Seit dem 16.März befindet sich Luxemburg im Ausnahmezustand. Das öffentliche Leben kommt in der Coronavirus-Krise weitgehend zum Erliegen. Wie lange kann eine Gesellschaft das aushalten? Und was kommt eigentlich nach dem „Lockdown“?
„Verantwortlich handeln, Verständnis zeigen, Disziplin und Respekt“: Xavier Bettel appelliert seit Tagen immer wieder an die Vernunft der Bevölkerung, um die Coronavirus-Pandemie zu bewältigen. Der Appell lässt sich für die allermeisten Bürger in einem Satz zusammenfassen: „Bleift doheem!“
Sinn und Zweck der von der Regierung in den vergangenen Wochen getroffenen Maßnahmen sind klar: Es geht darum, die Ausbreitung der Pandemie zumindest zu verlangsamen, das Luxemburger Gesundheitssystem so gut wie möglich zu entlasten und damit letztlich Menschenleben zu retten.
Doch je länger dieser Ausnahmezustand dauert, drängt sich unweigerlich die Frage auf: Wie lange soll dieser Zustand anhalten? Wie lange kann man den Großteil der Bevölkerung dazu bewegen, zu Hause zu bleiben? Wie lange kann man das öffentliche und soziale Leben weitgehend stilllegen? Und nicht zuletzt: Führen die restriktiven Maßnahmen auch langfristig dazu, das Coronavirus zu bekämpfen?
„Lockdown“ könnte Monate andauern
Verschiedene Forscher haben sich mit diesen Fragen beschäftigt und entsprechende „Pandemiemodelle“ aufgestellt. So etwa Wissenschaftler der Universität Basel, deren Prognosen sich auch auf Luxemburg anwenden lassen. Ein genereller Befund lautet: Die restriktiven Maßnahmen können in der Tat die Ausbreitung des Virus bremsen. Ohne die Maßnahmen könnten die Intensivstationen der Krankenhäuser bereits im April überlastet sein.
„In absehbarer Zeit sind größere Menschenansammlungen eher unwahrscheinlich.“Claude Muller, „Luxembourg Institute of Health“
Zu den Erkenntnissen der Forscher gehört aber auch: Wenn man dauerhaft eine Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden will, müsste der „Lockdown“ noch einige Monate lang andauern. Die Modelle reichen bis September 2020 oder sogar bis Anfang 2021. Diese düstere Prognose wird von Politikern bisher nicht öffentlich thematisiert. Und doch ist sie laut Experten nicht aus der Luft gegriffen.
„Wir werden in den nächsten Wochen, wahrscheinlich noch in den nächsten Monaten mit der Thematik beschäftigt bleiben“, sagte etwa Joël Mossong vom „Laboratoire national de santé“ im Interview mit „Radio 100,7“. Auch der Virologe Claude Muller warnt im Gespräch mit REPORTER davor, in naher Zukunft wieder zur völligen Normalität überzugehen. „In absehbarer Zeit sind größere Menschenansammlungen eher unwahrscheinlich“, so der Experte vom „Luxembourg Institute of Health“.
Regierung arbeitet an „Exit-Strategie“
Es ist eine Einschätzung, die auch von Ärzten in den Krankenhäusern geteilt wird. Man rechne in den kommenden Tagen mit einem Höhepunkt der Infizierungen, sagte der Chef-Notarzt der „Hôpitaux Robert Schuman“, Dr. Emile Bock, im Interview mit „Paperjam“. Mitte April sei demnach mit einem starken Anstieg der Intensivbehandlungen in den Kliniken zu rechnen. Frühestens ab Anfang Mai könne man zumindest darüber nachdenken, den „Lockdown“ etwas herunter zu fahren.
Was dem Mediziner an der vordersten Front dabei wichtig ist: Schon heute sollte die Politik eine solche „Exit-Strategie“ entwickeln. „Der Peak in den Krankenhäusern dürfte ab Anfang Mai wieder abnehmen. Ab dann müsste man einen Plan zum Ausgang aus der Krise aufzeigen“, so Emile Bock laut „Paperjam“.
Die Regierung drückt sich allerdings noch enorm vorsichtig aus. „Zu diesem Zeitpunkt werden wir uns dazu nicht äußern“, sagte Paulette Lenert am Freitag (27.März) auf die Frage, ob die Behörden eine „Exit-Strategie“ haben. Gleichzeitig betonte die Gesundheitsministerin, dass aktuell ein „ganzes Team“ an einer solchen Strategie arbeite. „Mitte nächster Woche“ erwarte sie sich eine verlässliche Datenbasis, anhand der man „verschiedene Szenarien“ durchspielen könnte, so die Ministerin.
Mögliche Etappen nach dem „Lockdown“
Wie könnte die nächste Etappe nach dem „Lockdown“ konkret aussehen? Der Virologe Claude Muller kann sich etwa vorstellen, dass nach einer Lockerung der Maßnahmen jeder, der vor die Tür geht, eine Mund- und Nasen-Schutzmaske tragen und man die physische Distanz von zwei Metern zu Mitmenschen weiter aufrechterhalten muss. Gepaart mit anderen Maßnahmen könnte so der „Lockdown“ eventuell in Etappen aufgelöst werden.

„Wichtige Voraussetzung ist, dass wir besser verstehen, wo sich die Menschen heute und unter den gelockerten Bedingungen anstecken. Das System dafür müssen wir jetzt aufbauen“, so Claude Muller weiter. Es ist eine Einschätzung, die zu den jüngsten Aussagen der Gesundheitsministerin passt. Die Vorbereitungen im Ministerium zielen dabei unter anderem auf Forschungen zu Virus-Antikörpern und damit auf Prognosen der sogenannten Herdenimmunität bzw. „Durchseuchung“ der Bevölkerung ab.
Letzteres meint die wahrscheinliche Perspektive, dass sich ein Großteil der gesunden Bevölkerung mit Sars-CoV-2 anstecken wird, solange kein Impfstoff gegen das Virus vorliegt. Erst wenn rund zwei Drittel der Gesamtbevölkerung gegen das Virus immun seien – sei es durch unproblematische Ansteckung oder Impfung – kann die Pandemie als bewältigt gelten, lautet die gängige Meinung von Experten wie dem Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, Christian Drosten.
Experten plädieren für „On-Off-Lösung“
Die meisten internationalen Experten haben demnach eine „On-Off-Lösung“ im Sinn. Das heißt: Sobald der erste Höhepunkt der Ansteckungen vorüber ist, könnte man die Ausgangssperre lockern. Allerdings müsste man diese bei Bedarf wieder einsetzen. So lässt sich zumindest weitere Zeit gewinnen, sowohl für die personellen und materiellen Kapazitäten der Krankenhäuser als auch für die Forschung nach einem wirksamen Impfstoff. „Der Kampf gegen das Virus ist kein Sprint, sondern ein Marathon“, meint der Virologe Christian Drosten.
Der Virenexperte rät demnach dazu, die Situation immer wieder neu zu analysieren und entsprechend anzupassen. Ein ununterbrochener „Shutdown“ von einem halben Jahr oder länger sei für eine Gesellschaft kaum durchzuhalten. Eine „Exit-Strategie“ sei vor allem nötig, damit das Wirtschafts- und Sozialleben wieder langsam anlaufen kann. Nach den Osterferien könnte etwa die Wiedereröffnung der Schulen eine solche „Stellschraube“ sein, so Christian Drosten im NDR-Podcast.
Zudem müsste man das Lockern der Ausgangssperre mit anderen Maßnahmen kombinieren, so die Experten. Dazu gehört vor allem, dass man den Fokus noch stärker auf die nachweislichen Risikogruppen legt. Für ältere Menschen oder Personen mit einschlägigen Vorerkrankungen könnte so die Ausgangssperre länger anhalten. Sie könnten letztlich erst durch einen Impfstoff, der laut aktuellem Stand nicht vor Ende des Jahres allgemein verfügbar sein wird, wirksam vor der Covid-19-Erkrankung geschützt werden.
Unbedingte Voraussetzung für dieses Szenario ist aber eine Entwicklung, wie sie in Deutschland – und auch in Luxemburg – aktuell beobachtbar ist: Eine hohe Rate von getesteten Menschen in Kombination mit Fallzahlen, deren tägliche Steigerung nachlässt und einem Gesundheitssystem, das für einen Wiederanstieg der Krankheitsfälle gewappnet ist.
