Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wird auch in den Köpfen geführt. Den Medien kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Russische Desinformation und Repression gehören zum Alltag. Doch auch in der Ukraine ist die Pressefreiheit nicht selbstverständlich.
Von Pit Scholtes (Kiew, Ukraine)
Für Mykola Semena beginnen die Probleme auf der Krim 2014 subtil. Der Journalist, der seit Anfang der 1990er Jahre für die zweisprachige Tageszeitung „Den“ von der Halbinsel berichtet, erhält keine Einladungen zu Pressekonferenzen mehr. Auch Fragen an Ministerien bleiben unbeantwortet, Interviewanfragen werden abgelehnt. „Das kannte ich nicht, die Situation war für mich total neu. Seit den 1990er Jahren war ich eigentlich total frei in meiner Berichterstattung, Zugang zu offiziellen Stellen war nie ein Problem“, berichtet der mittlerweile 72-Jährige im Interview mit Reporter.lu.
Doch mit der Annexion der Krim durch russische Truppen und dem anschließenden Referendum ändert sich die Lage für unabhängige Journalisten drastisch. Besonders, wenn sie für ukrainische Medien arbeiten. Ein erschwerter Zugang zu öffentlichen Stellen ist dabei nur der Anfang. So entzieht die Übergangsverwaltung zahlreichen TV-Sendern die Sendelizenz und erstellt eine schwarze Liste mit unerwünschten Journalisten, darunter auch Mykola Semena.
Hausarrest für Journalisten
Doch der gebürtige Ukrainer berichtet weiter und greift dafür auf sein großes Netzwerk an Kontakten zurück. Der Druck auf ihn wird erhöht. Bald tauchen Plakate mit seinem Foto in der Nachbarschaft auf, darunter geschrieben auf Russisch „Hier wohnt Mykola Semena, ein Verräter.“ „Kurz darauf fiel mein Internet aus und ich rief bei der Telefongesellschaft an. Sie schickten zwei angebliche Mitarbeiter vorbei“, erzählt der Journalist. Einige Monate später sollte er erfahren, wieso sein Internet wirklich ausgefallen war.
Frühmorgens weckt ihn seine Frau, sechs Männer stehen vor der Tür und wollen ihn sprechen. „Sie stellten sich als Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB vor und wollten sofort meinen Laptop haben“, erinnert sich Mykola Semena. Der erfahrene Reporter hatte sich für diesen Fall bereits einen Zweitlaptop besorgt und den Arbeitslaptop mit seinen Recherchen im Haus versteckt. Doch der Trick funktioniert nicht. „Die Agenten erkannten sofort, dass die Dokumentenordner auf dem Zweitlaptop anders waren als auf dem Arbeitslaptop. Da wusste ich, dass sie die ganze Zeit alles mitgelesen hatten“, berichtet Mykola Semena.
2016 wird der Journalist vorläufig festgenommen und wegen „Separatismus und Vergehen gegen die territoriale Integrität der russischen Föderation“ verurteilt. Er wird mit einem Berufsverbot belegt und für zweieinhalb Jahre unter Hausarrest gestellt. Seine Familie kann in die Ukraine flüchten. Erst 2020 hebt ein Gericht die Bewährung für Mykola Semena auf. Heute lebt und arbeitet der Journalist in Kiew und produziert unter anderem Beiträge für „Radio Liberty“.
Medial geförderte Spaltungen
Eine ähnliche Erfahrung wie Mykola Semena macht 2014 auch Serhiy Gaumash. Kurz bevor der Konflikt im Osten der Ukraine ausbricht, gründet und betreibt er das Informationsportal „Ostriv“ in Donetsk. Schon kurz nachdem die ersten Gefechte am 4. Mai beginnen, wird der Journalist von Separatisten festgenommen. Nach wenigen Monaten wird er in einem Gefangenenaustausch freigelassen und entscheidet sich, die Donbass-Region zu verlassen. Heute ist der Newsroom von „Ostriv“ in Kiew angesiedelt und Serhiy Gaumash außerdem Mitglied der „Trilateralen Kontaktgruppe“, die die in den Minsker Verträgen festgelegten Friedensverhandlungen führen soll.

