„Black Lives Matter“. Bei der weltweiten Protestbewegung nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd geht es nicht nur um Polizeigewalt gegen Schwarze. Es geht um eine Gesellschaft, in der die Unterdrückung der „Anderen“ in unseren Denkmustern und Strukturen fest verankert ist.
„Weiß zu sein bedeutet, menschlich zu sein, weiß zu sein heißt, universell zu sein. Ich weiß das, denn ich bin es nicht.“ Aus diesen Sätzen, niedergeschrieben von der britischen Journalistin Reni Eddo-Lodge, spricht jener Schmerz, der weltweit viele Tausende Menschen dazu bringt, auf die Straße zu gehen.
Mit der Ermordung von George Floyd hat der Schmerz einen neuen Namen, ein neues Gesicht. Für all jene, die diesen Schmerz spüren oder mitfühlen können, ist es ein schwarzer Tod zu viel, steht er doch stellvertretend für die Gewalt und Unterdrückung, die der schwarze Körper seit Jahrhunderten erduldet. Kolonisiert, versklavt, zur Bedrohung erklärt, schlicht als „anders“ gebrandmarkt: In unseren Denkmustern ist diese entwürdigende Sicht auf „Andere“ tief verankert.
Die Philosophin Judith Butler bringt es auf den Begriff der Verwundbarkeit. Manche Leben, schreibt sie in „The Force of Nonviolence“, sind mehr wert als andere. Um die einen wird getrauert. Sie werden geschützt. Ganze Institutionen und Sozialstrukturen dienen ihrem Erhalt. Anderen wird dieser Schutz nicht gewährt. Butler nennt es „grievability“, es wert sein, dass um einen getrauert wird. Jene, die es nicht sind, werden viel zu oft aus unserem Sichtfeld verbannt und verschwinden im Prekariat. Sie haben nie gelebt, denn ihrem Leben wurde keine Bedeutung beigemessen. Sie sind unsichtbar.
Systematische Diskriminierung
Eines dieser Leben ist Eric Garner. „I can’t breathe …“ Elf mal sprach er diesen Satz, bevor er 2014 erstickte. Er starb den gleichen Tod wie George Floyd, und so viele andere. Wieso haben die Polizisten ihren Würgegriff nicht gelockert, fragt Judith Butler: „Konnte dieses Leben einfach ausgelöscht werden, weil es gar nicht als solches wahrgenommen wurde, nie ein Leben war, […] nie als Leben zählte, um das es sich lohnte zu trauern. Und folglich kein Leben, das es wert war, erhalten zu werden?“
Man braucht nicht Rassist zu sein, um rassistisch zu sein. Es ist bereits rassistisch, wenn man zulässt, dass Rassismus weiter existiert.“OluTimehin Adegbeye, „The Correspondent“
Was sind die Gründe für die unterschiedliche „grievability“? Wieso sind manche Leben mehr wert als andere, und wer bestimmt, welche Leben es zu schützen gilt? An den Toden von Eric Garner und George Floyd waren letztlich nicht nur jene Polizisten schuld, die sie ersticken ließen, sondern ein System, das dafür sorgte, dass ihre Leben gar nicht erst als schützenswert galten. Ein System, in dem Menschen, die als „anders“ gelten, systematisch diskriminiert werden. Ein System, in dem Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe schlechtere Chancen auf Bildung, gute Arbeit und gesellschaftlichen Aufstieg haben – und das nicht nur in den USA.
Wir sollten in diesem Zusammenhang das Kind beim Namen nennen und von systematischem oder auch institutionellem Rassismus sprechen: Unsere Gesellschaft, die Institutionen, auf denen sie aufbaut, sind so konstruiert, dass es Immigranten und andere Minderheiten gemeinhin schwerer haben.
„Racism by design“
Rassismus werde oft verstanden als eine Einstellung, wonach manche Menschen andere Menschen mit einer anderen Hautfarbe nicht mögen und als minderwertig ansehen, schreibt die Journalistin OluTimehin Adegbeye in „The Correspondent“. Doch das seien nur „rassistische Attitüden“. Rassismus selbst baue auf einem System auf, welches das historische Ungleichgewicht zwischen Weißen und Menschen mit afrikanischer Abstammung in die Gegenwart überträgt. Dieses „racism by design“ bedeute auch: „Man braucht nicht Rassist zu sein, um rassistisch zu sein. Es ist bereits rassistisch, wenn man zulässt, dass Rassismus weiter existiert“, so die Journalistin OluTimehin Adegbeye.
Für diese Form des Rassismus gibt es unzählige Beispiele. Sie erklärt zum Beispiel, wieso weniger Schwarze einen Hochschulabschluss haben. Wieso sie schwieriger eine Wohnung finden. Oder eben, wieso Menschen schwarzer Hautfarbe besonders oft und brutal von der Polizei angehalten und durchsucht werden. Letzteres nennt sich übrigens „ethnic screening“. Erst kürzlich durchlebte es die Europaabgeordnete Pierrette Herzberger-Fofana, die laut eigener Schilderung in der Brüsseler Gare du Nord von Polizisten verspottet wurde.
Alte Denkmuster leben weiter
Die Ursachen solcher Diskriminierungen liegen weit zurück. Nicht umsonst werden in unzähligen Städten die Statuen von Sklavenhändlern und Kolonialherren beschädigt. Die Entwürdigung des schwarzen Körpers hat eine lange Tradition. Auf seinem Rücken wurde der „weiße“ Mensch reich. Letzterer erkor ihn als „anders“ aus, um ihn zu dominieren, zu versklaven und auszubeuten. „Der afrikanische Raum ist seit dem 15. Jahrhundert von Diskursen strukturiert worden, deren Ziel darin bestand, diesen Raum physisch zu beherrschen“, schreibt der Ökonom Felwine Sarr in „Afrotopia“.
