Vor 25 Jahren sind rund eine Million Tutsi und moderate Hutu in Ruanda ermordet worden. Während sich der Westen 1994 kaum für den Völkermord interessierte, zeichnen wir heute weiterhin ein verzerrtes Narrativ des Geschehenen. Eine Analyse.

„Ruanda, Ruanda, Ruanda“. Der Name des afrikanischen Staates prangte im November 1994 auf unzähligen Postern und Leuchtkasten quer durch Malmö. Eigentlich sollte der Fotograf Alfredo Jaar dort im Rahmen eines Kunstprojektes seine Fotos ausstellen. Doch er konnte nicht: Jaar kam gerade aus Ruanda zurück, wo er Zeuge des Genozids gegen die Tutsi wurde. Nicht nur verfolgten Jaar die Bilder dessen, was er dort sah. Viel mehr schockierte ihn, dass der Westen nicht eingriff – trotz unzähliger Bilder von Tod, Folter und Gewalt, die täglich in Zeitungen abgedruckt wurden und über den Fernseher flackerten. Jaars Poster waren eine Art Hilfeschrei, ein Versuch, zu den Menschen durchzudringen.

Der Genozid gegen die Tutsi dauerte fast drei Monate. Vom 7. April 1994, als ein Flugzeug mit dem ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana und dem burundischen Präsidenten Cyprien Ntaryamira an Bord abgeschossen wurde. Bis zum 14. Juli 1994, als die Ruandische Patriotische Front (RPF) das Land unter ihre Kontrolle brachte.

Während dieser hundert Tage wurden über eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu ermordet, verstümmelt, und Frauen systematisch vergewaltigt. Sie galten als „Kakerlaken“, die man ausrotten wollte. Jeden Morgen machten sich hunderttausende Täter systematisch an die Arbeit. Das Ziel: So viele Tutsi wie möglich töten. Das Morden zog sich durch alle sozialen Schichten. Die Menschen töteten ihre Nachbarn, manche gar ihre eigenen Familienmitglieder. Noch heute sind nicht alle Leichen geborgen, immer wieder werden Massengräber gefunden.

Die Zeichen wurden ignoriert

„Ein Völkermord passiert nicht einfach. Die Zeichen sind schon lange vorher da“, sagte der ruandische Fußballer und Überlebende des Genozids, Eric Murangwa, letztes Jahr im Gespräch mit REPORTER. Auch in Ruanda gab es Vorzeichen. Die systematische Propaganda gegen die Tutsi blieb kaum jemandem verborgen. Seit Jahren herrschten Spannungen zwischen den Gruppen. In Ruanda stationierte UN-Mitarbeiter warnten ihre Vorgesetzten. Auch Frankreich, selbst Unterstützer des Hutu-Regimes, wusste, dass sich etwas zusammenbraute.

Dans ces pays-là, un génocide n’est pas si important.“ François Mitterand, Frankreichs Präsident 1981-1995

Die Listen mit den Namen derer, die es zu töten galt, wurden lange vor dem 7. April geschrieben. Doch nur wenige Jahrzehnte nachdem man sich im Westen das Versprechen des „Nie wieder“ gab, wurden die Vorzeichen des Genozids im ostafrikanischen Staat ignoriert.

Als der Völkermord seinen Lauf nahm, sahen die meisten Menschen weg. Die Bilder von verstümmelten Opfern und schier endlosen Leichenbergen, konnten scheinbar niemanden schocken. Es war diese Erfahrung, die die Philosophin Susan Sontag in der Theorie bestärkte, dass Bilder von Leid und Horror keine Wirkungsmacht mehr hätten, und nur noch betäuben würden. Alfredo Jaar nahm nach seiner Rückkehr aus Ruanda drei Jahre lang keine Kamera mehr in die Hand.

Eine vereinfachte Erzählung

Wenn über den Horror in Ruanda berichtet wurde, bekamen die Menschen lediglich ein verzerrtes Bild dessen zu sehen, was tatsächlich passiert war. Jene Bilder etwa, die heute stellvertretend für den Völkermord stehen, entstanden in kongolesischen Flüchtlingslagern. Die bekannten Fotos von Leichenbergen und ausgemergelten Körpern, die an den Völkermord gegen die Tutsi erinnern sollen (und vor allem das Narrativ des Holocaust imitierten), stammen aus der Zeit nach dem Genozid. Die meisten Menschen, die darauf abgebildet sind, erlagen in Camps der Cholera.