Von der sanitären zur Wirtschaftskrise?
Warum muss überhaupt eine „Exit-Strategie“ her? Zuhause bleiben und „social distancing“ klingen logisch und unproblematisch, solange man den Zeitraum dieser Beschränkungen ungefähr abschätzen kann. Sollte der aktuelle Zustand aber mehrere Monate anhalten, könnte sich die Einstellung vieler Bürger dazu schnell ändern. Von der andauernden Belastung der Angestellten in den Krankenhäusern und anderer systemrelevanter Berufe ganz zu schweigen.
Der Kampf gegen das Virus ist kein Sprint, sondern ein Marathon.“Christian Drosten, deutscher Virologe
Zudem sitzen viele Menschen nicht nur seit Wochen zu Hause, sondern Teile der Luxemburger Wirtschaft stehen seitdem still. Die ökonomischen Folgen der Pandemie sind seriöserweise nicht abzuschätzen. Und doch geben die in den vergangenen Tagen angekündigten Hilfen von fast neun Milliarden Euro einen Hinweis darauf, wie einschneidend die Krise für Luxemburgs Unternehmen sein könnte. 15 Prozent des BIP des Landes bzw. fast einen halben Jahreshaushalt wollen Finanz- und Wirtschaftsminister zur Not einsetzen. Langfristige Folgen für die Stabilität der Staatsfinanzen sind damit vorprogrammiert.
Allein das Regime der Kurzarbeit („Chômage partiel“) wird den Staat pro Monat mindestens eine halbe Milliarde Euro kosten. Ewig wird dieses Niveau nicht aufrecht zu erhalten sein. Damit droht auch eine wesentliche Zunahme der Arbeitslosigkeit. Zudem bereiten laut UEL-Direktor Jean-Paul Olinger bereits Tausende Unternehmen Anträge bei den Banken für einen Zahlungsaufschub oder neue Kredite vor. Auch ein Großteil der Beihilfen des Staates werden rückzahlbar sein, was besonders für kleinere und mittelständische Unternehmen die existenzielle Krise nur verlagern wird.
Psychische und soziale Ausnahmesituation
Selbst wenn die Wirtschaft die Krise überstehen wird, bleibt die Frage: Wie lange hält der Mensch das aus?
In einem Bericht der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ haben mehrere Gesundheitspsychologen die Ergebnisse jüngster Studien zu dieser Frage zusammengefasst. Zu den gängigen Folgen gehören demnach: Reizbarkeit, Stress, Schlafstörungen, Depressionen und einiges mehr. Ein weiterer Befund: Ab Tag zehn der Quarantäne wird es für einige Menschen kritisch. Die Verzweiflung nimmt zu, die posttraumatischen Belastungsstörungen häufen sich. In Luxemburg haben wir den zehnten Tag bekanntlich schon überschritten.

Eine Pandemie ist also nicht nur wegen einer möglichen Viruserkrankung gefährlich. Auch die Nebenerscheinungen der getroffenen Maßnahmen sind nicht zu unterschätzen. Neben den körperlich anfälligen Mitmenschen, bei denen das Virus ernsthafte gesundheitliche Folgen haben kann, sollte man sich auch um die psychisch verletzlichen Mitmenschen kümmern, rät der Psychologe Claus Vögele. Hinzu kommt die zunehmende Gefahr von häuslicher Gewalt, wie das „Luxemburger Wort“ unter Berufung auf erste Erfahrungswerte der Polizei berichtete.
Dabei sind jene Menschen, die tatsächlich infiziert sind und unter komplette Quarantäne gestellt wurden, in einer noch extremeren Situation. Doch auch das Zuhause bleiben, mit kleinen Ausnahmen, ist auf Dauer für viele Menschen kaum auszuhalten. Die Toleranzschwelle ist sicherlich individuell verschieden und es existieren auch soziale Unterschiede. Wer ein Haus im Grünen, mit Garten und reichlich Platz hat, kann es sicher länger aushalten als etwa eine allein erziehende Mutter in einem kleinen Appartement. Und dann gibt es noch jene Bevölkerungsgruppe, die nicht „doheem“ bleiben kann, weil sie schlicht keines hat.
