„Es ist in Luxemburg schwer einen Arzt zu finden, der bereit ist, eine Euthanasie durchzuführen“. Darüber sind sich die Experten einig. Doch woran liegt das? Und warum ist Sterbehilfe in einigen Einrichtungen weniger häufig als in anderen?

Was würden Sie tun, wenn Ihr Partner nach einem Autounfall gelähmt und nicht mehr ansprechbar wäre? Wenn seine Autonomie, seine Entscheidungsfreiheit und seine Würde für immer eingeschränkt  wären? Und was würden Sie bei vergleichbarem Schicksalsschlag für sich selbst wollen? Es lohnt sich, über das Lebensende nachzudenken. Und über das Tabu, das in Luxemburg weiterhin die Frage der Sterbehilfe umgibt.

Seit 2012 ist die Anzahl der durchgeführten Sterbehilfen quasi unverändert und schwankt zwischen sieben und zehn Fällen pro Jahr. Die Zahl ist verschwindend gering, wenn man bedenkt, dass jährlich rund 4.000 Menschen in Luxemburg sterben. Seit der Entkriminalisierung der Sterbehilfe konnte kein massiver Anstieg der Euthanasieanfragen festgestellt werden – seit der Gesetzgebung von 2009 entschieden sich lediglich 51 Menschen für eine Euthanasie und eine für einen assistierten Suizid. Dies legt den Verdacht auf eine hohe Dunkelziffer nahe.

Die geringe Anzahl von Euthanasiefällen lässt vor allem in Anbetracht der internationalen Statistik aufhorchen. So sehen das auch Experten wie der Präsident der nationalen Kommission zur Kontrolle und Evaluation der Sterbehilfe, Dr. Carlo Bock.

Es ist schockierend zu sehen, wie viele Akteure aus dem Gesundheitsbereich nicht wissen, was denn eigentlich Euthanasie ist.“

„In Ländern mit einer ähnlichen Gesetzeslage beträgt die Euthanasierate 1,7 Prozent der Todesfälle. In Luxemburg muss man generell von einer vergleichbaren Euthanasienachfrage ausgehen“, erklärt der Onkologe. Er rechnet vor: Bei einer ähnlichen Nachfrage müssten in Luxemburg jährlich zwischen 50 und 60 Fälle statistisch erhoben werden. „Die Dunkelziffer der versteckten Euthanasie lässt sich eigentlich ziemlich einfach berechnen.“

„Es ist klar, dass sich mehr Menschen in Luxemburg eine Euthanasie wünschen, diese aber aus unterschiedlichen Gründen nicht erhalten. Es ist nicht so, dass die Luxemburger Bevölkerung im Vergleich zum Ausland anders wäre“, betont der Arzt.

Nicht in dem internationalen Vergleich einbezogen sind die Zahlen in den Niederlanden, das erste Land der Welt, das die Euthanasie 2001 legalisierte und die Schweiz, das unter anderem für seinen „Sterbehilfe-Tourismus“ in der Kritik steht. In diesen Ländern fällt die Nachfrage für Euthanasie und assistierten Suizid deutlich höher aus.

Euthanasie in Zahlen

Zwischen 2009 und 2016 griffen offiziellen Zahlen zufolge 52 Menschen auf die Sterbehilfe zurück. Laut Statistik sind die Mehrheit der Patienten zwischen 60 und 79 Jahre alt – 30 Prozent über 80 Jahre. Weniger als acht Prozent waren im Alter zwischen 40 und 59 Jahren – bisher wurde keine Euthanasie bei einer Person unter 40 Jahren durchgeführt. Über 80 Prozent der Patienten litten an Krebs. Am zweithäufigsten wurden ausgeprägte neurodegenerative Krankheiten diagnostiziert. Im Großteil der Fälle erfolgt die Euthanasie per Injektion.

Die schwierige Suche nach einem Arzt

In Luxemburg gibt es weiterhin kein Recht auf Euthanasie. Sprich: Der Arzt kann dem Patienten die Euthanasie verweigern und muss den Patienten auch nicht an einen Kollegen verweisen. Im Klartext: Es obliegt dem Patienten, selbst einen Arzt zu finden, der sich bereiterklärt, den Eingriff vorzunehmen. In Luxemburg gibt es weder eine Vereinigung von Ärzten, die Sterbehilfe leisten, noch ein Verzeichnis, das solche Ärzte auflistet. Kein Arzt wolle den Stempel des „Euthanasie-Arzt“ erhalten, heißt es als Erklärung.