Beide Fälle zeigen, wie sehr sich die Situation der Presse in den besetzten Gebieten seit 2014 verändert hat. Seitdem ist eine unabhängige Berichterstattung aus den selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donetsk nahezu unmöglich geworden. Ein Umstand, den auch die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ in ihrem Länderbericht zur Ukraine hervorstreicht: „Zur Krim und den von den Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine haben unabhängige Journalist*innen kaum noch Zugang.“ Daher sind die Menschen in den besetzten Gebieten weitestgehend auf Medien aus Russland angewiesen. Auch medial ist die Ukraine demnach seit 2014 ein gespaltenes Land.
Kein Musterland der Pressefreiheit
Doch auch in der Ukraine selbst sind die Medien nicht frei von Einflussnahme und politischer Zensur. So hält der Länderbericht von „Reporter ohne Grenzen“ ebenso fest, dass seit Kriegsbeginn zahlreiche russische Medien in der Ukraine verboten wurden. Zudem ist die Medienkonzentration besonders bei TV- und Radiosendern hoch und viele Medienkonzerne gehören Oligarchen, die die Berichterstattung direkt oder indirekt beeinflussen.
Zur Einschüchterung von Journalisten kommt es vorrangig in zwei Fällen: bei investigativen Recherchen zu Wirtschaftskorruption oder durch rechtsradikale Kräfte.“
Lina Kushch, „National Union of Journalists of Ukraine“
Westliche Staaten versuchen ebenfalls, die öffentliche Meinungsbildung in der Ukraine – mehr oder weniger subtil – zu beeinflussen. So sendet der von den USA finanzierte Sender „Radio Liberty“ bereits seit Beginn des Kalten Krieges in Russland, in der Ukraine und weiteren Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Ihre „soft power“ setzten westliche Staaten zudem ein, indem sie journalistische Organisationen und Menschenrechtsorganisationen aktiv unterstützen, darunter auch die „Academy of Ukrainian Press“. Dieser westliche Einfluss macht eine unabhängige Berichterstattung für ukrainische Medien nicht leichter.
Dennoch könne man die Situation in der Ukraine nicht mit jener in Russland vergleichen, meint Lina Kushch vom größten nationalen Journalistenverband der Ukraine. Der Verband vertritt eigenen Aussagen zufolge etwa 19.000 Journalisten und betreibt 24 lokale Büros in den verschiedenen Landesteilen. Besonders bei unabhängigen Online-Portalen gebe es einen großen Pluralismus und die Berichterstattung sei relativ frei, meint die Verbandssekretärin.
„Zur Einschüchterung von Journalisten kommt es vorrangig in zwei Fällen: bei investigativen Recherchen zu Wirtschaftskorruption oder durch rechtsradikale Kräfte“, betont Lina Kushch. Für 2020 habe ihr Verband 77 Übergriffe gegen Journalisten registriert. Im Vergleich zu den Vorjahren stellt das eine abnehmende Tendenz dar, waren es doch 2019 noch 90. Allerdings beziehen sich die Zahlen nur auf die unbesetzten Gebiete des Landes.
Mediale Kriegsführung
Wie kompliziert die mediale Lage im Land ist, wird in der Ostukraine greifbar. Häufig bestimmt der Medienkonsum hier die Sicht auf den Konflikt. Die Grenzen verlaufen dabei oft durch die eigene Familie. Auf der Hauptstraße von Kramatorsk, dem administrativen Zentrum der Region Donetsk, erzählt der 22-jährige Evgeniy von seinen Großeltern: „Meine Großmutter schaut fast nur ukrainisches Fernsehen, mein Großvater nur russisches. Bei Familienfeiern oder wenn wir zu Besuch sind, gibt es fast immer Streit. Mein Großvater sieht uns als Russen und die ukrainische Armee als Provokateure, die den Frieden zerstören.“
Sich selbst sieht der junge Koch weder als Russe noch als Ukrainer: „Ich bin gespalten, aber ich finde, wir sind Russland näher als der Ukraine.“ Bleiben will Evgeniy dennoch nicht, sollte der Konflikt eskalieren. Käme es zur Invasion, will er nach Tschechien gehen, um dort zu arbeiten.

