Seit Monaten steht das Traditionshaus Kass-Jentgen an einer der prominentesten Straßenecke der Hauptstadt leer. Wenige Meter weiter findet die ehemalige Boutique von Fabienne Belnou seit über zwei Jahren keinen Vermieter. Die beiden Unternehmer erzählen, wie es dazu kommen konnte.
In der Vitrine des „Groussgaasseck“ leuchten keine Diamanten mehr. „Keep calm and stay curious“ steht seit Wochen auf den geschlossenen Rollläden. Die Schließung des ehemaligen Juwelierladens ihrer Eltern, der die prestigeträchtige Kreuzung zwischen der Grand-Rue und der Rue Philippe II bereits vor der Jahrtausendwende belebte und kennzeichnete, fiel den Geschwistern Kass nicht leicht.
Wie kam es dazu? Im Gespräch mit REPORTER nennt der Geschäftsführer Julien Kass zwei entscheidende Gründe für die Schließung von über einem Dutzend Geschäften in der Innenstadt: Die Mietpreise und der Rückgang potentieller Kunden in der Innenstadt. „Fragt man die Luxemburger, ob sie am Wochenende zum Einkaufen in die Stadt kommen, antworten sie einem mit ‚ech sinn dach nett mëll’“, sagt er.
Julien Kass ist sehr nüchtern. Dennoch hört man in seiner Stimme eine gewisse Wut, einen gewissen Frust. Er habe sich mittlerweile beruhigt, meint er. Noch vor einigen Monaten sei er viel wütender und verärgerter gewesen. Die Schließung seines Ladens und die Situation der Geschäftsleute der Innenstadt im Allgemeinen nimmt den Luxemburger sichtlich mit. „Mir hunn et net méi gepackt“, gesteht er.
Von fantastisch zu defizitär
Es ist vor allem der Rückgang der Laufkundschaft, der das Juweliergeschäft in Bedrängnis brachte – seit drei bis vier Jahren. Angefangen hat alles bereits mit der Finanzkrise 2008. Erstmals brach der Umsatz ein. Dabei waren die Geschäftszahlen um die Jahrhundertwende noch „fantastisch“ gewesen, so Julien Kass. Parallel zu den sinkenden Verkaufszahlen konnte der Juwelier zwar zeitweise eine deutliche Verbesserung in seinem Laden im Shoppingcenter in Kirchberg feststellen. Doch es reichte nicht aus, um das Geschäft in der Stadt zu retten. „2016 war katastrophal. Am Ende waren wir in der Stadt defizitär.“
„Die Kunden finden samstags keinen Parkplatz mehr in der Nähe“, so Julien Kass weiter. Und der Geschäftsmann versteht die Leute fast. Das Parkhaus Aldringen ist seit etwa vier Jahren geschlossen, die Knuedler-Tiefgarage wird seit 2015 erweitert. Auch die Parkfläche des Glacis wurde in Vorbereitung auf die Tram verkleinert.
Doch versteht Julien Kass die Kunden eben auch nur fast. So spricht er von einem „perversen Effekt“: Viele Luxemburger hätten die Gewohnheit, in der Innenstadt zu parken, weil sie diese Annehmlichkeit so lange genossen, dass sie zur Selbstverständlichkeit wurde und für sie nun unverzichtbar geworden ist. „In welcher anderen Hauptstadt beklagen sich die Menschen denn, wenn sie vom Parkhaus bis in die Geschäftsstraße zehn Minuten zu Fuß gehen müssen?“
Andere Hauptstädte und das Internet sind ohnehin eine Konkurrenz für Luxemburgs Geschäftsleute. Bei jedem Wochenendtrip nach Paris, Brüssel oder London wird der begehbare Kleiderschrank ordentlich gefüllt. Und dann sind da noch Trier und Metz.
Das Parkplatz-Problem, das eigentlich keines ist
Die „Union commerciale de la ville de Luxembourg“ (UCVL) hat die Statistiken zur Parkplatzsituation mehrfach analysiert. „Die einzigen Parkhäuser, die fast immer voll sind, sind das Theatre des Capucins und der Knuedler“, sagt Mireille Rahme-Bley, Vizepräsidentin des hauptstädtischen Geschäftsverbands (UCVL). Im „Monterey“-Parking, unweit des Zentrums, würde man auch an den meisten Samstagen einen Stellplatz finden, genauso wie im unterirdischen Parkhaus des Glacis „Rond-point Schuman“.
„Pignon sur rue“ – der Steuern wegen
Auch die Mietpreise sind ein Problem. Sie brechen Einzelhändlern langfristig das Genick. Schuld daran sei unter anderem die Ankunft der großen Luxusketten, sagt Julien Kass. „Internationale Modekonzerne wollen aufgrund der Steuererleichterungen nach Luxemburg“, so seine Feststellung. Briefkastenfirmen reichen bekanntlich nicht mehr aus, um die Verlagerung der Besteuerung eines ganzen Konzerns über Luxemburg laufen zu lassen. Stichwort: wirtschaftliche Substanz. Hinzu kommt der Mietpreis-Skandal um die französischen Geschäftsmänner von FCPE. Sie hätten die Eigentümer schlicht an zu hohe Mietpreise gewöhnt. Darauf wollen nach der Pleite der rund 20 Geschäfte in 2013 bis heute die wenigsten Vermieter verzichten.
Luxus soll auch künftig das Leitmotif des „Groussgaasseck“ bleiben. REPORTER-Informationen zufolge eröffnet Goeres Horlogerie im leerstehenden Lokal demnächst ein auf die Marken Rolex und Patek Philippe spezialisiertes Luxusuhrengeschäft.