25 Jahre nach dem Genozid dürfen wir Ruander unsere Geschichte immer noch nicht selbst erzählen. »Anaïs Mutumba, aus Ruanda stammende Journalistin

Der Völkermord wurde dagegen als Bürgerkrieg bezeichnet, als Stammesfehde. Als hätten die Menschen aus heiterem Himmel entschieden, sich gegenseitig umzubringen. Selten wurde das Geschehen in Ruanda im globalen politischen Kontext betrachtet oder gar die Frage aufgeworfen, welche Rolle der Westen in all dem spielt. Etwa, dass Frankreich das Hutu-Regime unterstützte und die Trennung zwischen Hutu und Tutsi von den belgischen Kolonialmächten zementiert wurde. Oder, dass die Wirtschaft in Ruanda einbrach, weil der internationale Währungsfonds seine Unterstützung für den Staat zurückzog. Im kollektiven Gedächtnis ist der Genozid nichts anderes als bodenlose Barbarei.

Die westliche Arroganz und Ignoranz war kein Geheimnis. Wie der damalige Französische Präsident François Mitterand 1994 betonte: „Dans ces pays-là, un génocide n’est pas si important.“ Demnach war es auch nicht so wichtig, wirklich zu hinterfragen, was eigentlich in Ruanda passierte. Neben den US-Amerikanern wehrte sich auch Frankreich lange dagegen, dass die Geschehnisse überhaupt als „Genozid“ bezeichnet würden. Denn das hätte schließlich bedeutet, dass die internationale Gemeinschaft sich gemäß der Völkermord-Konvention eben nicht hätte abwenden können.

Falsche Fakten zirkulieren weiterhin

Auch jetzt machen alte Bilder und Erzählungen wieder die Runde. Der Völkermord jährt sich, der Diskurs über das, was vor 25 Jahren passiert ist, hat sich aber kaum verändert. Die meisten Medien schreiben immer noch über den ruandischen Genozid, obwohl dessen offizielle Bezeichnung „Genozid gegen die Tutsi“ lautet. Es wird immer noch von 800.000 Toten gesprochen, obwohl die Zahl längst nach oben korrigiert wurde. Die Vereinten Nationen sprechen von einer Million, die ruandische Kommission für den Kampf gegen den Völkermord, von 1.070.014 Opfern.

Die meisten Fotos, die jetzt wieder zum Vorschein kommen, sind weiterhin jene, die nach dem 14. Juli 1994 in kongolesischen Flüchtlingscamps aufgenommen wurden. Und in Fernsehserien, wie der BBC-Netflix-Produktion „Black Earth Rising“, wird der systematische Mord an einer Million Menschen, den Verbrechen der ruandischen Befreiungsfront (RPF) im Kongo untergeordnet.

Diese Halbwahrheiten und falschen Darstellungen sind keine unbedeutenden Details. Viel mehr sind sie symptomatisch dafür, dass das Narrativ über die Ereignisse von 1994 weiterhin verfälscht wird. „25 Jahre nach dem Genozid dürfen wir Ruander unsere Geschichte immer noch nicht selbst erzählen“, schreibt die ruandische Journalistin Anaïs Mutumba.

Es ist eben nicht egal, wie der Völkermord bezeichnet wird oder was auf den Bildern wirklich zu sehen ist, die diese Woche anlässlich des 25. Jahrestags zirkulieren. So lange nicht auf diese Details geachtet wird, wird die Erinnerung verfälscht und die gelebte Realität von Abertausenden Ruandern ignoriert.

Das Trauma lebt weiter

Wenn heute über Ruanda gesprochen wird, so stehen sich zwei gegensätzliche, teils unvereinbare Wirklichkeiten gegenüber. Ruanda, der Musterstaat: Im Parlament sind mehr Frauen als Männer vertreten, Plastikmüll ist verboten, das Land investiert massiv in Infrastruktur und Technologie. Oder Ruanda, der autoritäre Staat, in dem die Menschen kaum Rechte haben, Pressefreiheit nicht existiert, Oppositionelle unterdrückt werden. Es wird selten versucht, diese Antagonismen analytisch zu durchdringen und zu differenzieren.

