Nationalismus, Revanchismus und ein obskurer, fast schon religiöser Kriegskult: Russlands Invasion der Ukraine folgt einer Ideologie, die bisher als Randerscheinung galt. Wladimir Putin dient sie mittlerweile als zentrale Inspiration und Begründung seiner Herrschaft.

Ein Originaltext aus dem „Economist“ *

Am 22. März, in einem Straflager 1.000 Kilometer nordöstlich des belagerten Kiew, wurde Alexei Nawalny, der inhaftierte Anführer der russischen Opposition, zu einer weiteren Haftstrafe von neun Jahren verurteilt. Um diese zu verbüßen, wird er vermutlich von der Stadt Wladimir, wo er seit mehr als einem Jahr inhaftiert ist, in ein Hochsicherheitsgefängnis irgendwo in Russland verlegt werden.

Die Straftat, wegen der er verurteilt wurde, lautet Betrug. Sein eigentliches Verbrechen aber ist das gleiche, für das die gesamte Bevölkerung der Ukraine derzeit kollektiv bestraft wird. Die Ukrainer wollen viele, wenn nicht alle Werte übernehmen, die den anderen europäischen Nationen lieb und teuer sind. Alexei Nawalny will das Gleiche für Russland. Wladimir Putin kann beide Bestrebungen keinesfalls akzeptieren. Wie Dimitro Kuleba, der Außenminister der Ukraine, im Gespräch mit „The Economist“ sagte: „Wenn Russland siegt, gibt es keine Ukraine mehr; wenn die Ukraine siegt, wird es ein neues Russland geben.“ Dieses neue Russland ist Putin ebenso verhasst wie die Ukraine. Sein Potenzial muss also wie das von Nawalny vernichtet werden.

Dieser Kreuzzug gegen eine liberale europäische Zukunft wird im Namen von „Russkiy mir“, der „russischen Welt“, geführt, einer obskuren historischen Bezeichnung für eine slawische Zivilisation, die auf gemeinsamem Volkstum, gemeinsamer Religion und gemeinsamem Kulturerbe beruht. Das Putin-Regime hat diese Idee wiederbelebt, gefördert und zu einer verworrenen anti-westlichen Mischung aus orthodoxer Lehre, Nationalismus, Verschwörungstheorien und sicherheitsstaatlichem Stalinismus umfunktioniert. Der Krieg ist die letzte und offensichtlichste Erscheinungsform dieser revanchistischen ideologischen Bewegung. Und sie hat eine dunkle und mystische Komponente im Gefolge, nämlich eine gewisse Liebe zum Tod. Der Publizist Andrei Kurilkin sagt dazu: „Der Inhalt des Mythos ist weniger wichtig als seine heilige Natur. Die Legitimität des Staates beruht hier nicht auf dem Gemeinwohl, sondern auf einem fast religiösen Kult.“

Dieser Kult trat bei Putins erstem öffentlichen Auftreten seit der Invasion offen zutage, nämlich bei der Massenveranstaltung im Luzhniki-Stadion, mit 95.000 Flaggen schwenkenden, meist jungen Menschen, von denen einige mit Bussen angekarrt wurden, vermutlich aber auch viele aus eigenem Willen dort waren. Eine offene achteckige Konstruktion in der Mitte des Stadions diente als Altar. Mitten darin stehend lobte Wladimir Putin die russische Armee mit Worten aus dem Johannes-Evangelium: „Niemand liebt mehr als einer, der sein Leben für seine Freunde opfert.“

In seiner Rede, die er in einem 14.000-Dollar-Mantel von „Loro Piana“ hielt, erwähnte er mehrmals Fjodor Uschakow, einen tiefreligiösen Admiral, der im 18. Jahrhundert dazu beitrug, die Krim von den Türken zurückzuerobern. Er wurde 2001 von der Orthodoxen Kirche heiliggesprochen und später zum Schutzpatron der nuklearen Langstreckenbomberflotte ernannt. „Er hat einmal gesagt, dass die Stürme des Krieges Russlands Ruhm begründen werden“, erklärte Putin der Menge. „Das war richtig in seiner Zeit, das ist heute richtig und wird immer richtig sein.“

