen gehören häufig Obdachlose, aber auch Asylbewerber oder Drogenabhängige.
Zu uns kommen in der Regel besonders schutzbedürftige Personen.“Isabelle Gerard, MDM
Aber nicht nur sie. Auch Menschen mit einer Sozialversicherung, die sich nicht trauen den Tiers payant social anzufragen, behandeln die Médecins du Monde. „Es gibt natürlich auch Menschen, die sich für ihre Situation schämen und deshalb lieber zu uns kommen, als einen offiziellen Antrag in einem Sozialamt stellen zu müssen“, erklärt Isabelle Gerard. Sie ist Sozialarbeiterin bei der Organisation.
Insgesamt arbeiten dort etwa 100 Freiwillige – unter anderem Ärzte, Krankenpfleger, Psychologen, Sozialarbeiter.
Die Versorgung, die Médecins du Monde parallel zum öffentlichen Gesundheitssystem anbietet, ist kostenlos. Die Organisation finanziert sich von Spenden. „Zu uns kommen besonders schutzbedürftige Personen“, so Isabelle Gerard. „All diejenigen, die vom öffentlichen System ausgeschlossen werden.“ Im Jahr 2017 zählte Médecins du Monde 2.144 Behandlungen und 784 Patienten.
Das Luxemburger System müsse „inklusiver“ werden, sagt die MDM-Direktorin Sylvie Martin. Nur so könne jeder die Möglichkeit auf eine gute medizinische Versorgung bekommen. Ähnlich beschreibt es Isabelle Gerard. „Ein Tiers payant généralisé wäre eine gute Möglichkeit, weil dann jeder die Möglichkeit hätte, zum Arzt zu gehen – ohne dass er dabei stigmatisiert wird.“
Doch gegen ein Drittzahlsystem wehren sich die Ärzte. Ändert sich aber nichts an der aktuellen Lage, liegt das Schicksal von sozial schwachen Menschen weiterhin vor allem in den Händen der Sozialämter und Hilfsorganisationen wie Médecins du Monde.