Die Schließung von Kass-Jentgen wirkt umso desaströser, wenn man bedenkt, dass sich der Juwelier in Top-Lage befand. Die Lage ist für das Geschäftsleben in der Innenstadt bekanntlich das A und O. Paradoxerweise ist sie es im kleinen Luxemburg vielleicht sogar noch mehr als im Ausland. Fakt ist: Die atypische Shoppingweise der Luxemburger beschränkt sich in der Textilmode weiterhin auf das „Goldene T“, das die drei Shoppingstraßen Grand-Rue, Rue Philippe II und deren Verlängerung auf die Avenue de la Porte-Neuve umfasst. Dort wird der größte Umsatz erwirtschaftet. „Das Juweliergeschäft lebt von Impulskäufen“, weiß Julien Kass. Die Leute sehen etwas im Schaufenster – et ils craquent.
Wie wichtig die Laufkundschaft ist, beweisen gegenwärtig die leeren Vitrinen der Rue Louvigny. Wenige Gehminuten von der Groussgaass gelegen, wurden auf einer Straßenlänge von 120 Metern jüngst fünf geschlossene Lokale gezählt.
Die zu teure Miete von Fabienne Belnou
Kein Wunder also, dass Kass-Jentgen kein neues Lokal im Stadtzentrum und außerhalb des „Goldenen T“ eröffnen wollte. Aus den Augen, aus dem Sinn, so die Devise, die die Einkaufsgewohnheiten der Luxemburger Bevölkerung kennzeichnet.
Und doch gibt es Ausnahmen. Den Wegzug aus dem „Goldenen T“ wagte vor zwei Jahren die französische Créatrice Fabienne Belnou, die mit ihrer gleichnamigen Marke seit 25 Jahren auf selbst angefertigten und exklusiven Schmuck setzt. Den Umzug aus der Rue Philippe II hin zur Rue du Marché aux Herbes bereut sie keineswegs. Für sie zahlt er sich sogar aus. „Ich bin dabei, meine Aktivitäten international auszubauen und habe den Eindruck, dass meine neue Adresse dabei hilft“, sagt Fabienne Belnou. „Die ausländischen Händler erkundigen sich bei Business-Meetings stets nach dem Standort meines Geschäfts. Seit meinem Umzug kann ich ihnen sagen: Ich befinde mich in derselben Straße wie der großherzogliche Palast.“
Der Standort im historischen Stadtteil mag ausländischen Geschäftsleuten imponieren. Ganz freiwillig zog Fabienne Belnou dennoch nicht aus der Hauptgeschäftszone weg. „Als mein Mietvertrag nach neun Jahren auslief, wollte die Besitzerin den Mietpreis vervierfachen“, erzählt die Geschäftsfrau, die seit 30 Jahren in Luxemburg lebt. „Ich wollte den Mietpreis-Erpressungen nicht nachkommen.“ Und ferner: „On n’est pas non plus au Faubourg St. Honoré.“
Ich glaube, ich würde einem jungen Luxemburger heute raten, einen E-Commerce-Laden zu eröffnen, anstatt sich von den Mietpreisen erdrücken zu lassen.“
Ihr früheres Lokal steht nun seit Januar 2016 leer. Die Fläche von 139 Quadratmetern wird gegenwärtig auf „athome.lu“ zum Preis von 18.000 Euro pro Monat gehandelt – rund 129 Euro pro Quadratmeter.

Die geforderte Mietpreiserhöhung schien Fabienne Belnou unverhältnismäßig. „Ich habe mich bei Immobilienhändlern erkundigt und herausgefunden, dass der verlangte Preis keineswegs gerechtfertigt ist“, so die französische Schmuckdesignerin. Doch die Nachfrage treibt bekanntlich den Preis hoch.
Immer mehr Miete, bitte
Die Eigentümerin der Geschäftsräume hatte den Mietpreis neun Jahre lang nicht erhöht. Damals, als Fabienne Belnou 2007 in die Rue Philippe II zog, beschränkte sich der Luxus in der Straße auf die Aushängeschilder von Hermès und Sonia Rykiel. Dann folgten Chanel, Gucci, Dior, Cartier, Dolce & Gabbana, Hugo Boss, Muse, Louboutin, Caroline Biss, Paul Smith, Michael Kors, Karen Millen, Marc Jacobs, Zadig & Voltaire, etc. Und mit ihnen die Gier der Eigentümer und die anhaltende Preissteigerung.
Als sie umzog, war sich Fabienne Belnou ihrer Sache sehr sicher. Dabei half ihr natürlich die Gewissheit einer innerhalb von 25 Jahren aufgebauten treuen Kundschaft. Die Suche nach dem neuen Lokal bezeichnet die Schmuckdesignerin rückblickend als recht einfach. „Ich habe mein Geschäft Rue Philippe II samstags geschlossen und bereits die Woche danach mein Geschäft an der neuen Adresse und nach Renovierungsarbeiten eröffnet.“
Und trotzdem dämpft Fabienne Belnou ihre Hoffnung für junge Geschäftsleute. „Ich glaube, ich würde einem jungen Luxemburger heute raten, ein E-Commerce-Laden zu eröffnen, anstatt sich von den Mietpreisen erdrücken zu lassen.“ Genau das wäre allerdings sehr schade, meint die Geschäftsfrau. „Luxemburg muss sich um eine junge Generation von Einzelhändlern bemühen.“