Am 3. Mai 1968 evakuierte die Pariser Polizei die von rund 500 Studenten besetzte Universität Sorbonne. Es war der Beginn des Pariser Mai, der in den darauffolgenden Wochen Millionen Menschen auf die Straße trieb. Pflastersteine flogen, Autos brannten. Studenten, Arbeiter, Künstler und Intellektuelle solidarisierten sich, lähmten mit einem Generalstreik das ganze Land und forderten den Rücktritt der Regierung.

50 Jahre später gedenkt Frankreich den damaligen Ereignissen. REPORTER hat mit dem linken französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie über das Erbe des Pariser Mai gesprochen.

Interview: Judith Kormann

Geoffroy de Lagasnerie, heute vor 50 Jahren brach der Pariser Mai los. Sind die damaligen Ereignisse heute noch in der französischen Gesellschaft präsent?

Ich würde sagen, die 68er-Bewegung ist heute zuallererst als Mythos präsent. Die französische Linke sieht ihn als einen Moment der politischen Reinheit, den sie gerne erneut erleben würde. Für die Rechte ist der Pariser Mai der Moment, der eine Krise der Moderne ausgelöst hat. Für sie hat er die damaligen Werte der Erziehung, Autorität, Tradition und Familie erschüttert.

Derzeit demonstrieren in Frankreich Eisenbahner, Studenten und Beamte gegen die Reformpläne von Emmanuel Macron. Dabei wird immer wieder der Ruf nach einem vereinten Widerstand laut. Ist das der Versuch, einen neuen Pariser Mai zu starten?

Natürlich. Verschiedene Protestbewegungen, die sich zusammentun und zur Einheit aufrufen: Das ist eine Nachahmung von 1968. Was wir aber tatsächlich erleben, ist das Gegenteil von 1968. Damals setzten die Protestbewegungen ihre Forderungen gegen die Regierung durch. Heute reagieren sie auf die Pläne der Regierung. Eine 68er-Bewegung wäre zum Beispiel ein Streik für die 32-Stunden-Woche. Wird es den Protestbewegungen helfen, auf den Mythos des Pariser Mai zurückzugreifen, um die Regierung von ihren Vorhaben abzubringen? Ich denke nicht.

Wir müssen 1968 in die Vergangenheit befördern und uns auf die Gegenwart konzentrieren. Die großen Herausforderungen der Intellektuellen heute ist, mit der Mythologie zu brechen.“

Warum nicht?

1968 war ein revolutionärer Moment. Alle Kämpfe spielten sich zugleich ab: Millionen Menschen gingen auf die Straße, die Anti-Rassismus-Bewegung, die Bewegung für Frauenrechte, die Homosexuellenbewegung, Umweltschützer und Studenten. Das hat in der Linken die Idee aufkeimen lassen, dass wir, wenn wir eine radikale Politik verfolgen wollen, wieder einen solchen Moment erzeugen müssen. Ich kenne keine linke Bewegung Frankreichs der letzten zehn Jahre, die nicht versucht hat, 1968 zu kopieren.

Warum ist das problematisch?

Weil dadurch jede Protestbewegung als klein und schwach erlebt wird, wenn sie keine neue Revolution startet. Und das geht nach hinten los.

Haben Sie ein Beispiel?

Im Frühjahr 2016 demonstrierten die Franzosen gegen die Arbeitsmarktreform Loi de travail, ein großer Protest. Aber das war den Leuten nicht genug, sie wollten alles zugleich revolutionieren. So entstand die Bewegung Nuit Debout. Diese forderte nichts Konkretes, sondern wollte ganz einfach ein Ende des Systems. Dadurch wurden die Energien des anfänglichen Protests zerstreut. Ich glaube nicht an die Revolution, weil ich nicht glaube, dass man alles auf einmal ändern kann.

