Zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung ist unter 25. Rockmusik ist in dem kriegsgeplagten Land am Hindukusch eine kleine Revolution. Doch für Afghanistans erste Rockband „Kabul Dreams“ ist es auch ein Beitrag zum psychologischen und kulturellen Wiederaufbau ihres Landes.

„Kabul Rock Radio“ liegt in einer der staubigen Straßen von Kart-e-Seh, einem Viertel im Süden Kabuls. Eine Straße gleicht dort der anderen. Nicht-Ortskundige haben es mangels Beschilderung in dem Gassenlabyrinth schwer. Wie alle Medien in Kabul ist auch „Kabul Rock Radio“ hinter hohen Mauern und einer blickdichten Eisentür versteckt.

Suleiman, ein schmächtiger junger Mann mit kurzen Haaren, sitzt vor dem Computer. Er trägt ein schwarzes T-Shirt auf dem das Dari-Wort für „Frieden“ geschrieben steht – solh. Tagsüber arbeitet Suleiman in der beengten Zentrale von „Kabul Rock Radio“, einem der zahlreichen Radiosender, die seit dem Sturz der Taliban in der Hauptstadt entstanden sind.

„Manchmal scheint es, als wäre alles irgendwie geplant gewesen“, sagt Suleiman Kardesh. Er grinst seinen Bandkollegen Siddique Ahmad an. Nur der dritte im Bunde, Schlagzeuger Mujtaba Habibi, fehlt heute. Es passte einfach alles perfekt, als sich ausgerechnet diese drei Jungs von unterschiedlicher Herkunft zusammenfanden, um Afghanistans erste Indierock-Band gründeten.

Drei Biografien, ein gemeinsamer Traum

Schon oft hat Sulaiman Journalisten die Gründungsstory seiner Band erzählt. Seit sich er,  Siddique und Mujtaba vor zehn Jahren zum ersten Mal trafen ist das internationale Interesse an den „Kabul Dreams“ beständig gewachsen. Suleiman, der Sänger der Band, wuchs während der Bürgerkriegsjahre im benachbarten Usbekistan auf. Als ethnischer Usbeke, eine der vier Volksgruppen Afghanistans, sprach er bereits die Sprache des Nachbarlands. Dort besuchte Suleiman die Musikschule und lernte Gitarre. In einem Land, das damals viele Moden aus Russland übernahm, waren Rockbands nichts Außergewöhnliches.

Auch für Siddique, gebürtiger Paschtune und Bassist von „Kabul Dreams“, ermöglichte das Leben im Exil Weichenstellungen, die im Afghanistan der neunziger Jahre nicht möglich gewesen wären. Als Kabul zum Schlachtfeld der Warlords wurde, floh Siddiques Familie nach Pakistan. In Islamabad schloss er sich der entstehenden Rockszene an und gab mit pakistanischen Freunden seine ersten Konzerte.

Kabul ist der Ort, der uns zusammenführte. Hier trafen unsere Träume aufeinander.“Suleiman Kardesh

Mujtaba, ein Tadschike, kam seinerseits im Iran mit dem Schlagzeug in Berührung. Bei seiner Rückkehr nach dem Fall der Taliban freundete er sich in Kabul mit Siddique an. Die beiden spielten zunächst Pop und nahmen Werbemusik auf.

Erst als Suleiman die zwei Musiker für den Rock begeisterte, stand der Stil der neugeborenen Gruppe fest. „Keine andere Musik hat für mich so viel Energie wie Rockmusik“, schwärmt Suleiman. Ihre Kindheit hatten alle drei fernab der Heimat verbracht. „Kabul ist der Ort, der uns zusammenführte. Hier trafen unsere Träume aufeinander“, sagt Suleiman. „Daher der Name ,Kabul Dreams’“.

Gegenklang zu Pessimismus im Alltag

Die Musik von „Kabul Dreams“ ist in der Indie-Rock-Szene nichts Neues. Mit seinen  Gitarrenriffs und leicht klischeehaften Teenierock-Stimme hätte es Sulaiman in Europa wahrscheinlich schwer, Rocker-Karriere zu machen. Aber für Afghanistan sind die Jungs eine Erfrischung, ein willkommener Gegenklang in einer Gesellschaft die vor allem von Pessimismus und Zukunftssorgen umtrieben ist. Viele junge Afghanen wollen nämlich vor allem nur eines: ihr Land verlassen. Fast zwei Drittel der Bevölkerung des Landes ist unter 25 Jahren alt.

