Seit der Verhaftung von Carles Puigdemont ist die Lage in Barcelona angespannt. Das war nicht immer so: Den Katalanen gelang es seit 2012 oft mit friedlichen Kundgebungen auf sich aufmerksam zu machen. Ein Lagebericht.
Mitten unter 60.000 Demonstranten sucht eine Separatistin – Selfie-Lächeln aufgesetzt – nach dem perfekten Bildausschnitt. Doch ihre Mutter schlägt ihr das Smartphone aus der Hand. Sie zeigt einige Meter neben das ursprüngliche Motiv, die katalanische Unabhängigkeitsflagge. „Mach Fotos davon. Das ist das Wichtigste heute.“ Davon – das sind die Mossos d’Esquadra, die katalanische Polizei. Sie ziehen sich ihre Schutzhelme langsam und demonstrativ vor den Protestlern über. An diesem 25. März traf sich die Menge spontan in den Straßen. Es sind wenige Stunden nachdem ihr ehemaliger Präsident Carles Puigdemont im deutschen Schleswig-Holstein verhaftet worden war.
„Der Scheidepunkt ist erreicht. Das katalanische Volk wird auf sich aufmerksam machen – egal mit welchen Mitteln.“Demonstrant Albert
Neben der Separatistin taucht ein aufgebrachter Mann namens Albert auf. Nichts ist zu hören von dem üblichen Satz des Mittfünfzigers: „Katalane zu sein ist ein Vollzeit-Job“. Er ist regelmäßig auf Demos anzutreffen, doch diesmal ist er wütender als sonst. „Der Scheidepunkt ist erreicht. Das katalanische Volk wird auf sich aufmerksam machen – egal mit welchen Mitteln.“
Große Volksmärsche haben Tradition in Barcelona: 1977 für den Status als autonome Region, 2003 gegen die Invasion Iraks, 2011 gegen die Missstände Spaniens. Die pittoreske Stadt am Mittelmeer hat ihre anarchistische Geschichte nie ganz vergessen.
Das Erbe der 1980er Jahre
Die „Katalanistas“ haben sich diese ungeschriebene Tradition zu eigen gemacht. Albert ist seit den Anfängen in den 1980er Jahren dabei. Damals setzte die „Crida a Solidaritat“ um Angel Colom sich für eine Sprachplanung und eine größere Anerkennung der katalanischen Kultur ein. Diese Bewegung war marginal. Doch sie hinterließ ein wichtiges politisches Erbe. „Sie war der erste Ausdruck eines soziologischen Sezessionismus. Sie brachte den katalanischen Aktivismus auf die Straße und in den öffentlichen Raum zurück“, erklärt Andrew Dowling, Dozent an der Universität Cardiff.
In seiner von 1980 bis 2003 andauernden Regierungszeit brachte „El Presidente“ Jordi Pujol die katalanische Identität auf die politische Agenda. Doch es gab auch Rückschläge: 2010 entschied das spanische Verfassungsgericht, die vier Jahre zuvor beschlossene Ausweitung der Autonomie – etwa in der Sprachenpolitik und dem Steuerwesen – in Teilen zurückzunehmen. Unter dem Motto „Wir sind eine Nation, wir entscheiden“, trieb dieses Urteil über eine Million Menschen auf die Straßen.
Der Scheidepunkt: 2012
2012, drei Jahrzehnte nach der „Crida a la Solidaritat“, feierte die zivile Unabhängigkeitsbewegung ihren großen Durchbruch. Der sonst mäßig besuchte katalanische Nationalfeiertag am 11. September wurde zu einem Pro-Unabhängigkeitsmarsch umgestaltet. Dieser Tag wird gemeinhin „La Diada“ genannt und gedenkt der Kapitulation Barcelonas und somit dem aus katalanischer Sicht verlorenen Spanischen Erbkrieg.
Am Marsch nahmen zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen teil Das übertraf alle Erwartungen, denn Katalonien zählt insgesamt etwa 7,5 Millionen Einwohner. „Barcelona sah ein noch nie zuvor da gewesenes sezessionistisches Outing“, schrieb die Zeitung „El Pais“. Menschen allen Alters und aus allen sozialen Schichten hätten sich „pazifistisch und zu einem einzigen Anlass“ getroffen – ganz im Geiste der 1980er, so die Zeitung weiter. Es war der Erfolg einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die im gleichen Jahr das Licht der Welt erblickte: die „Assemblea Nacional Catalana“.