Die Frage der Gewalt ist sekundär. Viel entscheidender ist: Handeln wir für mehr Gerechtigkeit oder nicht?“

 

Hört man Ihnen zu, dann bekommt man den Eindruck, als wäre das Erbe der 68er-Bewegung für Frankreichs Linke vor allem negativ…

Der Pariser Mai ist ein sehr komplexer Moment der Geschichte. Teile seines Vermächtnisses sind sehr positiv. Es gab damals eine starke Entwicklung sozialer Bewegungen, die wir heute weiterführen wollen, zum Beispiel die Homosexuellenbewegung, die Transgender-Bewegung, die feministische Bewegung, die Umweltbewegung oder die Anti-Rassismus-Bewegung. Ich würde auch nicht sagen, dass das Erbe von 1968 negativ ist. Aber es wirkt negativ, wenn wir versuchen, diese Bewegung zu kopieren. Wir müssen 1968 in die Vergangenheit befördern und uns auf die Gegenwart konzentrieren. Die großen Herausforderungen der Intellektuellen heute ist, mit der Mythologie zu brechen.

Geoffroy de Lagasnerie, geboren 1981, ist ein linker Philosoph, Soziologe und Autor mehrerer Bücher. Er ist Professor für Philosophie an der École Nationale Supérieure d’Arts in Cergy. (Foto: Raphael Schneider)

Wie wollen Sie das anstellen?

Der Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu vertrat die Auffassung, dass der Pariser Mai nicht das Zusammenlaufen vieler Kämpfe war, sondern vielmehr eine Synchronisation: verschiedene Kämpfe fanden zufällig zur gleichen Zeit statt. Wenn wir wieder politisch Gewicht haben wollen, müssen wir jede Protestbewegung einzeln führen, mit eigenen Mitteln. Und wir müssen neue Vorgehensweisen erfinden, die die Regierung überraschen. Streiks und Demos haben diese Kraft nicht mehr.

Was wären solche neuen Vorgehensweisen?

Zum Beispiel politische Gewalt und direkte Aktionen. Ich interessiere mich sehr für Gruppen wie den schwarzen Block. Sie lassen sich die Arten des Protests nicht vom Staat vorschreiben.

Der schwarze Block schlägt Schaufenster ein, verbrennt Autos und verstößt damit gegen geltendes Recht. Das haben wir erst am ersten Mai in Frankreich wieder gesehen. Billigen Sie das?

Die Frage der Gewalt ist sekundär. Viel entscheidender ist: Handeln wir für mehr Gerechtigkeit oder nicht? Vor zwei Wochen berichtete „The Guardian“ über die französische Polizei, die von italienischen Hilfsorganisationen beschuldigt wird, die Dokumente minderjähriger Migranten zu fälschen, um sie zurück nach Italien schicken zu können. Und das, obwohl sie als Minderjährige geschützt werden müssten. Das ist Gewalt und verstößt gegen das Recht. Warum sollte die Linke ihr Handeln hinterfragen, wenn der Staat es nicht tut?

Wenn man eine Bewegung beschreibt, konzentriert man sich oft nur auf die Seite, die aufbegehrt, nicht aber auf jene, die den Aufbegehrenden Widerstand leistet.“

Und das entschuldigt die Gewalt des schwarzen Blocks?

Ich würde nicht sagen, dass der schwarze Block Gewalt zum Ziel hat. Vielmehr will er die Gesellschaften konfliktreicher machen und zeigen, dass das Programm der Regierung Widerstand hervorruft. Ein Schaufenster einzuschlagen, ist vielleicht unglücklich, aber nicht sehr schlimm. In den Vorstädten zündet die Jugend Autos an, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Ich sehe diese Flammen eher als Zeichen der Verzweiflung. Es ist ein Instrument, um sich Gehör zu verschaffen. Ein weiteres Mittel des Widerstands ist übrigens die Justiz.

Die Justiz?

