Umfragen sind nur Momentaufnahmen und nicht zu überschätzen, heißt es. Und doch haben sie mittlerweile auch in Luxemburg eine politische Eigendynamik entwickelt, die eine fruchtbare Debatte über die Sachthemen erschwert. Eine Analyse.
„Das Beste an Umfragen ist: Sie garantieren der Chefredaktion, die sie in Auftrag gibt, eine planbare Schlagzeile“, schreibt der Schweizer Journalist und Autor Constantin Seibt in seinem Bestseller „Deadline“. „Egal, ob es um die beliebtesten Politiker geht oder um die Haltung zu Banken, Religion, Sex – irgendetwas Verwertbares wird dabei herauskommen.“
Auch in Luxemburg vertrauen viele Medien auf die Macht der Politiker-Bestenlisten und entzückenden Tortengrafiken. So auch wieder in der vergangenen Woche, als „RTL“ und „Luxemburger Wort“ die „Sonndesfro“ und weitere Ergebnisse ihrer bei „TNS Ilres“ gekauften politischen Umfragen veröffentlichten. In der Tat kam dabei „irgendetwas Verwertbares“ heraus. Und die Schlagzeilen waren auch sicher.
Das Geschäft mit der „Sonndesfro“
Regelmäßig lassen die Publikationen der „Sonndesfro“ aber die gebotene Vorsicht im Umgang mit demoskopischen Daten vermissen.
Ein Beispiel: Laut „RTL“ ist Schwarz-Grün mit Verweis auf die Umfragen „die meisterwartete und meistgewünschte Koalition“. So titelte „RTL.lu“ am vergangenen Freitag, so wurde es prompt per Push-Mitteilung an die Leser versendet und so ging es den ganzen Tag über den Äther von „RTL Radio“ und „RTL Télé“.
Umfragen werden nicht nur als akkurate Abbildung der Realität begriffen. Sie werden mittlerweile schlicht zur politischen Realität erklärt. So werden sie zumindest den Lesern verkauft.“
Die Zahlen zeigen: Mit 33 Prozent „erwartet“ sich in der Tat eine relative Mehrheit der Befragten eine Koalition aus CSV und déi gréng, nur sieben Prozent eine Fortsetzung der aktuellen blau-rot-grünen Koalition. Geht es nach der „gewünschten“ Koalition schrumpft der Wert bereits auf 18 Prozent der Befragten. 13 Prozent sprechen sich für Blau-Rot-Grün aus. Bei 19 Prozent indes liegt die Antwortoption „Weess net/Refus“.
Was heißt das konkret? 33 Prozent, also um genau zu sein 1.162 der 3.521 Befragten erwarten Schwarz-Grün. 18 Prozent bzw. 634 Befragte wünschen sich diese Koalition. Aus dem demoskopisch ermittelten Trend wird wie durch Zauberhand eine Gewissheit. Aus der eigentlich angebrachten Meldung „634 Wähler wurden über den Zeitraum von sechs Monaten befragt und äußerten eine Präferenz für Schwarz-Grün“ wird so: „Luxemburg will Schwarz-Grün“. Das „Luxemburger Wort“ fasste die Ergebnisse gar als Aufforderung zusammen: „Sonndesfro: CSV und Grüne sollen sich zusammentun“.
Mangelnde journalistisch-kritische Distanz
Auch wenn manche Journalisten diese Meldung in ihren Kommentaren relativieren, verfehlen die griffigen Titel bei den Lesern nicht ihre Wirkung. Während die Umfragegläubigkeit in der Bevölkerung zwar nur vermutbar ist, ist die mangelnde journalistisch-kritische Distanz gegenüber der Demoskopie belegbar. Wenn die Redaktionen des Landes nicht so empfänglich für die magere demoskopische Kost wären, wären Umfragen lediglich Umfragen. Doch die planbaren, für den Leser leicht bekömmlichen Schlagzeilen gehören mittlerweile zum politisch-medialen Kerngeschäft.