„Es ist in Luxemburg schwer einen Arzt zu finden, der bereit ist, eine Euthanasie durchzuführen“, erklärt Roland Kolber von „Mäi Wëlle, Mäi Wee“. Diese Ansicht teilt auch Dr. Carlo Bock. Und auch eine Krankenschwester, die namentlich nicht genannt werden möchte, kennt das aus ihrem Arbeitsalltag.

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Jüngere Ärzte seien aufgrund einer unterschiedlichen medizinischen Ausbildung zunehmend bereit, zumindest über die Frage nachzudenken, sagt Kolber. Doch auch hier besteht Nachholbedarf. Das bestätigt auch Marie-France Liefgen von „Omega 90“. Die Vereinigung bietet Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern Weiterbildungskurse in Palliativpflege an, und informiert in diesem Zusammenhang auch über Euthanasie.

Marie-France Liefgen, die für diese Schulungen zuständig ist, gibt offen zu: „Es ist schockierend zu sehen, wie viele Akteure aus dem Gesundheitsbereich nicht wissen, was denn eigentlich Euthanasie ist. Oft verwechseln sie Euthanasie und passive Sterbehilfe.“ Auch würden viele Unklarheiten zwischen Euthanasie und Palliativpflege herrschen. So sei es kein Wunder, dass dies auch beim Patienten für Verwirrung und Desinformation sorge: Ein nicht ausreichend informiertes Personal könne auch Patienten nicht voll umfänglich aufklären, so die Annahme.

Eine Frage der Religion

Dass das Durchführen von aktiver Sterbehilfe nicht nur mit der Gesetzgebung aber auch mit der Religion zusammenhängt, wird am Fall Belgien deutlich. Dort werden 80 Prozent der jährlich rund 2.000 durchgeführten Fälle in Flandern durchgeführt, das einen höheren Anteil an Protestanten hat, gegenüber 20 Prozent im mehrheitlich katholischen Wallonien. Besonders in Wallonien äußern Fachleute daher wiederholt den Verdacht auf eine hohe Dunkelziffer.

Traditionsgemäß ist Euthanasie auch unter den Ärzten ein schwieriges Thema. Das „Collège médical“ hatte gegenüber des Euthanasiegesetzes 2008 eine sehr kritische Haltung eingenommen und auf den Widerspruch zum Deontologiekodex hingewiesen. Dr. Carlo Bock spricht weiterhin von einem weitreichenden nationalen Druck der Euthanasiegegner.

Sterben, ein Tabu im Altenheim

Besonders in Altenheimen war die Anzahl der durchgeführten Sterbehilfe bisher mit insgesamt nur sieben Fällen (13 Prozent der Gesamtzahl) sehr niedrig. Dies erklärt sich unter anderem durch die Tatsache, dass die Verantwortung des Pflegepersonals dort nicht immer eindeutig geklärt ist.

Heikel wird die Entscheidung über Leben und Tod vor allem, wenn die Familie sich einmischt und ihre moralischen, ethischen oder religiösen Bedenken nicht mit dem Wunsch des Patienten übereinstimmen. Mehrere Fachkräfte, die vor Ort tätig sind, erzählen, wie Familien immer wieder versuchen, sich über den Willen der Betroffenen hinwegzusetzen – oft unter dem Vorwand, dass die kranke Person zu verwirrt sei, um diese Entscheidung zu treffen.

Oft verzichten Patienten am Lebensende aus Rücksicht auf die Familie auf eine Euthanasie.“

Zwar darf dem Gesetz zufolge kein Angehöriger und kein Arzt über die Sterbehilfe entscheiden; der Wunsch des Patienten muss respektiert werden. In der Praxis gestaltet sich das Kräfteverhältnis aber anders. „Oft verzichten Patienten am Lebensende aus Rücksicht auf die Familie auf eine Euthanasie“, so das Fazit von Carlo Bock.

