Die Europäische Volkspartei wird kritisiert, weil sie Viktor Orbáns Fidesz quasi alles durchgehen lässt. Liberale und Sozialdemokraten werfen den Konservativen Opportunismus vor. Doch gegenüber ihren eigenen Problemmitgliedern agieren sie genauso inkonsequent.
„Die EVP hat ihre moralische Autorität zur Führung Europas verloren.“ So kommentierte der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt Ende März die Entscheidung der Europäischen Volkspartei (EVP), die ungarische Fidesz lediglich zu suspendieren, nicht aber aus ihren Reihen auszuschließen. Verstöße gegen den Rechtsstaat, Einschränkung der Pressefreiheit, und die kompromisslose ungarische Flüchtlingspolitik … die Fidesz gilt seit Langem als Sorgenkind der EVP. Lange hat es gedauert, bis die europäische Parteifamilie auf die ungarischen Fehltritte reagierte. Eine gezielte Kampagne Orbáns gegen EU-Kommissionschef (und EVP-Mitglied) Jean-Claude Juncker führte schließlich zur Suspendierung.
Dass die EVP nicht härter gegen ihr Problem-Mitglied vorgeht, macht sie angreifbar: Während der Europawahlen avancierte die Fidesz-Frage zum idealen Argument gegen die Volkspartei. „Die Europäische Volkspartei muss sich grundlegend mit ihrem Verhältnis zu den europäischen Grundwerten beschäftigen“, sagte etwa der grüne Fraktionssprecher Sven Giegold dem Tagesspiegel. Der Spitzenkandidat der Sozialisten, Frans Timmermans warnte vor einem Rechtsruck der EVP. Sogar die CSV, selbst EVP-Mitglied, gab sich anfangs mit der Suspendierung nicht zufrieden, gleichwohl die kritischen Stimmen von Frank Engel und Co. inzwischen wieder verstummt sind.
So gerne die Politiker gegen die EVP austeilen, so wenig thematisieren sie die Unstimmigkeiten in ihren eigenen Reihen. Die Sozialdemokraten und Liberalen haben selbst schwarze Schafe in ihren Parteifamilien, die die Frage nach der parteiinternen Integrität aufkommen lassen. Die Standhaftigkeit, die sie von der EVP fordern, lassen sie bei sich selbst vermissen.
Rumäniens Sozialisten schwächen Justizwesen
Bei den Sozialdemokraten (SPE) sind es die Rumänen: Immer wieder machte die rumänische Regierung, angeführt von der sozialistischen PSD, in den letzten Monaten auf sich aufmerksam. Der Grund: Sie strebte eine Justizreform an, bei der es insbesondere um die Lockerung des Korruptionsstrafrechtes geht. Korruption ist in Rumänien ein weitreichendes Problem und zieht sich durch den gesamten Staat.
Besonders kritisch: Der PSD-Chef Liviu Dragnea ist wegen Wahlbetrug vorbestraft. Deswegen, und weil gegen ihn wegen Korruption ermittelt wurde, musste er das Amt des Premierministers seiner Parteikollegin Viorica Dăncilă überlassen. Dennoch kontrollierte er bis vor seiner Festnahme im Juni de facto die Regierung. „Dragnea hat weitreichend autoritär regiert. Dăncilă hat seine Vorschläge umgesetzt. Die Gesetzesanpassungen dienten auch dazu, ihn aus dem Gefängnis zu halten“, so der Politikwissenschaftler Jan Beyer im Gespräch mit REPORTER. Er forscht an der Université Libre de Bruxelles unter anderem zu Rumäniens Rechtssystem.
Die PSD besteht nur dem Namen nach aus Sozialdemokraten.“Jan Beyer, Politikwissenschaftler an der ULB
Wiederholt hat Brüssel Bukarest wegen der Angriffe auf das Justizwesen verwarnt. Erst vor wenigen Wochen drohte der Vizepräsident der EU-Kommission und Spitzenkandidat der Sozialdemokraten Frans Timmermans Bukarest mit einem Rechtsstaatsverfahren. Die PSD konterte mit scharfer anti-EU Rhetorik. In ihrem Wahllied für die Europawahlen attackierte sie Timmermans persönlich. Die Parallelen zu Orbán’s Anti-Juncker-Kampagne sind eindeutig.
Dennoch: Bisher haben die Sozialdemokraten die PSD lediglich suspendiert. Für Beyer eine „lächerliche“ und „viel zu lasche“ Reaktion. „Es geht schließlich um substanzielle Verstöße gegen den Rechtsstaat, vergleichbar mit Ungarn und Polen.“ Am 27. Juni sollen die Sozialdemokraten über den Verbleib der PSD entscheiden.
