Blau-Rot-Grün ändert den Gesetzestext zur Pflegeversicherung nur sechs Monate nach seiner Einführung und gibt dafür neues Geld aus. Damit beugt sich die Regierung den Forderungen der COPAS und der Gewerkschaften und hat scheinbar vergessen, dass die Reform eigentlich als Sparmaßnahme vorgesehen war. Ein Überblick.
Es war ein langes Hin und Her: So plakativ könnte man die Streitigkeiten, die es in den vergangenen Wochen und Monaten im Pflegesektor gab, knapp zusammenfassen. Dabei ging es aber um weit mehr, als nur um die Frage, wer am Ende Recht bekommt. Es ging um das Wohl von pflegebedürftigen Menschen.
Das Problem beim Thema Pflege: Patronat, Dienstleister und Regierung hatten zuletzt an gleich mehreren Fronten verhandelt: Für ein Ende der Streiks in Luxemburger Pflegeheimen, vor allem aber für Änderungen im Reformtext der Pflegeversicherung, der am 1. Januar 2018 in Kraft trat.
Die größten Streitpunkte scheinen gelöst zu sein. Dafür musste vor allem einer Zugeständnisse machen: Sozialminister Romain Schneider (LSAP). Von seiner ursprünglichen Reform bleibt am Ende nicht mehr viel übrig – außer neue Kosten. Die belaufen sich für die Nachbesserungen, die am 15. Juni beschlossen wurden, auf insgesamt 19 Millionen Euro, der staatliche Anteil liegt bei 7,6 Millionen.
Erst gestrichen, dann wieder eingeführt
Im Kern geht es bei den Änderungen um zwei Punkte: Die gesetzliche Wiedereinführung der sogenannten „Course-Sortie“ und zusätzliche Mittel für die Betreuung von pflegebedürftigen Menschen, die unter schweren Krankheiten wie beispielsweise Demenz leiden.
Beim letzten Punkt werden die Betreuungsstunden, die sogenannten „Activités d’Accompagnement en Etablissement“ (AAE), künftig wieder erhöht. Für die Personen in den Pflegeheimen steigt das Kontingent von vier auf maximal zehn Stunden pro Monat. Bei Personen, die zu Hause leben, wurde die Anzahl der Stunden von 40 auf maximal 56 erhöht – sie erreichen damit wieder den Stand, den sie vor der Reform hatten.
Es ist zwar etwas entschieden worden, wir wissen aber noch nicht genau was.“
Isabelle Hein, Leiterin des Pflegedienstes Päiperléck
Und auch die viel diskutierten Courses-Sorties werden wieder eingeführt. Wer diesen Dienst von der Pflegeversicherung zugesprochen bekommt, kann in Begleitung eines Pflegers Aufgaben wie Bankbesuche oder Einkäufe erledigen. Zunächst aus dem Gesetz gestrichen, haben Pflegebedürftige, die zu Hause wohnen, jetzt wieder vier Stunden pro Woche Anspruch darauf.
Unklarheiten bleiben bestehen
Die Änderungen der Reform präsentierten der Minister, die Gewerkschaften und der Dachverband der Pflegedienste COPAS am 16. Juni gemeinsam bei einer Pressekonferenz. Die Verantwortlichen der Pflegedienste haben ihre Informationen zu den Änderungen bisher auch nur aus der Presse erhalten: „Es ist zwar etwas entschieden worden, wir wissen aber noch nicht genau was“, sagt Isabelle Hein, Leiterin des Pflegedienstes Päiperléck im Gespräch mit REPORTER.
Am Mittwoch soll dann das Treffen mit der COPAS stattfinden, von dem sie sich nähere Erklärungen und Informationen erhofft. Gut sei, dass die Änderungen kommen, jetzt müsse nur geschaut werden, wie sie konkret umzusetzen sind, so Hein.
Reform von Vorgängern geerbt
Die Courses-Sorties (sie heißen jetzt „Déplacement à l’exterieur“) werden wieder eingeführt, die AAE-Stunden wieder erhöht: Ähnlich wie bei der Reform im öffentlichen Dienst, geht wieder alles zurück auf Anfang. Mit diesen Änderungen und den neu entstandenen Kosten bleibt die Frage, ob eine Reform der Pflegeversicherung notwendig war. „Wir wollen die Qualität der Pflege, mehr Flexibilität und den Fortbestand der Pflegeversicherung garantieren – und das ist uns mit diesem Text auch gelungen“, argumentiert Romain Schneider.
Dass die Reform eigentlich als Sparmaßnahme vorgesehen war, sieht er heute anders: „Es gab nie Diskussionen über die Finanzierung.“ Dabei hatte bereits die CSV-LSAP-Koalition eine Reform angekündigt – kurz vor dem frühzeitigen Regierungsende 2013. Damals lautete die Sorge, dass die Zahlen der „Assurance Dépendance“, die 1999 eingeführt wurde, irgendwann ins Minus rutschen würden und das ganze System sich selbst nicht mehr finanzieren könne. Schneider war damals schon Mitglied der Regierung, wenn auch nicht als Sozialminister.
Gezahlt wird, was „notwendig“ ist
Auch Blau-Rot-Grün hielt an diesem Konsolidierungskurs fest: Weil die Finanzierung des Sozialversicherungssystems „ihre Grenzen erreichen“ werde, wie es im Regierungsprogramm von 2013 heißt. Ziel der Reform sei deshalb, die „Assurance dépendance“ langfristig abzusichern.