Ja genau. Ich meine damit, Klage gegen den Staat zu erheben. Die am meisten verurteilte Person Frankreichs ist der Polizeipräfekt von Paris mit 135 Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstößen gegen das Asylrecht. Das Recht gegen den Staat einzusetzen, ist ein wichtiger Punkt des heutigen Widerstandes. Die Rolle der Intellektuellen muss es sein, solche Arten des Kampfes aufzuzeigen.

Sie sagten einmal, wenn Sie ein Symbol für Mai 68 wählen müssten, dann wäre das der Schlagstock. Warum ?

Wenn man eine Bewegung beschreibt, konzentriert man sich oft nur auf die Seite, die aufbegehrt, nicht aber auf jene, die den Aufbegehrenden Widerstand leistet. Doch ein politisches Event hat immer zwei Seiten. Die Geschichte von 1968 ist auch die Geschichte der Polizei. Ich habe den Schlagstock gewählt, weil ich daran erinnern wollte, dass es auf Guadeloupe einen Mai 1967 gab, einen Aufstand mit 80 Toten, der von der Polizei brutal niedergeschlagen wurde und viel weniger mediatisiert wurde. Und ich denke, dass der Pariser Mai ein Moment war, in dem der Staat den Widerstand als etwas definiert hat, das die Ordnung bedroht. Er nahm ihn nicht als Instrument der Demokratie wahr, sondern als einen Feind, den man bekämpfen muss. Das ist bis heute so.

Die Linke muss aufhören, gegenüber der Rechten in die Defensive zu gehen. Sie muss wieder autonom werden, mit ihrer eigenen Sprache und ihren Themen.“

Wie sehen Sie das diesjährige Gedenken an den Pariser Mai in Frankreich?

Mich schockiert, dass die 68er-Bewegung heute keine Angst mehr macht. Es gibt in Paris zum Beispiel eine Ausstellung über die Plakate der damaligen Zeit. Das sind Plakate, die die Polizei, die Medien und den Staat anprangern. Doch heute sind es schlichte Anschauungsobjekte. Das ist die Schuld der Rechten und der Linken, die sagen, lasst uns alle gemeinsam dieses Moments gedenken. Das neutralisiert die damalige Dimension der Konfrontation.

Mit dem Schriftsteller Edouard Louis haben Sie 2015 ein Manifest verfasst über die „Sackgasse“, in der sich Frankreichs Linke befindet. Was haben Sie ihr vorgeworfen?

Die Linke muss aufhören, gegenüber der Rechten in die Defensive zu gehen. Sie muss wieder autonom werden, mit ihrer eigenen Sprache und ihren Themen. Einer der Fehler der sozialen und intellektuellen Bewegung der letzten 15 Jahre war, die Rechte ins Zentrum der Debatte zu rücken. Die Folge: In Frankreich wird der Rechten heute weit mehr Bedeutung geschenkt als der Linken. Wenn 200 Leute gegen die Abtreibung demonstrieren, werden zehn Zeitungen darüber berichten. Wenn 200 Leute in einer Vorstadt hingegen gegen Polizeigewalt demonstrieren, kommen kaum Medien.

Woran liegt das?

Am Tod großer Intellektueller wie Michel Foucault, Pierre Bourdieu oder Jacques Derrida. Sie waren die Erben des Pariser Mai und traten mit sozialen Bewegungen in Verbindung. Ihr Tod hat der Rechten mehr Platz gelassen. Danach zogen sich die Intellektuellen in Frankreich stark in die Universitäten zurück. Was wir heute versuchen, ist die Figur eines kritischen Intellektuellen wieder zu erfinden, der zugleich im öffentlichen und akademischen Raum präsent ist.

Konnte die französische Linke in den letzten Jahren auch Siege erzielen?

Ja, die Ehe für alle zum Beispiel. Das ist einer der großen Siege der Linken, nicht nur in Frankreich, sondern auf internationaler Ebene. Das zeigt, dass wir uns durchsetzen können, wenn wir neue Formen des Protests erfinden.