Der Krieg als Werk Gottes

Sowohl bei seinen allgemeinen Bemerkungen zur Religion als auch bei dem speziellen Hinweis auf Uschakow folgte Putin dem Beispiel Stalins. Nachdem die Sowjetunion 1941 von Deutschland überfallen worden war, rehabilitierte der vom ehemaligen Seminaristen zum Kommunisten gewandelte Diktator die bis dahin verfolgte Orthodoxe Kirche, um dadurch das Volk für sich zu gewinnen. Außerdem führte er einen Orden für verdiente Marineoffiziere mit der Bezeichnung „Uschakow-Orden“ ein und verfügte, dass dessen sterbliche Überreste feierlich umgebettet wurden.

Das war nicht bloß eine Anbiederung oder ein Zugeständnis; es stellt in der Tat eine historische Beziehung zwischen gestern und heute her. Die Verbindung zwischen der Kirche und den Sicherheitskräften, die zuerst unter Stalin gefördert wurde, verstärkte sich nach dem Ende des Kommunismus. Während einige Kirchen in Westeuropa nach ihrer Unterstützung des Hitler-Regimes Bedauern und Reue zeigten, distanzierte sich das Moskauer Patriarchat niemals von seiner Zusammenarbeit mit Stalin, etwa bei der Unterdrückung der ukrainischen Katholiken nach 1945.

Die Gefolgschaft der Kirchenführer, wenn nicht des gesamten Klerus, wurde nun auf Wladimir Putin übertragen. Kirill, der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, nannte Putins Präsidentschaft ein „Wunder Gottes“; er und andere sind zu willfährigen Unterstützern des Kriegskults geworden. Ein frühes Anzeichen für diese Entwicklung gab es 2005, als die orangen und schwarzen Bänder des Ordens des Heiligen Georg, jenes in der Orthodoxen Kirche verehrten und heiliggesprochenen Kriegers, bei den Gedenkfeiern zum Ende des Krieges gegen Deutschland 1941-1945, der in Russland als „großer vaterländischer Krieg“ bezeichnet wird, zu neuen Ehren kamen. Der pompöse Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Hauptkathedrale der russischen Streitkräfte in Kubinka, 70 Kilometer westlich von Moskau, die am 22. Juni (dem Tag des Überfalls Hitlers) im Jahre 2020 (dem 75. Jahrestag des Kriegsendes) in Anwesenheit der Herren Putin und Kirill eingeweiht wurde.

Die Kathedrale ist ein khakifarbenes byzantinisches Monstrum, ihr Boden besteht aus dem eingeschmolzenen Metall deutscher Panzer. Aber sie ist nicht nur den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts gewidmet. In mehreren Mosaiken wird an die Invasion in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 und die russische Rolle im syrischen Bürgerkrieg erinnert: Engel lächeln auf die Soldaten herab, die ihrem gottgefälligen Handwerk nachgehen.

In diesem Sinne hat Kirill den derzeitigen Krieg zu einem göttlichen Werk erklärt und die Rolle gelobt, die er spielen wird, um Russland den Schrecken von Gay-Pride-Paraden zu ersparen. Noch eifrigere Kirchenmänner sind noch weiter gegangen. Elizbar Orlow, ein Priester in Rostow, das nahe der Grenze zur Ukraine liegt, hat erklärt, die russische Armee sei dabei, „die Welt von einer teuflischen Infektion zu säubern“.

