Am 1. September könnte die „Alternative für Deutschland“ in Brandenburg und Sachsen jeweils stärkste Kraft werden. Ein solcher Erfolg in den ostdeutschen Bundesländern wäre eine politische Zäsur für die Bundesrepublik. Wie konnte es so weit kommen? Eine Bestandsaufnahme.

Um zu verstehen, wo die „Alternative für Deutschland“ (AfD) heute steht, lohnt ein Blick in die Geschichte der 2013 gegründeten Partei. Ein einschneidender Punkt: der Essener Parteitag im Juli 2015. Dort, mit 3.500 versammelten Mitgliedern, wurden entscheidende Wegmarken gesetzt, die die Partei bis heute prägen.

In den Monaten zuvor hatte ein Richtungsstreit in der Partei getobt. Ein Teil um den Hamburger Wirtschaftsprofessor und Parteigründer Bernd Lucke vertrat einen konservativen, wirtschaftsliberalen Kurs. Die AfD sollte eine Mischung aus CDU und FDP mit einem Hauch Nationalismus sein. Hauptkritikpunkt und Vehikel der Partei: der Euro und die europäische Schuldenpolitik etwa gegenüber dem kriselnden Griechenland. Lucke und Co. wollen zurück zur Deutschen Mark und weniger europäische Integration.

Damit hatten sie bis dahin durchaus punkten können. 2013 verpasste die Partei den Einzug in den Bundestag nur knapp und 2014 zogen Lucke und Co. mit 7,1 Prozent in das Europäische Parlament ein. Schon damals wurden allerdings auch Stimmen laut, die auf nationalistische und rassistische Tendenzen in der Partei aufmerksam machten. Sie wurden selten gehört, die AfD hatte das Image einer „Professorenpartei“. Davon verabschiedete sich die AfD spätestens im Herbst 2014.

Von der konservativen zur nationalistischen Partei

Die Radikalisierung der Partei hängt eng mit den allgemeinen Debatten dieser Zeit zusammen. Im Sommer 2014 war der sogenannte „Islamische Staat“ im syrischen Bürgerkrieg auf dem Höhepunkt seiner Macht. Immer wieder sorgten dabei auch Islamisten aus Deutschland, etwa mit Propagandavideos und Anschlagsdrohungen, für Schlagzeilen. Viele dieser Islamisten hatten vorher an Koran-Verteilungs-Aktionen in deutschen Innenstädten teilgenommen.

Mittelfristig könnte der Cordon sanitaire ins Bröckeln geraten, weil der konservative Teil der CDU die Chance sieht, mit der AfD neue Mehrheiten zu bilden.“Rainer Roeser, freier Autor und AfD-Experte

In der Bundesrepublik wuchs eine islamfeindliche Stimmung, die sich mit tausenden Hooligans, die in Köln unter dem Namen „Hooligans gegen Salafisten“ randalierten, und der Gründung der „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) in Dresden Bahn brach. In der sächsischen Landeshauptstadt marschierten daraufhin wöchentlich tausende Menschen unter ausländer- und islamfeindlichen Parolen auf. Eine Entwicklung, die in Teilen der AfD Begehrlichkeiten weckte. Sie wollten „Pegida-Partei“ sein. Parteifunktionäre traten bei den Kundgebungen von Pegida auf oder äußerten ihre Zustimmung zu der neuen „Volksbewegung“.

Beim Essener Parteitag im Juli 2015 brach dann der Konflikt zwischen Radikalen und Gemäßigten offen aus. Die Halle tobte, Parteigründer Bernd Lucke wurde ausgebuht, teilweise als „Volksverräter“ beschimpft. Die Wahl um das Amt des Parteisprechers, wie die AfD ihren Vorsitzenden nennt, verlor Lucke dann auch haushoch gegen die sächsische AfD-Politikerin Frauke Petry. Lachend im Hintergrund standen extrem rechte AfD-Funktionäre wie Björn Höcke aus Thüringen oder der brandenburgische AfD-Chef Andreas Kalbitz. Sie hatten die Partei längst nach rechts gedrängt.

Radikalisierung innerhalb von wenigen Jahren

Rainer Roeser ist Journalist und freier Autor. Für die Webseite „Blick nach Rechts“ beschäftigt er sich seit Jahren mit der AfD. Seit ihren Gründungstagen besucht er Parteitage und analysiert die Verlautbarungen von AfD-Funktionären. „Die AfD hat Erfolg mit einer stetigen Radikalisierung ungefähr im Zwei-Jahre-Rhythmus: 2015 musste Lucke gehen, 2017 Petry“, erklärt Roeser. 2019 sei die AfD zu einer „völkisch-autoritären Partei“ geworden.

Eine Entwicklung, die Roeser an zahlreichen Punkten feststellt: Jörg Meuthen etwa, der die Partei seit 2015 führt und damals als Vertreter des Professorenflügels galt, hat alle Spaltungen überstanden und übt sich einer immer radikaleren Rhetorik. Als sich Ursula von der Leyen im EU-Parlament als Chefin der EU-Kommission bewarb, wetterte Meuthen, sie würde Europa „schnurstracks in die ökosozialistischen ‚Vereinigten Staaten von Europa’“, führen. Mit von der Leyen an der Spitze der EU würde den Deutschen der „endgültige Verlust ihrer restlichen Souveränität“ drohen.

„Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“Alexander Gauland, Co-Parteichef der AfD

Andere AfD-Abgeordnete schürten regelmäßig rassistische Ressentiments. Jüngst machte Alexander Gauland, der die Partei seit 2017 gemeinsam mit Meuthen führt, mit der Aussage auf sich aufmerksam, wer sich an Schweinefleisch störe, solle sich „ein anderes Land suchen“. Den Nationalsozialismus bezeichnete Gauland einmal als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. Eine Aussage, die nur vom Thüringer AfD-Chef Björn Höcke getoppt wird, der das Holocaust-Mahnmal in Berlin einmal als „Mahnmal der Schande“ bezeichnete, dass man in das Herz der Hauptstadt gepflanzt habe.

Nach solchen Aussagen rudern die AfD-Funktionäre zwar regelmäßig zurück und erklären, falsch verstanden worden zu sein, doch ihre Botschaft kommt bei den stramm rechten Anhängern an. Für Rainer Roeser ist klar: Diejenigen in der AfD, die heute als „Gemäßigte“ bezeichnet werden, sind „sehr viel radikaler als die allerradikalsten Leute aus dem Gründungsjahr 2013.“

Gründe für den AFD-Erfolg in Ostdeutschland

Mit Provokationen gegen die etablierten Parteien, „kosmopolitische Eliten“ und Minderheiten hat die AfD auch in den Parlamenten Erfolg. Mittlerweile sitzt sie in allen 16 Landtagen und seit 2017 auch im Bundestag. Konstruktive Oppositionsarbeit findet nicht statt. Kann sie auf vielen Gebieten auch gar nicht, da die AfD keine eigene Positionierung hat. In der Renten- und Sozialpolitik fordert der völkisch-nationalistische Flügel der Partei etwa einen Ausbau des Sozialstaats für Deutsche. Ein eigentlich für den September geplanter Parteitag zu diesen Themen wurde verschoben.

Mit 12,6 Prozent der Stimmen zog die AfD 2017 in den Bundestag ein. Der Trend der Wählerzustimmung zeigt – vor allem in den ostdeutschen Bundesländern – weiter nach oben. (Foto: Shutterstock.com)

Ein Grund dafür: Die AfD will im Zuge der Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September und in Thüringen am 27. Oktober nicht zerstritten wirken. Denn in den drei ostdeutschen Bundesländern gibt es für sie viel zu gewinnen. In aktuellen Umfragen steht sie in Brandenburg mit 21 Prozent als stärkste Kraft da. In Sachsen liegt sie mit 25 Prozent auf dem zweiten Platz. Auch in Thüringen könnte sie Ende Oktober zudem, mit ebenfalls knapp einem Viertel der Stimmen, stärkste Kraft werden.

In ihren Wahlkämpfen appelliert die Partei stark an ein „Wir Ostdeutschen gegen die da Oben“ Gefühl. Studien, etwa zur Anhängerschaft von Pegida, haben gezeigt, dass viele Menschen in Ostdeutschland von Ängsten getrieben sind, ihren gesellschaftlichen Status zu verlieren oder benachteiligt zu werden. Die AfD schürt diese Ängste und versucht, sich als Stimme Ostdeutschlands und Erbe der DDR-Opposition zu inszenieren.

Folgerichtig, dass mit Bildern vom Mauerfall und der Parole „Vollende die Wende“ geworben wird. Ein Erfolg bei den Wahlen in den drei Bundesländern würde, so Rainer Roeser, „die Macht des offen völkisch-nationalistisch agierenden Teils der Partei, der in ostdeutschen Bundesländern stärker vertreten ist als im Westen“, stärken.

Der mögliche Durchbruch zur Regierungspartei

Personen wie der brandenburgische Spitzenkandidat Andreas Kalbitz, der in der Vergangenheit an einem Zeltlager der neonazistischen „Heimatreuen deutschen Jugend“ teilgenommen hat und Kontakte zu NPD-Funktionären pflegte, oder Björn Höcke, der unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ Beiträge für eine NPD-Zeitschrift geschrieben haben soll, würden dadurch noch wichtiger in der Partei. Ihr Kurs würde als maßgeblich erfolgversprechend gelten.

Eine andere Gefahr, die Rainer Roeser in einer gestärkten AfD sieht: „Mittelfristig könnte der Cordon sanitaire, an den sich bisher alle anderen Parteien halten, ins Bröckeln geraten, weil der konservative Teil der CDU die Chance sieht, mit der AfD neue Mehrheiten zu bilden.“ Entsprechende Stimmen gibt es schon bei den Christdemokraten. Noch hält eine Mehrheit in den Unionsparteien die AfD aber nicht für koalitionsfähig.

Das könnte sich aber ändern. Die drei Landtagswahlen haben also nicht nur eine Relevanz für die Politik in Deutschland. Sollte die AfD einmal Regierungsverantwortung übernehmen, wäre erstmals eine Partei, die offen gegen die Europäische Union und den vermeintlichen Ausverkauf der deutschen Souveränität agitiert, an einer Regierung in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt.