Der jüngste „Oxfam-Skandal“ vermittelt ein falsches Bild der humanitären Hilfe als Hort sexueller Straftäter. Dabei stellt sich die Frage, wie mit solchen Enthüllungen umzugehen ist. Reicht es, den Organisationen selbst die Verantwortung zu überlassen?

Denken wir an humanitäre Hilfe, so kommen uns schnell die Bilder der Spendenkampagnen verschiedenster Hilfsorganisationen in den Sinn: Traurige Kinderaugen starren uns an und warten auf Hilfe. Es sind selbstlose, oftmals westliche Entwicklungshelfer, die in Krisengebiete versuchen, Not und Elend zu lindern.

Dieses Bild steht in starkem Kontrast mit den Enthüllungen im Februar über sexuelle Übergriffe von Oxfam-Mitarbeitern. Nach dem schweren Erdbeben von 2010 in Haiti soll es unter anderem zu sexueller Belästigung, Ausbeutung und systematischen Einschüchterungen von hilfsbedürftigen Frauen gekommen sein. Von „Orgien“ mit womöglich minderjährigen Prostituierten ist die Rede. Dabei ist Prostitution nach haitianischem Recht verboten.

Oxfam ist kein Einzelfall

Die Medienberichte blieben nicht ohne Folgen für den in Großbritannien gegründeten internationalen Verband von Hilfsorganisationen. Oxfam wurde nun von verschiedensten Seiten die Fördergelder gestrichen. Auch die EU-Kommission hat die Zusammenarbeit mit der Organisation bis auf weiteres eingestellt. Wie ein Sprecher der Kommission bestätigt, wurde der Verband aufgefordert, die Anschuldigungen mit einem Maximum an Transparenz aufzuklären. Bis dies geschehen sei, werde kein weiteres humanitäres Abkommen abgeschlossen, „außer Programme um Leben zu retten“. In anderen Worten: Die Verantwortung, die Fälle aufzuklären, liegt bei Oxfam selbst. Wie der Abgeordnete im EU-Parlament Charles Goerens (DP) es im Gespräch mit REPORTER formulierte, „si sollen elo de Ménage bei sech maachen.“

Das Problem liegt weder bei den Hilfsorganisationen, noch bei den Menschen die in dem Bereich arbeiten. Sexuelle Übergriffe sind hier nicht weiter verbreitet als irgendwo anders.“Menschenrechtsanwältin Sharanya Kannikanan

Dabei ist Oxfam kein Einzelfall. Immer wieder werden Fälle von sexuellem Fehlverhalten in der humanitären Hilfe öffentlich. Besonders die Friedenstruppen der Vereinten Nationen stehen immer wieder in der Kritik. Alleine 2017 soll es hier 138 Vorwürfe von sexuellen Übergriffen gegeben haben, vor allem in der Zentralafrikanischen Republik sowie in der Demokratischen Republik Kongo. Um solche Fälle zu verhindern, verfügen sowohl internationale Institutionen als auch Hilfsorganisationen über entsprechende Mechanismen. Verhaltenskodex, Nulltoleranzpolitik, interne Berichtsverfahren sollen für Transparenz, Recht und Ordnung sorgen. Doch ein Blick auf die rezenten Enthüllungen legt den Gedanken nahe, dass diese Vorkehrungen nicht greifen. Und liegt die Verantwortung alleine bei den Organisationen, so stellt sich indes die Frage nach möglichen Interessenkonflikten.

Gefährliche Abhängigkeiten

Dennoch droht die Berichterstattung rund um Oxfam, die gesamte Branche als einen Hort sexueller Straftäter zu diskreditieren und ein verzerrtes Bild der humanitären Hilfe zu vermitteln. Die Menschenrechtsanwältin Sharanya Kannikanan betont: „Das Problem liegt weder bei den Hilfsorganisationen, noch bei den Menschen die in dem Bereich arbeiten. Sexuelle Übergriffe sind hier nicht weiter verbreitet als irgendwo anders.“ Für die ehemalige UN-Mitarbeiterin,  die für die Aids Free World Kampagne „Code Blue“ Opfer von Übergriffen durch UN-Personal betreut, sind jedoch besonders die Kräfteverhältnisse zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen ausschlaggebend.

Die Hilfsarbeiter – und dabei ist zweitrangig ob es sich um lokale Helfer oder Expats handelt –  genießen ein hohes Ansehen, verfügen über finanzielle Mittel, und verwalten den Zugang zu Ressourcen wie etwa Lebensmittel oder medizinische Betreuung. Zusätzlich genießen sie eine gewisse Immunität. Dabei arbeiten sie mit Menschen, die zum Teil alles verloren haben. Die Rollen sind also klar verteilt und die Grenzen zwischen sexueller Ausnutzung und Übergriffen, zwischen Legalität und Kriminalität sind fließend.

