Wann darf ein Patient noch zum Arzt? Das Ministerium droht Ärzten in einem Schreiben mit Konsequenzen, falls sie sich nicht an die Beschränkungen in der Pandemie halten. Die Mediziner fordern dagegen die Wiedereinführung von Präventiv- und Routineuntersuchungen.

„Als ich das las, ist mir die Galle übergelaufen“, sagt Dr. Fred Erpelding. Der Allgemeinmediziner findet drastische Worte für einen Brief, den er und andere Ärzte Anfang dieser Woche vom Gesundheitsministerium erhalten haben. „Ich war kurz davor meine Berufszulassung an das Gesundheitsministerium zurückzuschicken.“

Der Brief, unterschrieben vom Direktor des Gesundheitsamts Jean-Claude Schmit, schlug bei der gesamten Ärzteschaft hohe Wellen. Der Leiter der Santé drohte mit Kontrollen und Strafen für diejenigen, die sich nicht an die Vorgaben der Regierung halten. Lediglich Notfälle und schwere Krankheiten dürften behandelt werden. Dem Ministerium sei zu Ohren gekommen, dass sich manche Ärzte nicht an diese Vorgaben halten würden, heißt es weiter.

Ärzte wollen neuen Notfällen vorbeugen

Die Strategie des Gesundheitsministeriums bleibt dabei: In der aktuellen Krisenzeit ist die Medizin weitestgehend zentralisiert und soll sich vorrangig auf Covid-19- und sonstige Notfallpatienten konzentrieren. Routineuntersuchungen sind nicht erwünscht.

Die freischaffenden Ärzte plädieren dagegen immer mehr für das genaue Gegenteil. Sie fordern, auch wieder Nicht-Covid-Patienten behandeln zu dürfen. Denn, so das Hauptargument: Je länger man die Patienten mit ihren Beschwerden warten lasse, desto größer könnten die gesundheitlichen Folgen für sie werden. Und das würde sich früher oder später auch auf die Kapazitäten der Krankenhäuser auswirken.

Wir werden eine zweite Welle bekommen. Das werden aber nicht unbedingt Corona-Fälle sein. Sondern andere medizinische Probleme, die man zu lange vernachlässigt hat. »Fred Erpelding, Allgemeinmediziner

Man dürfe andere Krankheitsbilder nicht länger außen vor lassen, sagte auch Dr. Philippe Wilmes im Gespräch mit RTL. „Was vor einem Monat noch nicht als Notfall eingestuft worden ist, kann es mittlerweile sein, weil zu lange gewartet worden ist“, so die Reaktion des Vizepräsident der AMMD auf den Brief der Santé. Die Beschränkungen der medizinischen Versorgung dürften nicht dazu führen, dass sich Krankheiten zu Notfällen verschärfen, die man sonst in frühen Stadien wirksam behandelt hätte.

Ein « Notfall » lasse sich zudem gar nicht immer so einfach definieren, meint Fred Erpelding. Dafür müsse man den Patienten erst einmal sehen, befragen und untersuchen. „Wenn ich dann aber nach der Untersuchung feststelle, dass es gar kein Notfall war, bin ich laut Brief der Santé eigentlich im Fehler“, so der Allgemeinmediziner.

Starker Rückgang in den Notaufnahmen

Die Krisenkommunikation der Regierung hat nicht nur die Ärzteschaft auf den Plan gerufen, sondern auch viele Menschen verunsichert. Das wiederholte Motto „Bleift doheem“ hat dazu geführt, dass sich kaum noch jemand zum Arzt, geschweige denn in eine Notaufnahme traut. Zu groß ist die Angst, sich vielleicht dort mit dem Virus zu infizieren.

Tatsächlich stellen wir, ebenso wie andere Ärzte fest, dass viel zu viele Patienten viel zu spät einen Arzt aufsuchen. »Dr. Emile Bock, Notarzt

Deshalb änderte sich auch die Botschaft der Regierung. Man brauche keine Angst zu haben, einen Arzt aufzusuchen, heißt es. Jeder könne und solle seinen Arzt kontaktieren, wenn nötig. Tatsächlich kann es schwerwiegende Folgen haben, wenn Krankheiten oder akute Beschwerden nicht rechtzeitig behandelt werden. Aus einem leichten Herzinfarkt kann ein schwerer werden, ein unbehandelter Schlaganfall kann irreparable Schäden hinterlassen und ein Krebstumor kann sich ohne Beobachtung im Körper weiter ausbreiten.

Wie die britische Zeitung „The Guardian“ berichtet, sterben in Großbritannien zunehmend Menschen zu Hause, weil Patienten zu lange zögern, um den Notdienst zu rufen. So würden mehr Herzstillstände zu Hause festgestellt werden als in Nicht-Corona-Zeiten. In Luxemburg ist die Zahl der Notfälle, die täglich in den Krankenhäusern behandelt werden, von knapp 900 pro Tag auf etwa 200 bis 300 gesunken.

Warum Präventivmedizin wichtig bleibt

„Tatsächlich stellen wir, ebenso wie andere Ärzte fest, dass viel zu viele Patienten viel zu spät einen Arzt aufsuchen“, schreibt Emile Bock auch auf seiner Facebook- Seite. Der Chef-Koordinator der Notaufnahme der Hopitaux Robert Schuman erinnert daran, dass eine zu späte Behandlung fatale Folgen für den Patienten haben kann – und das unabhängig von der Covid-19-Krise.

Auch er appelliert an die Regierung, dass sie die „normalen“ Patienten nicht vergessen darf und die Präventivmedizin wieder funktionieren muss. Immerhin sei die Sicherheit „von jedem Patienten“ gegeben, sowohl im Krankenhaus als auch in einer Praxis, schreibt er.

Fest steht, dass regelmäßige medizinische Kontrollen – also auch Routineuntersuchungen –  und präventive Maßnahmen dabei helfen können, Krankheiten und Langzeitschäden in Schach zu halten. Bei Untersuchungen wie dem nationalen Mammographie-Programm sollen Patientinnen beispielsweise möglichst vor einer schweren Krebstherapie geschützt werden. Das Programm liegt wie viele andere Behandlungen aber momentan auf Eis. Wann die Patienten einen neuen Termin bekommen, wissen die wenigsten.

Ärzte befürchten eine « zweite Welle »

Auch Spezialisten sagen Termine weiterhin ab. Als Grund gelten auch hier oft die Vorgaben der Regierung. Durch dieses Aufschieben von medizinischen Untersuchungen drohen den Patienten in den kommenden Monaten nicht nur lange Wartezeiten, sondern vielleicht auch Komplikationen, die hätten verhindert werden können.

Allgemein hat jeder Arzt eine berufliche Verantwortung und muss selbst von Fall zu Fall einschätzen können, was dringend behandelt werden muss. »Gesundheitsministerin Paulette Lenert

Hinzu kommt ein großer Arbeitsaufwand für die behandelnden Ärzte. Sie müssen Sprechstunden, Behandlungen und Operationen nachholen, auf die ihre Patienten jetzt seit Wochen warten – zusätzlich zu den neuen Fällen. „Wir werden eine zweite Welle bekommen. Das werden aber nicht unbedingt Corona-Fälle sein. Sondern andere medizinische Probleme, die man zu lange vernachlässigt hat“, meint Fred Erpelding.

Ministerium versucht Wogen zu glätten

Das Gesundheitsministerium versuchte inzwischen, die Wogen wieder zu glätten. Jean-Claude Schmit erklärte, dass es sich lediglich um « einige schwarze Schafe » handele, die man mit dem Brief hätte warnen wollen.

Gesundheitsministerin Paulette Lenert sagt ihrerseits im Gespräch mit REPORTER, dass der Zeitpunkt der « Circulaire » wohl « unglücklich » gewählt war. Immerhin würden schon Gespräche mit den Ärzten laufen, wie man die aktuellen Regeln bald lockern könnte. Ende der Woche will sich die Ministerin dazu äußern. « Dennoch gilt, dass sich bis dahin jeder an die bestehenden Regeln halten muss. Sie sind weiterhin verbindlich », so Paulette Lenert.

Der Brief des Direktors der Direction de la Santé sei lediglich eine Erinnerung daran und somit gerechtfertigt gewesen. Auch habe es Druck von der Ärzteschaft selbst gegeben, weil einzelne Akteure sich nicht an die bestehenden Vorgaben gehalten hätten. « Es gab den Vorwurf, die Santé würde dem zusehen, aber nicht handeln. Darauf wollte man reagieren », so Lenert.

Bleibt die Frage, was ein Notfall ist – oder was einer werden kann. Klare Richtlinien hat es dazu vom Ministerium bisher keine gegeben. Das müsse ein behandelnde Arzt selbst abwägen, so Paulette Lenert. « Allgemein hat jeder Arzt eine berufliche Verantwortung und muss selbst von Fall zu Fall einschätzen können, was dringend behandelt werden muss. » Im Zweifelsfall soll der Patient erst über Telefon mit seinem Arzt abschätzen, wie dringlich eine Untersuchung ist. Und dann liegt die Entscheidung am Ende doch beim Arzt, ob er seinen Patienten behandelt – oder nicht.