Für LSAP-Politiker und Anwärter auf einen EU-Kommissarsposten Nicolas Schmit ist Korruption nicht verhandelbar und man müsse „mit aller Härte dagegen vorgehen“. Dennoch sieht er klare Unterschiede zwischen Fidesz und PSD. In Ungarn habe man mit einer Regierungspartei zu tun, die den Rechtsstaat massiv einschränkt, die Grundwerte missachtet, die Presse kontrolliert und gar antisemitische Positionen vertritt. In Rumänien sei Korruption das Hauptproblem. „Ich will das Problem nicht entschuldigen. Aber man muss differenzieren“, sagt Schmit. Und erinnert daran, dass die PSD Rumänien zusammen mit den Liberalen regiert. Dass PSD-Chef Dragnea nun wegen Korruption im Gefängnis sei, würde zudem zeigen, dass „Saachen bougéieren“.
Dragnea als alleiniges Problem?
Tatsächlich versucht die PSD seit dem Haftantritt Dragneas, ihr Image aufzubesseren. Bukarest hat die Justizreform vorerst gestoppt und gibt sich gegenüber der EU-Kommission kompromissbereit. Auch PSD und die europäischen Sozialdemokraten nähern sich wieder an: Die Parteifamilie berichtet von konstruktiven Gesprächen mit der Premierministerin und PSD-Interimschefin Dăncilă.
Für Jan Beyer reichen die Zugeständnisse der rumänischen Premierministerin nicht aus: „Den Schaden am Rechtsstaat muss man erst einmal wieder beheben. Zudem müsste man weitreichende Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung auf den Weg bringen.“ Auch sei es falsch, das PSD-Problem auf den Parteichef zu begrenzen. „Innerhalb der PSD hatte Dragnea viele Unterstützer. Vieles hängt davon ab, wer das Machtvakuum jetzt füllt.“
Sozialdemokratische Werte vertritt die PSD laut Beyer ohnehin kaum. „Die PSD besteht nur dem Namen nach aus Sozialdemokraten.“ Immer wieder fielen sie durch eine Annäherung an die religiöse Rechte auf. Ein Beispiel: Ihre negative Haltung gegenüber Homosexuellen. Beyer sieht klare Parallelen zwischen der PSD und Viktor Orbáns Fidesz-Partei.
Der Verbleib der PSD bei den Sozialdemokraten scheint demnach ähnlich pragmatische Gründe zu haben, wie jener der Fidesz innerhalb der EVP. Bei der Entscheidung über Ausschluss oder Suspendierung geht es auch um die Frage, wie viele Zugeständnisse sie machen wollen.

Das liberale Sorgenkind Andrej Babiš
Gleiches gilt für die Liberalen. Für Negativschlagzeilen sorgen hier besonders die tschechischen Liberalen. Es geht um die Bewegung „Aktion Unzufriedener Bürger“ (ANO) des Premierministers Andrej Babiš. Der Chemie- und Medienunternehmer steht seit 2017 an der Spitze des Landes. Seine liberal-populistische Partei lehnt Flüchtlingsquoten ab und ist kritisch gegenüber dem Establishment.
Il faut une cohérence idéologique. Un groupe progressiste et libéral ne peut pas se permettre d’être accusé de faiblesse ou d’ambiguïtés“Emmanuel Macron
Dabei steht der Premierminister selbst unter Korruptionsverdacht. Aufgrund eines mutmaßlichen Subventionsbetruges mit EU-Fördergeldern für den Bau eines Wellnessressorts musste er sich bereits 2018 einem Misstrauensvotum stellen. Vor wenigen Tagen wurde erneut ein Misstrauensvotum gegen ihn beantragt: Grundlage ist ein Bericht, in dem der EU-Rechnungshof Babiš Interessenskonflikte vorwirft.
Es geht um seinen Milchkonzern Agrofert. Diesen überführte Babiš zwar 2017 an zwei Treuhandfonds, doch er soll weiterhin einen entscheidenden Einfluss auf den Betrieb ausüben. Agrofert profitierte laut dem Bericht in den vergangenen zwei Jahren unrechtmäßig von EU-Subventionen, über die Babiš als Ministerpräsident mitentschieden hat. Brüssel fordert die rund 17 Millionen Euro nun zurück.
Der bisher europafreundliche Politiker teilt seitdem gegen die EU aus. In einer Sondersitzung des tschechischen Parlamentes betonte er, Brüssel arbeite gezielt gegen die Visegrad-Staaten und lasse sich vom US-Milliardär George Soros beeinflussen. Auch hier sind die Paralellen zur Fidesz unverkennbar: Es war Orbán, der das Feindbild Soros schuf.