Unsere Gesellschaft, die Institutionen, auf denen sie aufbaut, sind so konstruiert, dass es Immigranten und andere Minderheiten gemeinhin schwerer haben.“
Weiße Gewalt hat in diesem Raum Tradition, etwa in Form des transatlantischen Sklavenhandels, der Gräueltaten Leopolds II. im Kongo, der Vernichtung der Herero durch die Deutschen oder der britischen Burenkriege. Die Dominanz über den schwarzen Körper wurde dabei durch religiös-wissenschaftliche Diskurse von weißer Überlegenheit gerechtfertigt, die dem „schwarzen Menschen“ die Menschlichkeit absprachen. Der schwarze Körper war und ist eine westliche Projektionsfläche. Er galt wahlweise als kindlich und unterentwickelt oder als fratzenhafte Bedrohung. „Ihn anzusehen war so erbaulich, wie einen Hund in Hosen und Federhut zu sehen, der auf seinen Hinterbeinen ging“, schrieb 1902 etwa Joseph Conrad in „Herz der Finsternis“.
Die Diskurse, die dazu dienten, die Unterdrückung der Nicht-Weißen zu rechtfertigen, leben bis heute in unseren Denkmustern weiter. „Dans ces pays-là, un génocide n’est pas si important“, sagte etwa François Mitterrand, als in Rwanda von Frankreich bewaffnete Hutu eine Million Tutsi auslöschten. Der heutige britische Premier Boris Johnson bezeichnete Menschen schwarzer Hautfarbe in seiner Zeit als Journalist in seinen Kolumnen als „Negerbabys“ mit dem Lächeln einer Wassermelone.
Rassismus, ein weißes Problem
Noch heute sind die „Anderen“ jene, die von dem „weißen“ Ideal abweichen. Zumeist werden sie jedoch nicht, wie in Johnsons Fall als kindliche Wesen, sondern als potenzielle Bedrohung angesehen, die die weiße Dominanz beenden könnten. Das Spiel, „wer hat Angst vor dem schwarzen Mann“, kommt nicht von ungefähr.
Schwarze Menschenleben zählen, und müssen schützenswert sein, weil sie es zu lange nicht waren und immer noch nicht sind.“
„Er“ ist eine potenzielle Gefahr, eine Bedrohung, schließlich ist er nicht wie „wir“, schreibt Judith Butler in „The Force of Nonviolence“. Gegen „ihn“ errichten wir Mauern und Grenzzäune. Um uns vor „ihm“ zu schützen, akzeptieren wir, dass er leblos an unseren Küsten anschwemmt, oder systematisch von der Polizei durchsucht und brutalisiert wird. Die alten europäischen Denkmuster bestimmen bis heute, welche Leben besonders schützenswert sind und welche nicht.
Es wäre daher falsch, die Black Lives Matter Bewegung als „schwarzes Problem“ anzusehen, wie es jüngst Boris Johnson tat. Rassismus ist kein schwarzes Problem, sondern ein weißes. Die Journalistin Reni Eddo-Lodge spricht in diesem Zusammenhang vom „weißen Privileg“, also dem Phänomen, dass Menschen mit weißer Hautfarbe von Haus aus eine gewisse Machtposition einnehmen, allein aufgrund ihrer Hautfarbe – und sie diese Überlegenheit kaum infrage stellen: „Weiße Menschen sind es so gewohnt, ihr Abbild in allen Darstellungen der Menschlichkeit zu sehen, dass sie es erst merken, wenn es ihnen genommen wird.“
Eine universelle Forderung
Es gilt, so die Journalistin, jene Strukturen zu dekonstruieren, die Menschen wie sie, aufgrund ihrer Hautfarbe, als „anders“ gebrandmarkt haben. Denn die Welt, in der schwarze Leben weniger wert sind als weiße, wurde nicht von Schwarzen geschaffen, sondern von Weißen. Letztere haben die eigene Hautfarbe als „Norm“ auserkoren und eine Gesellschaft geschaffen, in der jene, die davon abweichen, weniger Chancen haben. Wie der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin in „The Fire Next Time“ an seinen Neffen schreibt: „Was sie über dich denken und was sie dich aushalten lassen, hat nichts mit deiner Minderwertigkeit zu tun, sondern mit ihrer Unmenschlichkeit und Angst.“
Es gilt demnach, jene Denkmuster und Systeme zu durchbrechen, die dazu führen, dass schwarze Leben prekärer sind. Es gilt, sich zu fragen, wieso es so schwer ist, die Menschlichkeit dieser Menschen anzuerkennen. Es gilt in der Tat, sich mit der weißen Geschichte und ihrer Fortführung bis in die Gegenwart kritisch auseinanderzusetzen.
„We can’t breathe“. Der Aufschrei der Black Lives Matter-Bewegung ist letztlich nicht nur eine Wiederholung der letzten Worte George Floyds, sondern eine universelle Forderung nach Anerkennung und Gleichberechtigung. Deshalb ist der Slogan „Black lives matter“ auch nach wie vor richtig. Schwarze Menschenleben zählen, und müssen schützenswert sein, weil sie es zu lange nicht waren und immer noch nicht sind. Menschen schwarzer Hautfarbe wollen atmen, leben, als Menschen wahrgenommen werden, sich verwirklichen, und nicht als Bürger zweiter Klasse angesehen werden. „Alle Leben“ zählen eben nicht, solange die Leben von Schwarzen und anderen Minoritäten nicht als gleichwertig und schützenswert gelten.