„Ich würde im Fall Oxfam nicht einmal von Sexarbeit reden“, so Sharanya Kannikanan. „Viel mehr haben Männer den Frauen opportunistisch angeboten, für Geschlechtsverkehr zu bezahlen. Diese Frauen befanden sich in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit, aufgrund derer sie sich nicht verweigern konnten.“ Dass Prostitution in Haiti verboten sei, würde die Gefahr für die Frauen noch verstärken.

Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist aber charakteristisch für den Hilfssektor. Für viele Frauen ist der Austausch von Sex für Nahrung eine Überlebensstrategie, bestätigt auch der ehemalige UN-Experte Andrew Macloed. Dabei befinde man sich in solchen Fällen rechtlich aber in der Legalität.  Und sogar bei straffälligen Übergriffen sei die Situation komplex. Entweder müssten die Opfer ihr Vertrauen in die Rechtssysteme der Herkunftsländer der Täter legen (etwa bei Verstößen gegen Sextourismus-Gesetze). Oder man müsse von nationalen Instanzen erwarten, dass sie Verstößen im entfernten Ausland nachgehen. Im Fall von UN-Mitarbeitern komme noch hinzu, dass die Immunität der mutmaßlichen Täter erst in langwierigen internen Prozessen aufgehoben werde, ergänzt Kannikanan.

Das eigene Ermessen

Die Versuchung, die Machtverhältnisse auszunutzen sei indes gewaltig, warnt Macloed. Deshalb sei es wichtig, dass die Hilfsorganisationen ihre Mitarbeiter ausreichend kontrollieren. Für Sharanya Kannikan ist es unabdingbar, dass  Entwicklungshelfer die Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Ausbeutung verstehen und dass die Entsender-Organisationen genügend Wert auf diese Unterscheidung legen. Das gelte auch dann, wenn die Fälle rechtlich gesehen kein Verbrechen seien.

Institutionen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz tun dies. Wie ein Sprecher bestätigt, ist es den Mitarbeitern seit einigen Jahren verboten, für sexuelle Gefälligkeiten zu bezahlen. Die Organisation verfügt über ein unabhängiges ‚Global Compliance Office’, das Anschuldigungen oder Auffälligkeiten überprüft und sicherstellt, dass die Mitarbeiter sich an den Verhaltenskodex halten.

„Das geht sehr weit und die Mitarbeiter ‚gehören‘ dem ICRC 24 Stunden am Tag. Vielen anderen Institutionen und Organisationen und insbesondere den Vereinten Nationen ist es aber gleich, wie sich die Mitarbeiter außerhalb der Arbeitszeit verhalten“, meint Andrew Macloed. Und wie man mit der Thematik umgeht, ist von Organisation zu Organisation verschieden – klar ist nur, die Probleme werden intern gelöst.

Minister Schneider erinnert an Null-Toleranz-Politik

Reicht es also aus, sich auf die internen Mechanismen einzelner Organisationen und Institutionen zu verlassen, wenn es um die Verhinderung oder Aufklärung von sexuellem Fehlverhalten geht? Genügt es, wenn die EU-Kommission alle Partnerorganisationen per Schreiben auffordert, die internen Mechanismen offenzulegen? Oder wenn das Luxemburger Kooperationsministerium nach Aussagen von Minister Romain Schneider (LSAP) die Luxemburger Entwicklungsorganisationen an die Null-Toleranz Politik erinnert?

Für Sharanya Kannikanan ist die Antwort ein klares Nein. Solche Mechanismen seien unabdingbar. Doch gäbe es immer einen Interessenkonflikt, sobald eine Organisation selbst die Verantwortung hat, Vorkommnisse aufzuklären. Die Menschenrechtsanwältin betont, sobald ein Mitarbeiter auffällig geworden sei, stelle sich automatisch die Frage nach der Verantwortung der Organisation an sich. Ihr Ruf stehe auf dem Spiel. „Es reicht nicht von Null-Toleranz und ethischen Prinzipien zu reden. Nötig ist eine neutrale Instanz, die solche Fälle untersuchen kann ohne dass interne Hierarchien oder Interessen mitspielen.“ Auf der Ebene der Vereinten Nationen  soll dies durch ein mobiles, unabhängiges Gericht geschehen, fordert die Kampagne „Code Blue“.

Komplexe Probleme ohne Patentlösung

Was einzelne Organisationen betrifft, so könnte eine Art Ombudsmann-System eingeführt werden, meint die Forscherin zu Entwicklungshilfe, Dorothea Hillhorst. Die Professorin der Erasmus Universität Rotterdam betont, Oxfam habe im Anschluss auf die Anschuldigungen sehr verantwortungsbewusst gehandelt. „Sie haben die Fälle untersucht, den Verhaltenskodex verschärft und Whistleblower-Mechanismen eingeführt. Sie haben sich bei der haitischen Bevölkerung entschuldigt und waren transparent.“ Das sei viel mehr, als die meisten Organisationen in solchen Fällen tun würden.

Dabei betont die Forscherin aber, dass die meisten Helfer vor Ort gar keine Expats sind, sondern lokale Helfer. Die meisten internationalen Organisationen würden nämlich mit Partnern vor Ort arbeiten. „Deshalb ist es wichtig, lokal zu handeln.“