Ende 2013, angestachelt von der steigenden Unterstützung der Zivilgesellschaft, kündigten die separatistischen Parteien um Artur Mas im Parlament ein Referendum an. Die Fragen: „Wollen Sie, dass aus Katalonien ein Staat wird?“ Falls ja, „Wollen Sie, dass dieser Staat unabhängig ist?“ Aus Madrid kam jedoch Gegenwind. Verfassungswidrig nannte der spanische Staat solch eine Volksbefragung im Stile der schottischen.
V für „votar“
Die Katalanen sahen sich um ihr Recht auf Selbstbestimmung betrogen. Sie reagierten mit ihren mittlerweile ausgiebig trainierten Fähigkeiten der pazifistischen und symbolischen Volksmärsche. Die Bilder der „Diada“ 2014, bei der fast zwei Millionen Menschen in den Farben der katalanischen Flagge in die Straßen strömten, gingen um die Welt. Die Menschen malten ein überdimensionales V in die Straßen Barcelonas. V, das stand für „votar“ (wählen) und adressierte sich an Madrid. Es stand aber auch für V, „victoria“ (der Sieg) und ging als Botschaft an die Welt. Nach der Demonstration am 11. September kam es zu einem inoffiziellen Plebiszit am 9. November, der aber kaum Medienaufmerksamkeit erhielt.
Nach dem gescheiterten Versuch einer Volksbefragung wurden die vorgezogenen Regionalwahlen im September 2015 zum Ersatzplebizit. Die Unabhängigkeitsbefürworter gewannen die absolute Mehrheit im Parlament. Der bis dahin wenig bekannte Bürgermeister Gironas, Carles Puigdemont, übernahm den Präsidentschaftsposten. Die Präsidentin der „Assemblea Nacional“, Carme Forcadell wurde zur Parlamentssprecherin.
Gewalt und Anspannung
Seinem Wahlversprechen folgend setzte Puigdemont ein unilaterales Referendum über die Unabhängigkeit am 1. Oktober 2017 an. Schon im Vorfeld des Referendums kam es bei einer von der „Assemblea Nacional“ organisierten Demo zu Zusammenstößen zwischen Separatisten und Polizisten. Der Präsident der „Assemblea“, Jordi Sanchez wurde daraufhin der Tumultstiftung angeklagt und sitzt seit mittlerweile sechs Monaten in Untersuchungshaft.
Das von Polizeigewalt geprägte Oktoberreferendum wurde zu einem weiteren „point of no return“ für die Unabhängigkeitsbewegung. Kaum vergeht mehr eine Woche ohne demonstrierende Menschen auf der Straße. Die Demographie der Demonstranten hat sich verändert. Es kommen nicht mehr nur „Katalanistas“, denn es geht jetzt um viel mehr: um Polizeigewalt, um die Lethargie der Europäischen Union. Und um die sogenannten „politischen Häftlinge“, zu denen Carles Puigdemont spätestens seit letzter Woche gehört.
Clara, eine junge Studentin, bewegt sich merklich unwohl durch die Menschenmenge, die für eine Freilassung des ehemaligen Präsidenten Puigdemont skandiert. Es ist ihre erste Demo. Sie kann es zu Hause kaum mehr aushalten. Sie platze förmlich angesichts all dieser Ungerechtigkeiten, die sich nun in der verschärften Katalonienkrise auftun, sagt sie. Als sie die Polizei in voller Montur sieht, zuckt sie zusammen.
Ihr wird an diesem Abend nichts geschehen, in anderen Teilen der Stadt kommt es aber zu blutigen Gefechten zwischen Demonstrierenden und Polizisten. Am Abend des Referendums waren es über 700 Verletzte, bis heute kommen fast 100 weitere dazu.
Die momentane Aussichtslosigkeit des Katalonienkonflikts hat die Stimmung in der Bevölkerung kippen lassen. Jetzt, wo Anspannung und Gewalt ein zu erwartendes Nebenprodukt der Demonstrationen geworden sind, scheinen die Jahre der friedlichen und farbenfrohen Volksmärsche zumindest ausgesetzt.