Der Krieg der Türkei in Nordsyrien bedroht viele Menschen. Zu ihnen zählen auch die aramäischen Christen in Südostanatolien, die um den Fortbestand ihrer jahrtausendealten Kultur kämpfen. Immer wieder geraten sie in die Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden. Eine Reportage.
Der Ball schnellt in die Luft. Fast droht er über die Kirchenmauer zu segeln. Die sechs Hobbykicker unter dem Glockenturm mit dem Metallkreuz rufen sich Spielanweisungen zu. Ihre Sprache schallt anders über den Hof als das Türkische. Sie ist kehlig wie Arabisch und mutet leicht archaisch an, mit einer ganz eigenen Sprachmelodie. Es ist ein Dialekt des Aramäischen, jener Sprache, die einst Jesus Christus gesprochen haben soll.
Die Abendsonne hat den Kirchhof in ein mystisch-goldgelbes Licht getaucht. Der Wärter verriegelt die schwere Holztür der Kirklar-Kirche, eine von sieben syrisch-orthodoxen Kirchen in der südosttürkischen Stadt Mardin. Die siebenjährige Theodora schaut dem Fußballspiel gelangweilt zu. Die Erstklässlerin hat ihr pechschwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihr verschmitztes Grinsen offenbart Zahnlücken.
Nach einer Weile erscheint Theodoras Onkel Iliyo, der 22-jährige Sohn des Gemeindepfarrers. Er legt den Arm um seine Nichte. „Theodora, sprich Deutsch mit dem Gast“, sagt er auf Aramäisch. Theodora wohnt mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in Süddeutschland. Nun in den Sommerferien ist sie das erste Mal zu Besuch in der Heimat ihrer Vorfahren, im Kernland der syrisch-orthodoxen Kirche. Hier pflegten einst ihre Großeltern zu arbeiten und zu beten. „Ein bisschen heiß ist es, aber die Kinder hier sind sehr nett“, lässt sich Theodora entlocken. Sie versteht zwar kein Türkisch, kann sich aber auf Aramäisch mit den Gleichaltrigen aus der Kirklar-Gemeinde unterhalten.
Ganze Dörfer im Exodus
„Meine große Schwester, Theodoras Mutter, hat die Türkei vor Jahren verlassen. Wir Zurückgebliebenen versuchen, die aramäische Kultur hier am Leben zu erhalten. Wir wollen nicht, dass die Menschen nach Europa auswandern“, erklärt Iliyo. „Aber wir können es ihnen natürlich nicht verbieten.“ In den Sommermonaten veranstaltet die Kirklar-Kirche Aramäischkurse, um den Nachkommen der frühen Christen die alte Liturgiesprache nahezubringen — in Schrift und Wort.
Das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris im Länderdreieck von Türkei, Syrien und Irak ist seit siebzehn Jahrhunderten Heimat der aramäischen Christen. Die Region, zu der die moderne türkische Provinz Mardin gehört, ist eine der ältesten durchgängig von Christen bevölkerten Gegenden der Welt. Als Träger jener von den Anfängen des Christentums bis in die Gegenwart ungebrochenen Tradition leben die Kirchgänger der Kirklar-Gemeinde mit einem Gefühl von Verantwortung.
Zehntausende syrisch-orthodoxe Christen siedelten aus wirtschaftlichen Nöten in den Sechziger- und Siebzigerjahren nach Europa über. Eine zweite Welle floh in den Achtzigern und Neunzigern im Zuge des Kurdenkriegs. Im Kreuzfeuer zwischen kurdischen Rebellen und der türkischen Armee gefangen, waren die Aramäer zwar nicht direkt am Krieg beteiligt, wurden jedoch von beiden Konfliktparteien mit Misstrauen behandelt. Vertreibung, Entführungen von Dorfpriestern und eine Reihe von Mordanschlägen auf Christen trieben ganze Dörfer in den Exodus. Heute liegt die aramäische Bevölkerung in der Türkei bei rund 15.000. In Mardin, so sagt man, seien es noch knapp einhundert Familien. Zum Vergleich: In Deutschland und in Schweden leben jeweils rund einhundert Tausend syrisch-orthodoxe Christen.
Militäroffensive bedroht Christen
„Die schlimmsten Zeiten sind zum Glück vorbei. Ich habe in meiner Jugend in Mardin keine Diskriminierung mehr erlebt. Vielleicht mal ein paar Hänseleien in der Schule, doch die sind nicht der Rede wert“, meint Iliyo. Dann tritt plötzlich sein Vater in den Innenhof. Er trägt eine schwarze Priesterkappe und lächelt freundlich in die Runde. Die Jungs unterbrechen ihr Fußballspiel, um dem Geistlichen respektvoll die Hand zu küssen. Theodora aus Heilbronn schenkt ihrem Opa eine Umarmung.
