Mit der Kampagne „Clean India“ will die indische Regierung das Land bis 2019 – pünktlich zum 150. Geburtstag von Mahatma Ghandi – saubermachen. Bei allem politischen Aktivismus bleiben allerdings große Herausforderungen.
Trüb fließt das faulgraue Wasser am Rande der Backsteinsiedlung den Bach hinunter. Ein Rudel Hunde watet am Ufer durch einen Morast aus Schlamm, Bioabfall und Plastiktüten, im Wettbewerb mit einer streunenden Kuh auf der Suche nach Essbarem. Zwei ins Spiel vertiefte Kleinkinder haben sich, als wären es Bauklötze, eine Wand aus leeren Speiseölkanistern gebaut. Der moderige Geruch von abgestandenen Abfällen bleibt in der Nase hängen.
Wer hier in Ramapir Tekro aufwächst, gewöhnt sich an ein Leben mit dem Müll. Die Bewohner des größten Slum in der westindischen 6-Millionen-Metropole Ahmedabad, zu weiten Teilen verarmte Ländler die es in die Stadt getrieben hat, stehen in einem täglichen Kampf ums Überleben. Für einen bewussten Umgang mit Abfällen und eine hygienische Lebensführung fehlt es in Ramapir Tekro an Infrastruktur und Bewusstseinsbildung.
Ein Geburtstagsgeschenk für den Mahatma
Dabei ist Ahmedabad die Hauptstadt von Gujarat, jenem Vorzeige-Bundesstaat, in dem Indiens Präsident Karriere machte und sich als wirtschaftsfreundlicher Macher profilierte. Wenn es nach Narendra Modi ginge soll Indien bis Oktober 2019 sauber sein, denn dann feiert das Land den 150. Geburtstag von Mahatma Gandhi. Für Gandhi war Sauberkeit neben der Freiheit Indiens ein brennendes Anliegen, viele Zitate des Unabhängigkeitsführers belegen dies.
Um das Geburtstagsgeschenk für den Mahatma vorzubereiten, initiierte Modi vor dreieinhalb Jahren die “Clean India”-Kampagne, ein groß angelegtes Sauberkeitsprogramm, das neben Straßenreinigung in Indiens Städten Recyclinginitiativen und Toilettenbau vorantreiben will. Modi ließ sich medienwirksam beim Fegen in einer besonders dreckigen Straße von Delhi fotografieren.
Das ikonenhafte Logo von “Clean India”, Gandhis kreisrunde Brillengläser, hat die Regierung sogar auf die neuen indischen Geldscheine gedruckt, damit es bloß niemand übersieht. Dass Gandhi für ein politisches Programm eingespannt wird, ist in Indien nichts Neues — der “Vater der Nation” muss in jeder zweiten Politikerrede als moralisches Backup herhalten.
Wirtschafts- und Umweltpolitik in der Kritik
Die Kampagne, für welche die Regierung auch Sänger, Bollywoodstars und Krickethelden einspannte, erreichte in wenigen Wochen Millionen von Menschen. Viele junge Inder reagierten in den sozialen Netzwerken und machten Sauberkeit zum viralen Thema. Kritiker jedoch sehen Modis liberale Wirtschaftspolitik, die bereits zu einer Aushöhlung von Umweltgesetzen führte, im starken Widerspruch zu einem sauberen Indien. Viele der großen indischen Unternehmen tragen erheblich zur Verunreinigung der natürlichen Ressourcen bei. Die systematische Verschmutzung des Ganges und die zum Teil lebensbedrohlichen Smogwolken über Delhi sind nur zwei besonders prominente Beispiele.
Shanta Ben weiß wenig von der großen Politik, aber umso mehr von Müll. Die 40-Jährige im violetten Sari hat Dreiviertel ihres Lebens als Müllsammlerin gearbeitet. “Im Alter von zehn Jahren schickten mich meine Eltern zum ersten Mal mit einem Plastiksack auf die Straße”, erinnert sich Shanta Ben. “Um zum Familieneinkommen beizutragen.” Shanta Ben hat heute gut zehn Kilometer zurückgelegt und dabei zwanzig Kilo Müll auf ihrem Rücken transportiert. Ihr Tagesverdienst: 260 Rupien (rund drei Euro).
Geschätzt zwei Millionen solcher Müllsammler leisten tagtäglich einen erheblichen Beitrag zur Müllentsorgung in Indiens Städten. In der Regel sind sie informelle Arbeiter, deren Einkommen von der Willkür mafiöser Mittelsmänner abhängt, die den gesammelten Müll an Recyclingunternehmen weiterverkaufen. “Die allermeisten der Sammler sind Frauen”, sagt Ashish Agrawal, der in Ramapir Tekro für die gandhianische NGO Manav Sadhna ein Recyclingprogramm entwickelt hat. Die Männer in Indien, so Agrawal, hätten ein zu großes Ego um solch erniedrigende Arbeit zu verrichten.
Für ihren Einsatz als unsichtbares Rückgrat eines sauberen Indiens bekommen die Müllsammlerinnen von Gesellschaft und Politik keine Anerkennung. Im Gegenteil: Häufig sind die Frauen Schikanen und Belästigung ausgesetzt, weshalb sie ihre Arbeit lieber im Dunkeln verrichten, etwa am frühen Morgen oder späten Abend.
