Berücksichtigt man die Größe der Bevölkerung, ist in keinem anderen Land die Zahl der Coronavirus-Infizierten so rasant angestiegen wie in Luxemburg. Doch die Fallzahlen sagen nur bedingt etwas über den Ernst der Lage, geschweige denn über die weitere Entwicklung der Pandemie aus.
Luxemburg sei die „kaum bekannte Covid-19-Brutstätte“, schrieb kürzlich das britische Magazin „The New Statesman“. Der Binnenstaat habe mehr Coronavirus-Fälle pro Kopf als Italien und eine der höchsten Infektionsraten der Welt, so die Erklärung. Auf den ersten Blick ist das faktisch nicht falsch. Doch die offiziellen Fallzahlen sind letztlich nicht allein entscheidend.
Die Frage, die sich seit einiger Zeit fast jeder Staat stellt: „Wie viele Tage liegen wir hinter Italien?“ Vergleicht man die Zahlen aus den verschiedenen Ländern, lässt sich ein Trend ablesen, der mittlerweile fast zu einem Naturgesetz wurde: Ohne Gegenmaßnahmen verdoppelt sich die Fallzahl jeden dritten Tag. Zu Beginn folgte Luxemburg diesem Trend. In den vergangenen Tagen konnte das exponentielle Wachstum hingegen begrenzt werden. Wie viele Tage Luxemburg hinter Italien liegen soll, ist demnach unklar – und ohnehin irreführend.
Mehr Tests führen zu mehr Fällen
Die Statistiken basieren auf der Anzahl der Menschen, die positiv getestet wurden. Das nahe liegende Problem: Nicht jedes Land testet gleich viel. In Italien wurden bisher vor allem Menschen auf das Virus Sars-CoV-2 getestet, die eine medizinische Behandlung benötigen. In Norwegen und Südkorea zum Beispiel wird hingegen weitaus mehr getestet, darunter auch Menschen, die nur geringe Symptome zeigten.
Auch der Zeitpunkt des Ausbruchs spielt eine Rolle. In Italien fiel der Beginn mit dem Höhepunkt der Grippesaison zusammen. „Dann werden Infektionen leicht übersehen“, erklärt der Virologe Claude Muller im Gespräch mit REPORTER.
Stand Mittwoch, wurden hierzulande laut Ministerium mehr als 10.000 Tests durchgeführt. Dies würde bedeuten, dass mehr als 1,6 Prozent der Gesamtbevölkerung getestet wurden, wenn jeder nur einmal getestet wird. Damit ist Luxemburg womöglich Spitzenreiter in der Zahl von Tests pro Einwohner.
Auch diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Teile Deutschlands wurden zum Beispiel bis jetzt vom Virus größtenteils verschont. Dort wird dementsprechend wenig getestet. Der Durchschnitt von Tests pro Millionen Einwohner wird also durch solche Regionen künstlich nach unten gezogen. Zudem fließen in die Luxemburger Statistik mittlerweile auch Fälle ein, die nicht positiv getestet wurden, sondern bei denen durch andere Diagnoseverfahren Coronavirus-Symptome festgestellt wurden, wie das Gesundheitsministerium diese Woche erklärte.
Die Spitzenreiter-Position Luxemburgs bleibt dennoch erstaunlich. Theoretisch sollen in Luxemburg lediglich Menschen, die selbst Teil einer Risikogruppe sind oder Menschen, die mit möglichen Risikopatienten zusammenleben, getestet werden. „Die Realität ist eine andere“ sagt Joël Mossong. Laut dem Epidemiologen des „Laboratoire national de santé“ (LNS) handelt es sich dabei nur um eine Empfehlung des Ministeriums.
Fallzahlen und andere Maßstäbe
Zudem reicht das Testen alleine nicht aus. Das zeigt das Beispiel Südkorea. Dort setzen die Behörden viele Mittel ein, um herauszufinden, mit wem eine infizierte Person im Kontakt stand. Hierfür werden selbst Mobilfunkdaten der Bürger ausgewertet. In Europa wäre dies aus Datenschutzgründen kaum möglich. Luxemburg versuchte zu Beginn zwar noch ein „contact tracing“ durchzuführen, hat diese Methode aber mit der steigenden Zahl der Infektionen aufgegeben.
Die Sammlung von Daten ist sinnvoll, aber man darf nicht zu viel in sie hinein interpretieren.“Joël Mossong, Laboratoire national de santé
Trotzdem erfüllen die Statistiken einen Zweck. „Anhand von den Zahlen lassen sich die richtigen Fragen stellen“, sagt der Virologe Claude Muller. Die Sterberaten in den verschiedenen Ländern können zum Beispiel behilflich sein, um zu verstehen, was in einer jeweiligen Region anders abläuft. Zudem könnte durch das Kartografieren der Zahlen festgestellt werden, ob es eine gleichmäßige Verteilung über das ganze Land oder bestimmte „Cluster“ gibt. Laut dem Viren-Experten des „Luxembourg Institute of Health“ gibt es mittlerweile eine solche Karte für Luxemburg, aber sie ist nicht öffentlich zugänglich.
