Die Episode um die vermeintlichen 60 Millionen Steuerzahlungen von Fage ist mehr als ein Ausrutscher. Die fast schon absurde Verdrehung der Fakten ist ein Symptom für die inhaltsarme politische Debatte in Luxemburg. Ein Kommentar.
Waren es jetzt 60 Millionen oder eher 450.000 Euro? Es ist nicht das erste Mal, dass sich ein Spitzenkandidat irrt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sich ein Politiker in solch einer Größenordnung verschätzt. Und doch ist die Aussage von Etienne Schneider (LSAP) über die vermeintlichen Steuerzahlungen des Molkereikonzerns Fage gleich in mehreren Hinsichten bemerkenswert.
Schneiders Fehlgriff ist nicht nur unglücklich, sondern peinlich. Erinnert man sich an seinen „Patzer“ in der Referendumsdebatte, ist es auch für ihn persönlich kein erstes Mal. Dass der Vizepremier und Wirtschaftsminister des Landes seine Fakten nicht kennt, gibt allerdings zu denken. Dass er das Argument der „60 Millionen“ wiederholt und ohne jeglichen Widerspruch von anderen Parteien oder Vertretern der Zivilgesellschaft vorbringen konnte, deutet jedoch darauf hin, dass das Problem tiefer liegt.
Keine Tradition des „Faktenchecks“
Die Episode verdeutlicht nämlich, dass Luxemburgs Wahlkampf in der Regel nicht allzu sehr auf Inhalte und nachvollziehbare Fakten ausgelegt ist. Es gibt keine wirkliche Tradition des „Faktenchecks“. Im Zweifel konzentrieren sich nämlich nicht nur die Parteien, sondern auch die Medien lieber auf Köpfe und persönliche Kontroversen als auf inhaltliche Debatten.
Wäre es anders, wäre irgendjemandem längst aufgefallen, dass Etienne Schneider sein „60 Millionen“-Argument gleich mehrmals vorbrachte. Es ist nämlich kein Versprecher oder einmaliger „Fauxpas“. Der Vizepremier brachte die Zahl mindestens drei Mal ins Gespräch, um damit die erfolgreiche Wirtschaftspolitik der Regierung zu veranschaulichen.
Auf Nachfrage gab es von Schneiders Ministerium zunächst keinen Kommentar. Erst einige Tage später ließ der Minister dann durchblicken, dass ihm die Zahl von einem seiner Mitarbeiter vorgelegt wurde. Doch das ist in diesem Fall keine ausreichende Erklärung. Zur Erinnerung: Fage zahlte in den vergangenen zwei Jahren nicht 60 Millionen, sondern nicht einmal eine Million Steuern in Luxemburg.
Ein parteiübergreifendes Problem
Man sollte es nochmals betonen: Schneiders Argument ist nicht nur unkorrekt, sondern in einem fast schon absurden Maße falsch. Jene Unternehmen, die allein in den Bereich der 30 Millionen Euro an Steuerzahlungen pro Jahr kommen, kann man in Luxemburg an einer Hand abzählen. Fage gehört nachweislich nicht dazu. Und das wird sich laut Recherchen von REPORTER auch in den kommenden Jahren kaum ändern.
Ebenso peinlich ist allerdings, dass auch keinem von Schneiders Konkurrenten aufgefallen ist, dass die Zahl letztlich absurd ist. Weder der Koalitionspartner „Déi Gréng“, der bei ebendieser Standortdebatte von Schneiders LSAP mit den vermeintlichen Fakten vorgeführt werden sollte, mischte sich ein. Noch die Oppositionsparteien CSV, ADR oder Déi Lénk, die anscheinend auch kein Bedürfnis verspürten, die offensichtlichen Falschaussagen des Vizepremiers zu brandmarken.
Der Grund liegt nahe, denn auch die anderen Parteien jonglieren regelmäßig mit fragwürdigen Zahlen und Vergleichen. Besonders im Wahlkampf lassen sie sich zu einseitigen Interpretationen ihrer Politik hinreißen, die nicht immer mit der empirisch nachprüfbaren Realität übereinstimmen. Oder aber sie versprechen Dinge, die in ihren Programmen oder öffentlichen Diskursen nicht einmal ansatzweise beziffert werden – siehe Gratis-Transport, Ausbau von Tram oder Autobahnen, Steuersenkung für Betriebe, und einiges mehr.
Die Medien sind mitverantwortlich
Erst auf den besagten Artikel hin, stellte die CSV übrigens eine parlamentarische Anfrage zum Sachverhalt, in der sie sich Aufklärung vom Minister erwartet. Wie man weiß, warten Abgeordnete aber mitunter einen Monat auf eine schriftliche Antwort des Ministers. Schneiders höchst offizielles Fehlereingeständnis könnte also auch erst nach den Wahlen kommen.
Bis dahin werden jedoch wohl noch einige andere fragwürdige Fakten in der politischen Debatte auftauchen, die in Luxemburg zu oft ohne „Checks“ oder „Balances“ weiterverbreitet werden. Wenn sich schon die Politik damit parteiübergreifend zufriedengibt, sollten sich zumindest die Medien darauf ein- und entsprechend neu aufstellen.
Wie die Debatte in Deutschland, Frankreich oder den USA zeigt, ist selbst eine Armee von „Faktencheckern“ keine Garantie gegen die Salonfähigkeit von „alternativen Fakten“. Sich völlig von der Suche nach der Wahrheit und einem aufrichtigen politischen Diskurs zu verabschieden, darf jedoch auch keine Option sein.