Auch der Gouverneur der Regionalverwaltung Lugansk, Serhiy Haidai, betont den Einfluss, den die Medien auf die Wahrnehmung in der Region haben. „Die Behörden in den besetzten Gebieten versuchen, aktiv zu verhindern, dass die Bevölkerung ukrainische Medien empfangen kann“, erklärt der Gouverneur. So würden zum Beispiel gezielt Sendeantennen anvisiert und angegriffen, berichtet Serhiy Haidai.
Mögliche Kriegsanlasslüge
Zudem seien russische Medien aktiv in die Kampfhandlungen eingebunden und würden ein verzerrtes Bild des Konflikts wiedergeben. Der Gouverneur gibt ein Beispiel: „Unsere Truppen sind sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, auf Beschuss zu antworten. Der Grund dafür ist einfach: Oft eröffnen russische Truppen den Beschuss und daneben steht ein Kamerateam. Dann wird gewartet, bis die ukrainische Armee reagiert, und anschließend wird es im Fernsehen so dargestellt, dass die Ukraine attackiert hat.“
Doch auch gezielte Falschmeldungen würden im russischen Fernsehen gestreut, betont der 46-Jährige. „Ein eher kurioses Beispiel ist, dass im russischen Fernsehen kürzlich behauptet wurde, die ukrainische Marine würde in der Region Lugansk verstärkt werden. Dabei liegen wir mehr als 200 Kilometer vom Meer entfernt“, schildert der Gouverneur.
Wir befürchten, dass die Separatisten eine Attacke der Ukraine und des Westens im besetzten Gebiet inszenieren könnten.“Serhiy Haidai, Regionalverwaltung Lugansk
Eine Sorge, die die Behörden dabei besonders umtreibt, ist, dass diese Berichterstattung genutzt werden könnte, um einen Angriff unter einer falschen Flagge zu inszenieren. „Schon jetzt gibt es in den russischen Medien Berichte, dass die Straßen in Lugansk voll mit US-Truppen seien“ – was nachweislich nicht der Fall ist – „Wir befürchten, dass die Separatisten eine Attacke der Ukraine und des Westens im besetzten Gebiet inszenieren könnten“, so Serhiy Haidai.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nur wenig, dass Oleksi Babchenko, Bürgermeister der Kreisverwaltung Hirske, von einem „kleinen Sieg“ redet, wenn er von der neuen Sendestation der Gemeinde spricht. „Die Menschen im besetzten Gebiet waren voller Misstrauen uns gegenüber. Sie konnten ausschließlich russische Sender empfangen“, berichtet der Bürgermeister. Durch die neue Sendeanlage werden seit August vergangenen Jahres 27 ukrainische Fernsehsender bis tief in die besetzten Gebiete gesendet. Auf die Frage, ob die Anlage auch Störsignale gegen russische Sender sendet, antwortet der Bürgermeister der Gemeinde an der Frontlinie, nicht ohne zu schmunzeln: „Lassen Sie mich es so sagen: Die Sendestation besteht aus den unterschiedlichsten Komponenten.“
Anmerkung der Redaktion: Diese Reportage entstand im Rahmen einer Pressereise, an der Reporter.lu teilnahm und die von der „Academy of Ukrainian Press“ organisiert und finanziert wurde. Die Nichtregierungsorganisation wird finanziell von mehreren westlichen Staaten und Stiftungen unterstützt.