Mangelnde Sauberkeit als Symptom der Armut
Agrawal, der eine Masterarbeit über Recyclingstrategien für Ahmedabad geschrieben hat, blickt insgesamt positiv auf die “Clean India”-Kampagne. Die politische Initiative sei ein Schritt in die richtige Richtung. Zum ersten Mal habe eine indische Regierung Müllentsorgung zum Mainstreamthema gemacht. “Doch die Arbeit beginnt hier am Boden. Leider schaut unsere Bevölkerung auf die Müllsammlerinnen herab. Dabei sollte Indien ihnen Respekt zollen.”
Genau diesen Respekt erfährt Shanta Ben in Agrawals Projekt. Er trägt die Form von einem Glas warmer Milch, das jede der Müllsammlerinnen mit ihrem Gehalt überreicht wird. Eine kleine Geste, aber zwischen den stinkenden Müllbergen, die sich in der Lagerhalle auftürmen, ist dies ein Zeichen von Würde und Wertschätzung. Bis zu sauberen Lebensbedingungen für die Slumbewohner wie Shanta Ben ist es allerdings ein langer Weg.
“An erster Stelle stehen die Grundbedürfnisse. Erst wenn diese erfüllt sind, kann man über Sauberkeit nachdenken”, so Agrawal. Er zeigt auf die Unmengen an aufgetürmten Plastik. “Unsere Religion ist nicht der Hinduismus oder der Islam. Es ist der Konsum.” In den letzen zwei Jahren habe die Recyclingwerkstatt über 900 Tonnen Müll wiederaufbereitet.
Von Ramapir Tekro sind es nur wenige Kilometer bis zum Sabarmati-Aschram, wo Mahatma Gandhi dreizehn Jahre lebte und seine Ideen für den indischen Unabhängigkeitskampf erprobte – lange bevor Plastik die Ufer des Sarbarmati-Flusses verschmutzte. Der Weg zum Aschram führt über die Dandi-Brücke, die Gandhi und seine Anhänger beim berühmten Salzmarsch überquerten.
Sanitärversorgung wichtiger als Unabhängigkeit
Seit fünfzig Jahren widmet sich angrenzend an den Aschram das “Institut für Sanitärversorgung” der Aufklärung und dem Bau von Sanitäranlagen in Indien. Dies ist in Indien eine Mammutaufgabe: Über 700 Millionen Menschen auf dem Subkontinent besitzen nach wie vor keinen Zugang zu einer Latrine. Defäkation unter freiem Himmel ist sowohl in der Stadt, als auch auf dem Land eine weitverbreitete Praxis, die neben der Übertragung von Krankheiten besonders für Frauen gravierende Folgen hat. Viele der Vergewaltigungsfälle in Indien ereignen sich während der Stuhlentleerung im Freien. „Sanitärversorgung ist wichtiger als Unabhängigkeit“, soll Gandhi einmal gesagt haben.
“Befreie dich von allem Druck” steht auf einer der Toilettentüren im Sanitärinstitut, während vor dem Haus eine Ausstellung mit Klomodellen in allen Größen und Formen bestaunt werden will. “Die Toilette ist heiliger als ein Tempel. In den Tempel geht man schließlich nur einmal die Woche, auf die Toilette jedoch jeden Tag”, sagt Jayesh Patel mit einem verschmitzten Lächeln, wohlwissend, dass so ein Ausspruch in Indien eine kleine Provokation ist. In den Fußstapfen seines Vaters, den man den “Toilettenmann von Indien” nannte, kämpft Patel für eine bessere Sanitärversorgung. “Jeder Mensch ist in Wirklichkeit ein kleines Kraftwerk”, lacht er und zeigt auf eine Laterne, die vollständig mit den gesammelten Gasen aus einem Toilettentank betrieben wird.
Zuerst eine Veränderung des Bewusstseins
Patel ist ein Anpacker, der sich mitfühlend den Sorgen seiner Mitmenschen annimmt, besonders im Slum von Ramapir Tekro. Außerdem war er der stille Ideengeber hinter “Clean India”. Inspiriert von Patels Arbeit will Modi nun im Rahmen seiner Sauberkeitskampagne im ganzen Land 100 Millionen Toiletten errichten lassen. Werden diese neuen Toiletten aber auch wirklich besucht? Patel erzählt von Dörfern, in denen nagelneue Toiletten monatelang ungenutzt herumstanden, weil die Bewohner ihre alten Gewohnheit vom Stuhlgang im Freien nicht aufgeben wollten.
Hardware zu liefern, das weiß auch Patel, ist immer leichter als die “Software” in den Köpfen der Menschen neu zu programmieren. Mit anderen Worten: Indiens Sauberkeitsproblem lässt sich nicht allein mit großen Infrastrukturprogrammen lösen. Und dies ist wohl der Hauptkritikpunkt an Modis Sauberkeitsintiative. Veränderung muss auf allen Ebenen ansetzen. Sie muss als allererstes in den Köpfen und Herzen der Menschen beginnen. Denn eine indische Weisheit besagt: Verschmutzung im Äußeren ist immer auch eine Reflexion der Verschmutzung im Inneren.