Doch während sich die aramäischen Christen in Mardin um den Fortbestand ihres kulturellen Erbes sorgen, tobt rund fünfzig Kilometer Luftlinie entfernt wieder der Krieg. Ein neues Kapitel im Kampf um Syrien hat begonnen: Nach Trumps Truppenabzug aus Nordsyrien startete die Türkei in der zweiten Oktoberwoche eine Offensive gegen die kurdischen Kämpfertruppen in der autonomen Kurdenregion.
Jener De-facto-Staat war nach der Schlacht um Kobane und dem Sieg über den IS erschaffen worden und galt fortan als Musterbeispiel für Demokratie und eine offene Gesellschaft in einer von Chaos geprägten Region. Doch zu diesem Bild gehörte auch eine gute Portion westliches Wunschdenken. Denn der militaristisch-autoritäre Regierungsstil der kurdischen Führung ähnelte jenem von Assad, während man sich der Ideologie des seit zwei Jahrzehnten inhaftierten PKK-Führers Öcalan verschrieben sah.
Kritik an kurdischer Verwaltung
Während sich die weltweite Empörung über das Vorgehen der Türkei in der „Operation Friedensquelle“ auf die Unterdrückung der Kurden konzentriert, werden unter dem erneuten Aufflammen der Kämpfe auch die Christen in der Region leiden: In einigen aramäischen Dörfern in Nordostsyrien hatten in den ersten Tagen der Operation läutende Kirchenglocken die Bewohner vor türkischen Angriffen gewarnt.
Die meisten der aramäischen Christen hatten sich in den vergangenen Jahren nicht auf die Seite der kurdischen Verwaltung gestellt. Zwar genossen die Aramäer nach den Raubzügen des IS, bei dem ganze christliche Dörfer verwüstet wurden, einige Jahre verhältnismäßiger Ruhe. Doch das Leben unter der kurdischen Verwaltung war für die Christen geprägt von Gängelung, Verletzung von Menschenrechten und Repressalien gegen christliche Akademiker und Journalisten.
John Messy, Präsident des Weltkonzils der Aramäer (WCA) kritisierte in einer am 9. Oktober veröffentlichten Pressemitteilung die kurdischen Autonomiegruppen scharf: „Die kommunistische Ideologie und gewaltvolle Natur dieser nationalistischen Organisationen schaden demokratischen und freiheitlichen Werten. Diese ‚Helden‘ haben schutzlose Aramäer unterdrückt, ihre unschuldigen Leben genommen, ihre Länder kurdifiziert und benutzen eine winzige christliche Gruppe als ihr Sprachrohr, um kurdische Interessen zu vertreten.“
Vom Zufluchtsort zur Bedrohung
Doch gleichzeitig fürchten die aramäischen Gruppen in den Städten von Nordsyrien unter Hinweis auf das Jahr 1915 eine Wiederholung der Geschichte — dies waren die Jahre des Mordens an den Armeniern. Damals mussten auch zahlreiche aramäische Christen ihre Heimat in Südostanatolien verlassen.
Auslöser der Sorgen ist vor allem, dass sich die Türkei bei ihrem Säuberungsfeldzug an Kämpfern der „Syrischen Nationalarmee“ bedient. Dabei handelt es sich um ein islamistisches Bündnis, das wenig Hehl aus seiner Verachtung von religiösen Minderheiten macht. Die Folgen für die Christen in Nordsyrien könnten verheerend sein.
Ironischerweise hatte die IS-Gewalt bereits viele Christen aus Nordsyrien in die Türkei getrieben, die nun selbst ein Angreifer ist. Auch in der Mardiner Kirklar-Kirchengemeinde fanden damals einige der 150 aramäischen Neuankömmlinge Zuflucht. Die Stadt ist für sie eine Basis auf der Reise gen Europa, wo sie sich als Christen erhöhte Asylchancen versprechen.
Iliyos Vater koordinierte dabei die Nothilfe, verschaffte den Flüchtlingen Mahlzeiten und Unterkünfte. Einige der Christen aus Syrien kamen in den leer stehenden Häusern jener Christen unter, die einst während des Konflikts mit den Kurden Mardin verlassen mussten. Viele der Aramäer in Syrien sind zudem Nachkommen von Christen, die vor einhundert Jahren vor osmanischer Verfolgung aus Anatolien flohen.
Die aramäischen Christen werden seit Jahrzehnten zwischen den Kriegsfronten hin- und hergetrieben. Doch die Auswirkungen der türkischen Offensive auf die aramäische Bevölkerung werden sich erst in den nächsten Wochen zeigen.
In der Kirklar-Gemeinde von Mardin zumindest spricht niemand von einem Aussterben der altchristlichen Kultur. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren auch positive Zeichen: Inzwischen wird an der Mardiner Artuklu-Universität etwa ein Kurs in aramäischer Sprache und Geschichte angeboten, was in der Türkei vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Es ist genau diese Türkei, die nun manche Christen in Nordsyrien fürchten.