Wie die Kathedrale zeigt, bilden die Opfer und die Siege des russischen Volkes in dem großen vaterländischen Krieg – der 20 Millionen Sowjetbürger das Leben kostete und der zur Errichtung eines Imperiums führte, das an Größe jedes Zarenreich übertraf – den Mittelpunkt von Putins neuer Ideologie von der russischen Welt. Heutzutage hätten sich Freunde und Verbündete der 1940er Jahre umorientiert und den Krieg als Mittel für die Angriffe auf die russische Kultur wiederentdeckt, die der Westen seit Jahrhunderten betreibt. Die Hauptschuldigen dieser Aggression seien Großbritannien und Amerika, die nicht mehr als Verbündete im Kampf gegen die Nazis gesehen werden, sondern als Unterstützer der imaginären Nazis, vor denen die Ukraine gerettet werden muss.

Das Projekt Russland

Noch wichtiger für den Kult als die Priester sind die „Silowiki“ der Sicherheitsdienste, aus denen Putin selbst hervorging. Offiziere des FSB, eines Nachfolgers des KGB, sind seit 20 Jahren im Zentrum der russischen Politik tätig. Wie viele Mitglieder von geschlossenen, eng miteinander verbundenen und mächtigen Organisationen sehen sie sich gerne als Mitglieder eines geheimen Ordens, der Zugang zu offenbarten Wahrheiten hat, der normalen Menschen verwehrt bleibt. Ihre zentralen Überzeugungen sind antiwestliche Ausrichtung und Belagerungsmentalität. Wladimir Putin verlässt sich auf die Berichte, die sie ihm zu seiner Information über die Weltlage liefern und die stets in auffälligen roten Mappen enthalten sind.

Auch in diesem Bereich war erstmals 2005 eine Tendenz zu der aktuellen Ideologie zu beobachten, als eine Gruppe innerhalb des FSB ein anonymes Buch mit dem Titel „Das Projekt Russland“ verfasste. Es wurde durch Kurierdienste an verschiedene Ministerien verteilt, die sich mit Sicherheitsfragen und Russlands Beziehungen zur Welt befassen, und enthielt die Warnung, die Demokratie sei eine Bedrohung und der Westen ein Feind.

Das fand jedoch kaum Beachtung. Obgleich Putins Antritt als Präsident im Jahre 2000 durch seinen Willen, in Tschetschenien Krieg zu führen, erleichtert wurde, bestand sein Mandat darin, die durch die Schuldenkrise von 1998 gebeutelte Wirtschaft zu stabilisieren und die Gewinne des ersten postsowjetischen Jahrzehnts, die größtenteils in den Taschen der Oligarchen verschwanden, zu konsolidieren. Sein Vertrag mit dem russischen Volk beruhte nicht auf Religion oder Ideologie, sondern auf der Verbesserung der Einkommen. Nur aufmerksame Kremlbeobachter oder weitsichtige Künstler wie Wladimir Sorokin und einige politische Aktivisten erkannten die neue Ideologie des Isolationismus, die sich in einigen dunklen Ecken der Machtstruktur eingenistet hatte. In einer Zeit der postmodernen Ironie, des Glamour und des Hedonismus erschien diese Entwicklung bestenfalls als marginal.

Zwei Jahre später wurde diese neue Denkweise für die restliche Welt deutlich erkennbar. In seiner Münchner Rede 2007 erteilte Wladimir Putin der Idee einer Integration Russlands in den Westen eine förmliche Absage. In demselben Jahr erklärte er auf einer Pressekonferenz in Moskau, die Nuklearwaffen und die orthodoxe Christenheit seien die beiden Grundpfeiler der russischen Gesellschaft, wobei erstere die externe Sicherheit und letztere die moralische Gesundheit des Landes garantierten.