Ein wichtiger Punkt: Alle Dienstleistungen, die bei der Pflege „nützlich und notwendig” („utiles et nécessaires“) sind, sollten durch die Reform weiterhin garantiert werden, um den Menschen ein „autonomes und würdiges Leben“ zu gewährleisten. Die Kriterien für die Pflege wurden ab dem Zeitpunk strenger – und die Courses-Sorties dadurch gestrichen.
Hinzu kam die Ideologie des „Zukunftspak“ von 2015. Auch dort wurden Sparmaßnahmen für den Pflegebereich verankert. In einem Abkommen mit den Gewerkschaften wurde schon zuvor festgehalten:
„L’assurance dépendance sera réformée avec pour ligne directrice une application plus efficiente des critères d’octroi des prestations, dans un souci d’assurer la nature du nécessaire et de l’utile des prestations, sans pour autant contrarier les prestations objectivement requises par les assurés. L’ambition sera de détecter des potentiels d’économies, tout en assurant le meilleur niveau et la qualité des soins, et en respectant les principes fondamentaux de l’assurance dépendance.“
Die Pflegedienste und Einrichtungen haben durch diese Maßnahmen im ersten Halbjahr 2015 Umsatzverluste von fast 20 Prozent verzeichnet. Die CNS habe den Betrieben daraufhin Überbrückungskredite zur Verfügung stellen müssen, wie das „Land“ berichtete.
Rein finanziell haben die Sparmaßnahmen des „Zukunftspak“ aber gegriffen. Geld ist momentan wieder vorhanden. Lag der Überschuss der Pflegeversicherung im Jahr 2015 bei 11,8 Millionen Euro, ist er 2016 – ein Jahr nach Einführung des „Zukunftspak“ – auf 50,3 Millionen hochgeschossen und wird für 2018 auf 32,7 Millionen im Budget der „Assurance Dépendance“ geschätzt. Zum Vergleich: Die Einnahmen der CNS durch die Sozialbeiträge sind in den vergangenen Jahren stetig um rund fünf Prozent gestiegen – sie machen demnach nur einen kleinen Teil des satten Überschusses aus.
Weniger Dienstleistungen, weniger Jobs
Leidtragende der Reform waren bisher die Kunden, denen Dienstleistungen gestrichen worden sind. Aber nicht nur sie: Pflegeanbieter und Gewerkschaften erkannten auch schnell Probleme, die sich auch für das Personal stellten. Denn bei einem kleineren Angebot an Dienstleistungen werden auch weniger Arbeitskräfte gebraucht.
Konkret heißt das: Die für die Courses-Sorties eingesetzten nicht-qualifizierten Mitarbeiter sind in den vergangenen Monaten überflüssig geworden. Ganz einfach deswegen, weil ihr Aufgabenbereich durch die Reform verschwunden ist.
„Natürlich haben wir versucht, einen Teil dieses Personals umzuschulen, aber das klappt eben auch nicht bei allen“, sagt Christophe Knebeler vom LCGB. Netty Klein, Generalsekretärin von der COPAS sieht dieses Problem jetzt erst einmal gelöst: „Durch die Wiedereinführung gibt es jetzt auch wieder Aufgaben für dieses Personal.“
Die Geldquellen sprudeln also wieder, sowohl in der Staatskasse als auch bei der Assurance Dépendance.“
Wäre es nicht zu dieser Lösung gekommen, hätte es wohl nicht nur den Konflikt zwischen COPAS, Gewerkschaften und Minister gegeben, sondern auch zwischen dem Dachverband und den Arbeitnehmervertretern. Mit den Änderungen im Gesetzestext konnte Minister Schneider so auch einen Konflikt zwischen Dienstleistern und Gewerkschaften aus dem Weg räumen.
Es bleiben demnach zwei Punkte von der Reform: Einerseits wird die Pflege zu Hause weiterhin in Pflegestufen unterteilt. Je nach Grad wird den Patienten eine gewisse Zeitspanne für Hilfe und Pflege zu Hause zugeteilt. Andererseits soll die „Cellule d’Evaluation“ durch mehr Kontrollen für zusätzliche Transparenz im Sektor sorgen. Beides sorgt laut dem Minister für mehr Flexibilität und eine bessere Qualität der Pflegeleistungen.
Änderungen um jeden Preis
Die Geldquellen sprudeln also wieder, sowohl in der Staatskasse als auch bei der „Assurance Dépendance“. Ein Sparkurs muss nicht mehr gefahren werden und der Minister kann ohne Bedenken wieder mehr Geld für die Pflege zur Verfügung stellen.
Gewerkschaften und COPAS hat er dadurch – zumindest teilweise – ruhig gestellt. Vergessen sind die Probleme der vergangenen Monate dadurch aber nicht. „Der Schaden, der angerichtet worden ist, hätte verhindert werden können, wenn man im Vorfeld mehr miteinander gesprochen hätte“, resümiert es Christophe Knebeler. „Diese Reform war eigentlich überflüssig.“
Mit seinem Rückzug gelingen Romain Schneider vor den Wahlen zwei wichtige Punkte: Er stellt nicht nur Gewerkschaften und COPAS zufrieden, sondern auch die Patienten. Der ursprüngliche Sinn der Reform, nämlich das Sparen, spielt aber keine Rolle mehr – bis zur nächsten Reform.