Jeder Politiker kann für sich etwas aus den Umfrageergebnissen herauslesen. Irgendein Trend lässt sich über einen längeren Zeitraum immer erkennen oder zur Not konstruieren.“
Das Besondere an der Berichterstattung über die „Sonndesfro“ ist nämlich: Umfragen werden nicht nur als akkurate Abbildung der Realität begriffen. Sie werden mittlerweile schlicht zur politischen Realität erklärt. So werden sie zumindest den Lesern verkauft. „Desaster für die Regierung“, „Regierung verléiert 7 Sëtz, CSV wënnt der 6“, oder gar „Das Aus der Gambia-Koalition“: Glaubt man jedenfalls den Schlagzeilen mancher Medien, dann sind die Wahlen eigentlich schon seit Monaten gelaufen.
Umfragen sind also längst mehr als nur die berühmten „Momentaufnahmen“, die in einem bestimmten Zeitraum einen bestimmten Teil der Wählermeinungen widerspiegeln. Die unkritische Wiedergabe durch die Medien stilisiert sie zu Quasi-Wirklichkeiten. So entwickeln sie früher oder später eine Eigendynamik, der sich selbst die nüchternsten Beobachter und Akteure der Politik kaum entziehen können. Die Umfragen haben so das Potenzial einer selbst erfüllenden Prophezeiung.
Medial überhöhte politische Prophezeiungen
Auf die Politik sollte man sich in dieser Hinsicht lieber nicht verlassen. Denn die Skepsis vor den Umfragen ist bei Politikern rar und äußerst selektiv gesät. Jeder Politiker kann für sich etwas aus den Umfrageergebnissen herauslesen. Irgendein Trend lässt sich über einen längeren Zeitraum immer erkennen oder zur Not konstruieren. Vor allem aber sind Spitzenpolitiker und ihre loyalen Mitarbeiter, wie die Redaktionen aus langjähriger Erfahrung wissen, die wohl besten und sensibelsten Kunden der medial überhöhten Umfragenberichterstattung.
Seit Jahren legen die größten Medien erheblichen Wert auf die Publikation und Interpretation von Umfragen. Dafür verbrauchen sie auch regelmäßig wesentliche finanzielle und personelle Ressourcen. Es handelt sich also um eine bewusste Wahl. Letztlich tragen Medien so eine Mitverantwortung für den akuten Mangel an inhaltlichen Debatten im Wahlkampf. Rund vier Monate vor dem demokratischen Stichdatum scheint die Sache nämlich ausgemacht. Die Berichterstattung spitzt sich nicht auf inhaltliche Kontroversen, sondern auf die Frage zu: Mit wem wird die CSV wohl nach den Wahlen am 14. Oktober regieren?
Dass bis auf Weiteres außer Umfragen herzlich wenig auf einen Wahlsieg der CSV hindeutet, scheint für manche Medien zweitrangig.“
Dass aktuell außer Umfragen herzlich wenig auf einen Wahlsieg der CSV hindeutet, scheint für manche Medien zweitrangig. Eine schwarz-grüne Koalition wird fast schon herbeigeschrieben. Und das obwohl sie in Wirklichkeit und bis auf Weiteres keine arithmetische, geschweige denn eine politische Grundlage hat. Statt die vorhandenen Debatten über politische Probleme aufzugreifen, versuchen sich Journalisten weiterhin fleißig in zweifelhaften Vorhersagen und Deutungen der Zukunft.
Das wirkliche Problem lautet aber, dass die Dauerinterpretation der Umfragen die politische Debatte zersetzt. Umfragen sind oft genug eine gefällige Ausrede, um die weitaus aufwändigere journalistische Beschäftigung mit Sachthemen zu unterlassen, die die Leser letztlich mehr betreffen als die Illusion einer Abbildung ihrer wissenschaftlich ermittelten mehrheitlichen Meinung. Umfragen und darauf basierende Schlagzeilen versperren so regelmäßig den Blick auf die wirklichen politischen Probleme. Oder, um wiederum mit Constantin Seibt zu sprechen: „Sie sind der teuerste Ersatz für eine journalistische Idee, der sich denken lässt.“