Nachdem 2011/2012 Zehntausende von Stadtbewohnern der Mittelschicht in Moskau und St. Petersburg mit der Forderung „Russland ohne Putin“ auf die Straße gingen, begannen die Sekurokraten und die Kleriker, ihr Dogma in das Alltagsleben zu integrieren. Ein Regime, das Netzwerke von Korruption, Selbstbedienung und Erpressung unterstützt und von diesen unterstützt wird, braucht die Religion und eine Ideologie von nationaler Größe, um die Legitimität, die durch die Ausplünderung des Staates verloren gegangen war, wiederherzustellen. Wie Alexei Nawalny in einem Video bemerkte, das den Palast von Putin in Sotschi zeigte, ist für die Vertuschung von derart drastischen Missständen schon eine stattliche Menge an Ideologie erforderlich.

Unerfüllte Erwartungen

In diesem Stadium konnte man die Ideologie immer noch als Deckmantel und nicht als Produkt einer echten Überzeugung betrachten. Vielleicht war das ein Fehler; vielleicht hatte sich auch die grundlegende Realität geändert. Jedenfalls führte der Ausbruch der Covid-19-Pandemie vor zwei Jahren zu einer Ausbreitung der ideologischen Tendenzen. Damals war der am meisten diskutierte Aspekt der Verfassungsänderungen, die Wladimir Putin im Juli 2020 durchsetzte, dass er alle Begrenzungen seiner Amtszeit abschaffte. Aber es wurden auch neue, ideologische Normen eingeführt: Die Homoehe wurde verboten, Russisch wurde als „Sprache des staatstragenden Volkes“ festgeschrieben und Gott erhielt im Erbe der Nation einen offiziellen Platz.

Die aufeinanderfolgenden langen Isolierungszeiten von Wladimir Putin scheinen diesen Wandel verstärkt zu haben. Es heißt, er habe viel von seinem Interesse am Tagesgeschäft verloren; stattdessen kümmere er sich mehr um Geschichte und insbesondere um Gestalten wie Konstantin Leontjew, einen ultrareaktionären visionären Denker des 19. Jahrhunderts, der Hierarchie und Monarchie bewunderte, die demokratische Gleichmacherei missbilligte und für das Festhalten an der Tradition eintrat. Einer der wenigen Menschen, mit denen Putin Zeit verbringt, soll Juri Kowalschuk sein, ein enger Freund und Chef eines großen Medienkonzerns. Russischen Journalisten zufolge unterhielten sich die beiden über Putins Mission, die erneute Vereinigung Russlands und der Ukraine zu verwirklichen.

Das ist der Grund für den Krieg gegen die Ukraine, der auch ein Krieg gegen Russlands Zukunft ist, oder zumindest gegen die Zukunft, wie sie sich die bisweilen kleine, aber häufig bestimmende Gruppe der dem Westen zugewandten Russen in den vergangenen 350 Jahren vorstellte. Wie in der Ukraine soll mit dem Krieg eine mögliche Zukunft zunichte gemacht werden, die sich an Europa und einer Form der liberalen Modernität orientiert. In der Ukraine wäre dann eine nachhaltige Zukunft in diesem Sinne ausgeschlossen. In Russland würden die Modernisierer auswandern, da ihre ohnehin eingeschränkte Welt durch eine stark reaktionäre und nach innen gerichtete Ideologie ersetzt wurde.

Die von Russland unterstützten „Republiken“ in Donezk und Luhansk könnten hier als Modell dienen. Dort wurden Gauner und Gangster in unglaubliche Positionen befördert, mit neuen Waffen ausgestattet und auf ein angeblich ruhmvolles Ziel eingeschworen, nämlich den europäischen Traum der Ukraine zu bekämpfen. In Russland hätten sie die Aufgabe, die Rückkehr eines solchen Traums – sei es aus dem Ausland oder aus einer Gefängniszelle – zu verhindern.


* Dieser Artikel basiert auf einem Originaltext aus dem „Economist“, den Reporter.lu im Rahmen einer Syndizierungspartnerschaft veröffentlicht.


© 2022 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.

From The Economist, translated by Hermann J. Bumb, published under licence. The original article, in English, can be found on www.economist.com