Vorerst keine Debatte
Der liberalen Europapartei ALDE dürfte Babiš Verhalten nicht gefallen, steht sie doch allgemein für eine pro-europäische, offene und anti-populistische Politik. Vor zwei Jahren noch bezeichnete Guy Verhofstadt Babiš als Alliierten, der helfen könnte, die Reform der EU voranzutreiben. Dieser Enthusiasmus dürfte anhand Babiš’ europafeindlichen Parolen verflogen sein. Dennoch hat sich Verhofstadt einer Diskussion um den tschechischen Premierminister bisher verschlossen.
Doch nicht alle nehmen das Thema so gelassen. „Innerhalb der Partei gibt es Stimmen, die den Ausschluss von Babiš fordern“, sagt Charles Goerens (DP) im Gespräch mit REPORTER. Der Sprecher der Parteifamilie bestätigt dies auf Nachfrage, betont aber, mit der ANO als Partei habe man kein Problem. Dennoch ist in nächster Zeit nicht mit einer Suspendierung oder gar einem Ausschluss des tschechischen Premierministers zu rechnen.
Die Liberalen und die Rechten
Doch auch Ciudadados in Spanien, sowie Estlands Reformpartei könnten innerhalb der liberalen Partei noch für Diskussionen sorgen. Erstere geht zunehmend Bündnisse mit Nationalisten und Rechtspopulisten ein. Wegen dieser Allianzen hagelte es Kritik von Emmanuel Macron, dessen „La République en Marche“ sich innerhalb des EU-Parlamentes mit den Liberalen zusammenschließt. Dort nennen sich die Liberalen seitdem „RenewEU“, während die Parteifamilie vorerst den Namen „ALDE“ beibehält.
Eine Allianz zwischen den Ciudadanos und Rechtsextremen würde der Glaubwürdigkeit einer neuen liberalen Bewegung im EU-Parlament schaden, so der französische Staatschef. „Il faut une cohérence idéologique. Un groupe progressiste et libéral ne peut pas se permettre d’être accusé de faiblesse ou d’ambiguïtés“, wird Macron in der französischen Tageszeitung ‚Libération’ zitiert.
Seine Kritik wirkt freilich selektiv: Was für die Ciudadanos gilt, dürfte auch für die estnische Reformpartei gelten. Diese hat nämlich mit der populistischen Estnischen Konservativen Volkspartei eine Regierung gebildet. Letztere fällt immer wieder durch fremdenfeindliche und antisemitische Aussagen auf.
Wann ist der Fehltritt zu offensichtlich?
„Wir urteilen nicht über Koalitionen, sondern über Parteien“, kommentiert der ALDE-Sprecher, der allerdings selbst auf das Problem Estlands aufmerksam macht. Doch wann ist ein Fehltritt bedeutend genug, als dass ein Ausschluss ernsthaft thematisiert werden muss? Für Charles Goerens ist klar, dass sich die Parteifamilien Mindeststandards setzen müssten, anhand derer die Mitglieder evaluiert werden. Gleichzeitig betont er: Ein Rechtstaatsverfahren, wie etwa im Falle Ungarns, sei ein klares Ausschlusskriterium.
Keine Partei macht sich einen Gefallen, jetzt über ihre Mitglieder zu diskutieren.“Charles Goerens (DP/ALDE)
Letztlich herrscht bei sämtlichen europäischen Parteien aber Pragmatismus vor. Für keine Partei ist es zur Zeit klug, die eigenen Mitglieder – ganz gleich ob auf Partei- oder Fraktionsebene – zu sehr infragezustellen. Aktuell wird über die Zusammensetzung der Fraktionen und die Zuteilung der Posten im EU-Parlament bestimmt, die Parteien müssen Stärke zeigen. Es kommt auf jedes Mitglied an.
Wohl auch aus diesem Grund wurde die Fidesz lediglich suspendiert – im Parlament zählt sie weiterhin zur EVP. Und sogar der Fraktionspartner der Grünen, EFA, stellt die Mitgliedschaft der flämischen rechtspopulistischen N-VA nicht infrage. Das obwohl diese sich im Parlament 2014 der rechtskonservativen Fraktion „ECR“ angeschlossen hat, und auch in der neuen Legislaturperiode bei den Rechtskonservativen verharren will.
Charles Goerens trifft es auf den Punkt: „Keine Partei macht sich einen Gefallen, jetzt über ihre Mitglieder zu diskutieren.“