„Die Sammlung von Daten ist sinnvoll, aber man darf nicht zu viel in sie hinein interpretieren“, sagt auch Joël Mossong im Gespräch mit REPORTER. In den Zahlen der Neuinfektionen lasse sich am schnellsten ein Trend ablesen, ob die Maßnahmen wirken oder nicht. Dennoch sind sie nicht so zuverlässig wie die Zahl der Menschen, die wegen Covid-19 in ein Krankenhaus eingewiesen werden müssen, so der Epidemiologe.
Suboptimale Datenlage zu Beginn
Zusätzlich erschwert wird die Interpretation der Zahlen durch die variable Inkubationszeit bzw. den Krankheitsverlauf bei Covid-19. „Allerdings kommt es meistens erst nach zwei bis drei Wochen zu Komplikationen, die zu einer Einweisung ins Krankenhaus führen könnten. Die Maßnahmen der letzten Wochen werden in den Statistiken also erst in ein oder zwei Wochen sichtbar sein“, so Joël Mossong vom LNS.
Die Datenlage ist in dieser Hinsicht allerdings dünn. Zu Beginn der Pandemie wollten die Behörden darüber am liebsten gar nicht kommunizieren. Heute wird die Zahl der besetzen Krankenhaus- und Intensivbetten im Gegensatz zu den Neuinfektionen nur am Rande erwähnt.
Auch für die Forscher, die an einem epidemiologischen Modell für Luxemburg arbeiten, stellt sich dieses Problem. Die Daten, die die Wissenschaftler vom Ministerium erhalten, hätten sich aber mittlerweile verbessert, sagt Joël Mossong. Das sei auch normal. „Die Priorität des Ministeriums war, sich auf ein ‚Worst-Case-Szenario‘ vorzubereiten, ein sauberer Datensatz ist dann zweitrangig.“
Zwei Modelle eines Ausbruchs
Wie dieses „Worst-Case-Szenario“ aussehen könnte, lässt sich anhand von bestehenden Modellen veranschaulichen, etwa jenem von Forschern der Universität Basel.
REPORTER hat die Pandemiemodelle für Luxemburg durchgespielt. Die Werte basieren nicht auf allen zugänglichen Daten und sie können nur einen Trend anzeigen. Zum Beispiel könnte die Zahl der importierten Infektionen in Luxemburg größer sein als im Ausland. Auch die Zahl der Infizierten könnte theoretisch höher sein als im Ausland, weil sich im Land arbeitende Grenzgänger in Luxemburg testen lassen können.
Das Modell stützt sich wie gesagt auf viele Annahmen, die von Daten nicht abgedeckt werden können. Trotzdem kann es zumindest einen Hinweis darauf geben, wie schnell das Gesundheitswesen überfordert sein könnte. Es veranschaulicht zudem, warum ein schnelles Handeln dringend nötig war. Ohne restriktive Maßnahmen hätte Luxemburg spätestens im Mai die Kapazität an Intensivbetten verzehnfachen müssen, um dem Ansturm gerecht zu werden. Mehrere Monate lang hätte die Überlastung der Krankenhäuser angedauert.
Durch die beschlossenen Maßnahmen der vergangenen Woche ist die Infektionsrate mutmaßlich stark gefallen. In diesem Fall geht das Modell davon aus, dass sich bereits Ende März die Ansteckungsgefahr um 25 Prozent verringert hätte. Zwischen April und September würde in diesem Szenario eine Person im Schnitt nur noch eine bis 1,2 weitere Personen anstecken.
Die Forscher um Richard Neher der Universität Basel beschreiben dies als Szenario mit starken Gegenmaßnahmen. Zum Vergleich: In China ist es durch den kompletten „Lockdown“ gelungen, die Infektionsrate unter 1,0 zu drücken.
Wie der Virologe der Berliner Charité Christian Drosten in den vergangenen Tagen sagte, veranschaulicht das Pandemiemodell mit restriktiven Maßnahmen vor allem, dass der Kampf gegen das Coronavirus „kein Sprint, sondern ein Marathon“ ist. Die Zahl der schwer Erkrankten beginnt selbst in den besseren Szenarien erst im Mai zu fallen. Sollten die Maßnahmen dann wieder gelockert werden, könnte es allerdings schnell wieder zu einem Anstieg problematischer Fälle kommen.
Hinzu kommt, dass es generell für Ausgangssperren und andere restriktive Maßnahmen wenige Erfahrungswerte gibt. Erst durch genauere Daten kann letztlich beurteilt werden, ob die Maßnahmen der Regierung wirken und ab wann es zu Lockerungen kommen kann. Die Zahlen der letzten Tage geben zwar Grund zur Hoffnung. Doch raten die meisten Experten dazu, sich weniger an Pandemiemodellen zu orientieren als vielmehr die Anzahl der Tests weiter zu erhöhen, um die mitunter verwirrende Datenlage zu verbessern.