Das Virus stellt uns alle auf die Probe
Unabhängig von diesen Faktoren diagnostizieren die Autoren der besagten psychologischen Studie das Phänomen des Kontrollverlustes. Man verliert die Sicherheit und die Kontrolle über das selbstbestimmte Leben, das man bisher geführt hat. Man fühlt sich der globalen Pandemie und der nahezu unbegrenzten Macht der Regierung im Notstand ausgeliefert. Vor allem ringt man aber mit der Unklarheit, wie es weiter gehen soll.
Die möglichen Langzeitfolgen dieses politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ausnahmezustands sind demnach nicht zu unterschätzen. Worauf wir alle im Moment verzichten, ist, was den Menschen seit jeher ausmacht: Soziale Kontakte und die bisher als selbstverständlich erachtete Freiheit, sich zu bewegen, selbstbestimmt zu entscheiden und zu machen, was man will.
„Wir werden in den nächsten Wochen, wahrscheinlich noch in den nächsten Monaten mit der Thematik beschäftigt bleiben.“Joël Mossong, „Laboratoire national de santé“
Unsere Fähigkeit zur Vernunft sagt uns zwar: Wir opfern gerade einen Teil unserer Freiheit und unserer Routine mit dem Ziel, andere Menschen nicht zu gefährden. Doch die Vernunft und die Solidarität jedes Einzelnen hat immer Grenzen. Diese werden spätestens dann erreicht, wenn die Ausnahmesituation zu neuen Gefährdungen und potenziellen Opfern führt. Wenn also nicht mehr ersichtlich ist, ob durch das eigene Handeln das eigentliche Ziel auch erreicht wird.
Denn neben der Vernunft gehört zur menschlichen Veranlagung, sich seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vergewissern. Die Zukunft ist in diesem Fall das Problem. Glaubt man den Pandemiemodellen und den Prognosen über die Erforschung eines Impfstoffes, dann könnte der Ausnahmezustand noch sehr lange andauern. Diese Perspektive klingt befremdlich. Die Coronavirus-Pandemie stellt uns alle, und letztlich alles, was die moderne Gesellschaft ausmacht, auf die Probe.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer …
Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung. So unbekannt, unberechenbar und deshalb bedrohlich das Virus erscheint, liegt genau darin auch eine Chance. Denn die Prognosen der Epidemiologen müssen sich nicht als richtig herausstellen. So könnte es sein, dass die Dunkelziffer der unbemerkt Infizierten schon heute viel höher ist als angenommen. Laut Forschern der Columbia University in New York könnten auf jeden bestätigten Fall von Sars-CoV-2 bis zu zehn unentdeckte Fälle kommen.
Das wäre letztlich eine gute Nachricht. Denn dann wäre die Immunität gegen das Coronavirus bereits viel stärker voran geschritten als bisher gedacht. Dementsprechend wäre auch die Rate von kritischen Krankheitsverläufen gegenüber der Anzahl von Infizierten viel geringer als die medizinische Forschung dies bisher befürchtet.
Die Hypothese ist aber letztlich nur ein weiterer Grund, um die Diagnostik weiter auszubreiten und Antikörper-Tests zu fördern, wie es Luxemburgs Regierung bereits versucht. Erst dann ließe sich der potenzielle Hoffnungsschimmer bestätigen. Je schneller immune Personen identifiziert werden können, desto schneller lässt sich ein Weg aus dem Ausnahmezustand einschlagen.
Hinzu kommen die Schlussfolgerungen aus den erwähnten psychologischen Studien. Eine Quarantäne muss so kurz wie nur möglich gehalten werden, raten die Forscher. Gleichzeitig darf man aber keine falschen Versprechungen über ein baldiges Ende der Ausgangssperre machen. Im Zweifel gilt die Devise: Die Politik sollte die Bevölkerung so ehrlich und transparent wie möglich über diese Perspektiven informieren. Wie bei so vielem in diesen Tagen ist auch dies wohl nur eine Frage der Zeit.