Und eine Frage wird oft nicht einmal gestellt: Was ist vor 25 Jahren wirklich in diesem Staat passiert und wie konnte die ruandische Bevölkerung so schnell wieder zu einer Art „Normalität“ finden?

Was so viele Darstellungen des Völkermords ignorieren: Die Menschen blieben zumeist mit ihren Traumata alleine zurück und tun es bis heute. Trotz der traumatischen Erlebnisse mussten sie weitermachen, sich organisieren, Hass und Gewalt irgendwie hinter sich lassen.

Dass etwa in Ruanda mehr Frauen als Männer im Parlament sitzen, ist der Tatsache geschuldet, dass es nach dem Völkermord kaum mehr Männer gab, die politische Aufgaben hätten übernehmen können. Dass Überlebende und Vollstrecker heute Seite an Seite leben, liegt auch daran, dass letztere wieder in die Gesellschaft aufgenommen wurden: Im Rahmen der „Gacaca“-Prozesse richtete die Gemeinschaft über die Täter. Die Prozesse stellten die Weichen für ihre teils problematische Reintegration.

Den Überlebenden Gehör schenken

Heute gilt Ruanda als Musterbeispiel der Rekonziliation. Der ethnische Hass wird von Klein auf thematisiert, Hutu und Tutsi sind aus dem Vokabular verbannt, einmal im Monat leisten alle Ruander zusammen Gemeinschaftsdienst und während rund 100 Tagen wird jährlich an das Geschehene erinnert. Dass das Land heute nicht im Chaos versinkt, liegt auch an der Art und Weise, wie die ruandische Bevölkerung mit dem Geschehenen umgeht. Sowohl auf politischer Ebene wie auch in der ganzen Gesellschaft.

Ihre Geschichten aber erzählen wir zu selten. Auch jetzt wieder gibt es nur vereinzelte Projekte, die sich ihrer annehmen. Etwa die Bilder des südafrikanischen Fotografen Pieter Hugo, auf denen ruandische Überlebende zusammen mit ehemaligen Tätern abgebildet sind. Oder die Fotos von Jonathan Torgovnik, die das Leben ruandischer Vergewaltigungsopfer dokumentieren. Ihre Projekte sagen viel mehr über die Komplexität des Völkermordes, über das Trauma der Überlebenden aus, als es die unzähligen Bilder von scheinbar sinnloser Gewalt tun.

Wollen wir den Völkermord ernsthaft thematisieren, so gilt es, den Stimmen der Überlebenden Gehör zu schenken. Es gibt unzählige Zeugnisse. Man denke an Schriftstellerinnen wie Scholastique Mukasonga oder Yolanda Mukagasana, die den Völkermord in ihren Büchern verarbeiten. Oder an die Werke von Fotografen wie Jack Nkinzingabo oder Filmemachern wie Piotr Cieplak, die den Überlebenden eine Plattform bieten.

Es ist Zeit, die Bilder zu dekonstruieren

Gleichzeitig müssen westliche Staaten die eigene Mitschuld am Völkermord thematisieren. Frankreich hat kürzlich den ersten Schritt gemacht. Emmanuel Macron hat eine Kommission benannt, die Frankreichs Rolle im Genozid gegen die Tutsi untersuchen soll: Die französische Regierung unterstützte das Hutu-Regime konsequent, sogar als der Völkermord bereits seinen Lauf nahm. Macrons Initiative ist ein erster Schritt, aber nun muss Frankreich den Worten Taten folgen lassen. Und andere Staaten, allen voran Belgien, müssten nachziehen.

1994 hat sich ein verzerrtes Bild des Genozids gegen die Tutsi in den Köpfen der Menschen im Westen festgesetzt. Sinnlose Barbarei, Afrikaner, die sich gegenseitig grundlos umbringen, ein Bürgerkrieg, der nichts mit uns zu tun hat. Heute ist es endlich Zeit, dass diese Bilder dekonstruiert werden. Denn indem wir ein falsches Bild des Völkermordes zeichnen, kolonisieren wir die ruandische Erinnerung, und ignorieren jene, die tatsächlich mit dem Trauma von damals weiterleben müssen.