Das Ausfüllen der Bestimmungen zum Lebensende, also genauer gesagt jenes Dokument, das den Wunsch des Patienten schon im Vorfeld schriftlich festhält und Unklarheiten aus der Welt schaffen würde, wird in den Altenheimen mehreren Quellen zufolge noch oft verschwiegen. Dies sei zum Teil auch eine bewusste Entscheidung.

Mangelnde Transparenz

Objektiv betrachtet dürfte es keinen Grund dafür geben, dass in bestimmten Einrichtungen weniger oft Sterbehilfe geleistet wird als in anderen. Denn das Gesetz erkennt Krankenhäusern, Altenheimen und Rehabilitationszentren keine institutionelle Freiheit an. Sprich: Diese können einem Arzt die Durchführung der Sterbehilfe in ihrer Einrichtung nicht grundsätzlich verweigern.

Fragt man Fachleute, so heißt es hinter vorgehaltener Hand, dass es sehr wohl in einigen Altenheimen und Krankenhäusern die Richtlinie gebe, keine aktive Sterbehilfe durchzuführen. „Es gibt Ärzte und Krankenhäuser, die sich weigern, eine Euthanasie durchzuführen“, bestätigt Roland Kolber von „Mäi Wëlle, Mäi Wee – association pour le droit de mourir dans la dignité Lëtzebuerg“.  Die Vereinigung besteht unter anderem aus Ärzten, Palliativpflegern, Psychologen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Sie vertritt in Luxemburg die Ansicht einer deontologischen Vereinbarkeit zwischen Palliativpflege und Euthanasie.

Einige Einrichtungen hätten seit 2009 keinen einzigen Fall von Sterbehilfe durchgeführt, so der Verdacht. Statistisch belegbar ist dies nicht: Die Anzahl der Fälle wird weder pro Krankenhaus noch pro Altenheim aufgeführt. Der Transparenzmangel erklärt sich folgendermaßen: Die aktive Sterbehilfe wird in Luxemburg anonym durchgeführt – in der Regel wird weder der Name des Patienten noch der des Arztes von der zuständigen Kommission ermittelt.

Die generelle Tabuisierung und die mangelnde Transparenz führt dazu, dass viele Menschen nicht richtig informiert sind. Ab wann sprechen wir in Luxemburg eigentlich von Euthanasie? Was ist gesetzlich erlaubt? Welches Recht hat der Patient, welche Aufgabe hat der Arzt? Es gilt: Je aufgeklärter der Patient über die Möglichkeiten, desto höher die Nachfrage für Sterbehilfe.

Sterben… in der Schweiz?

Wie weit reicht das Tabuthema rund um die Euthanasie in Luxemburg? Carlo Bock schließt nicht aus, dass auch Luxemburger in die Schweiz reisen, im Wissen, dort einen einfachen Zugang zum assistierten Suizid zu erhalten.

Nicht zuletzt ist die Frage um die Aufklärung der Bevölkerung und die aktive, die passive und die versteckte Euthanasie auch politisch. Vereinigungen wie „Mäi Wëlle, Mäi Wee“ würden zwar vom zuständigen Ministerium finanziell unterstützt – doch seien die Summen für groß angelegte Sensibilisierungskampagnen unzureichend, heißt es. Diesbezüglich laufen gegenwärtig Verhandlungen mit dem Familienministerium, um eine Beratungsstelle für Betroffene und ihre Familien zu öffnen.

Dem Gesundheitsministerium sind seinerseits keine Fälle von versteckter Euthanasie bekannt. So hieß es jedenfalls noch vergangenes Jahr in einer Antwort auf eine parlamentarische Frage. Es obliege der Kontrollkommission der Euthanasie, die Abgeordneten auf mögliche Probleme oder Missstände hinzuweisen. Diese habe in ihren jeweiligen Abschlussberichten noch nie auf eine versteckte Euthanasie oder sonstige Unregelmäßigkeiten in der Prozedur hingewiesen. „Falls dem so wäre, wäre es an der Staatsanwaltschaft oder dem Collège médical, adäquate Sanktionen und/oder Disziplinarmaßnahmen gegen den Arzt auszusprechen“, erklärte die Gesundheitsministerin Lydia Mutsch.

 

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