Siddique erinnert sich gut an ihre erste gemeinsame Bandtours. „Kabul Dreams“ waren erst wenige Monate alt. Man hatte sie auf das „South Asian Band Festival“ nach Delhi eingeladen. Eine Rockband aus Afghanistan – das war etwas Neues. Am Kabuler Flughafen beäugte ein Soldat die Pässe der Musiker.

Der Mann war erstaunt: ein Usbeke, ein Paschtune und ein Tadschike zusammen im Flugzeug. „Er wollte wissen wie wir zueinander gefunden haben. Erst da wurde mir bewusst, dass wir alle ja drei ganz unterschiedliche Hintergründe haben“, lacht Siddique. Der muskulöse Bassist hat buschige Augenbrauen und trägt Gel in den Haaren. Lässig lässt er sich gegen die Lehne seines Drehstuhls fallen.

Musik war doch schon immer eine Medizin, die den Menschen positiv stimmt.“ Siddique Ahmad

Der Gig in Delhi gab der jungen Band Auftrieb. Zuhause in Afghanistan allerdings erfuhren die Musiker was es bedeutet, Rock-Pioniere zu sein. „Bei unserem ersten Konzert in Kabul erwarteten die Zuhörer klassische Musik“, sagt Siddique. Oder leicht verdaulichen Pop, der aus jedem Kabuler Taxiradio plärrt. Aber niemand kannte Rock.

Dem Publikum schienen die neuen Töne zu gefallen. „Kabul Dreams“ traten bald in Universitäten auf, in Restaurants und im französischen Kulturzentrum von Kabul. Sicherheit blieb dabei eine ständige Sorge. Ein geplantes Konzert während der Präsidentschaftswahl musste wegen akuter Anschlagsgefahr abgeblasen werden. Suleiman denkt, dass seine Bandmitglieder schon längst auf der Liste von Extremisten steht. Alles was neu ist und mutmaßlich aus dem Westen kommt ist den radikalen bewaffneten Kräften in Afghanistan wie den Taliban ein Dorn im Auge.

Psychologischer und kultureller Wiederaufbau

„So lange wir hier noch Musik machen können, werden wir Afghanistan nicht verlassen“, meint Siddique. Die ständige Beschäftigung mit Politik jedoch ließe seinen Verstand nicht zur Ruhe kommen, meint er. „Musik war doch schon immer eine Medizin, die den Menschen positiv stimmt.“ Afghanistan brauche nicht nur den Wiederaufbau von Infrastruktur, sondern auch einen psychologischen und kulturellen Wiederaufbau.

Die „Kabul Dreams“ sehen sich als Teil dieses langsamen, zähen Wiederaufbaus. Das Leuchten in den Augen der Konzertbesucher sei schon Beweis genug, meinen die Jungs. Und wenn nur als eine kurze Ablenkung von den hinreichend bekannten Problemen des Landes.

Allerdings erreichen die „Kabul Dreams“ mit ihren Konzerten nur jene Afghanen, die privilegiert genug sind, die zumeist abgeschirmten Veranstaltungsorte zu besuchen. Aus dieser Selektion wollte die Band an einem Sommertag vor ein paar Jahren ausbrechen. Ohne großes Nachdenken packten sie Verstärker und Instrumente ein und zogen raus auf die Straße. Im Kabuler Stadtviertel Shar-e-Now starteten sie eine spontane Musik-Show. Einfach so.

Aufgeregt wie zwei Kinder, die etwas vollkommen Verrücktes getan haben, scrollen Suleiman und Siddique durch die Fotos von jenem Nachmittag, an den sie sich gerne zurückerinnern. Auf den Bildern sind Männer im schmutzigen Shalwar Kameez, dem typischen Hosenanzug der einfachen Afghanen, zu sehen und hören gebannt den Rockklängen zu. Kinder staunen über die Gitarren. Taxifahrer haben ihre Fenster heruntergekurbelt und können ihren Augen kaum trauen.

In vielen Städten der Welt wäre das eine ganz normale Szene – doch in Kabul, einer Stadt, die so viel Gewalt gesehen hat und nach wie vor von regelmäßigen Anschlägen heimgesucht wird, ist das eine kleine Sensation.