In Frankreich gehen Forscher vermehrt Hinweisen nach, wonach die Corona-Pandemie schon weitaus früher begonnen haben könnte als bisher angenommen. Besonders betroffen soll das elsässische Departement Haut-Rhin sein. Weitere Untersuchungen sollen Gewissheit bringen.
Von Robert Schmidt, Alexander Abdelilah und Guillaume Krempp für Mediapart.fr und Reporter.lu
Am 5. Januar hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO im chinesischen Wuhan eine „neuartige Lungenkrankheit“ ausgemacht. Die ersten offiziellen Fälle sollten auch bald in Europa folgen. Am 12. März bezeichnete die WHO die Coronavirus-Krankheit als Pandemie.
Ende Januar tauchten in Frankreich die ersten offiziellen Infektionsfälle auf. In einer E-Mail der französischen Generaldirektion für Gesundheit (DGS) an Akteure des Gesundheitswesens hieß es noch am 21. Februar: „Es gibt keine Infektionskette in Frankreich.“ Bisher seien erst zwölf Fälle festgestellt worden. „Die Risiko-Zonen sind China (Kontinental-China, Hong Kong, Macau) sowie Singapur.“
Mittlerweile gilt jedoch als gesichert: Bereits im Dezember hatte sich der französische „Patient Null“ im Großraum Paris infiziert. Damit steht auch fest, dass die französischen Behörden den Beginn der Corona-Epidemie zu spät festgestellt haben. Gleichzeitig steht der Vorwurf im Raum, dass man eine rasante Ausbreitung des Virus früher hätte verhindern können. Wie Mediapart in einer ausführlichen Recherche berichtet, blieben in Frankreich zahlreiche frühe Warnungen von Ärzten und Appelle von Forschern ungehört.
Hinweise auf frühe Verbreitung im Elsass
Auch im Elsass häuften sich schon ab Dezember auffällige Lungenerkrankungen. Manche Mediziner gehen heute der Spur nach, dass es sich dabei um frühe Covid-19-Fälle handeln könnte. Der erste verdächtige Fall wird dort auf den 26. Februar datiert. Diesbezügliche Nachforschungen wurden am 7. Mai vom Albert-Schweitzer-Krankenhaus in Colmar bekannt gemacht (REPORTER berichtete).
Der Hintergrund: Ein Radiologen-Team um Doktor Michel Schmitt hatte rund 2.500 Röntgenaufnahmen von Brustkörben untersucht, die zwischen dem 1. November und dem 30. April aufgenommen worden waren. Das Ergebnis: Die ersten Fälle, die auf sehr ähnliche Formen von Lungenentzündungen wie bei Covid-19 hinweisen, wurden bereits am 16. November am Colmarer Krankenhaus festgehalten.
Gegenüber Mediapart hat Schmitt nun weitere Daten geliefert. Demnach habe das Virus „wenigstens seit November“ im Elsass grassiert. „Wir haben bisher sporadische Fälle festgehalten, darunter zwei Fälle im November, zwölf im Dezember, 16 im Januar und so weiter bis zum Ausbruch der Epidemie“, den er zwischen dem 27. und 31. Januar ausmacht. Schmitts Ergebnisse geben allerdings keine hundertprozentige Sicherheit, da sie keine Bluttests beinhalteten, wie er selbst einräumt. Weitere Untersuchungen seien jedoch im Gange.
Auch eine weitere, bisher unveröffentlichte Studie, liefert noch keine endgültigen Beweise. Sie stärkt aber die Theorie des Radiologen aus Colmar. In einer epidemiologischen Untersuchung des staatlichen Forschungszentrums CNRS und der Universität Clermont-Auvergne ergeben sich nun weitere konkrete Hinweise auf frühe Corona-Fälle im Elsass. Demnach seien in den eigentlich nur auf 2020 ausgelegten Fragebögen „ein bis zwei“ mögliche Corona-Fälle im November und „etwa zehn“ zwischen dem 20. und 25. Dezember festgehalten worden.
Pandemie-Beginn im Fokus der Forschung
Die Generaldirektion für Gesundheit DGS entgegnete auf Anfrage von Mediapart, sie wünsche sich, dass „diese Untersuchungen dazu beitragen, die Anfangsphase der Epidemie so genau wie möglich zu bestimmen“. Die Behörde für Nationale Gesundheit ergänzte, sie entwickle gerade einen „methodischen Leitfaden für diese Art von Untersuchungen“.
Die Gesundheitsbehörde in Grand-Est antwortete auf Nachfrage von Mediapart: „Die Regierung steht mit Wissenschaftlern und Experten im ständigen Austausch, um zu diesem Sachverhalt eine Bestätigung oder weitere Informationen zu erhalten“, teilte Sprecherin Laura Philips mit. Um die Ausbreitung des Virus besser zu verstehen, stehe die Behörde außerdem im Kontakt mit Beamten in ganz Europa und China. Und weiter: „Unsere Strategie ist es, uns an die augenblickliche Ausbreitung und die Dynamik des Virus anzupassen.“ Erst in einem zweiten Schritt könnten, falls nötig, weitere Untersuchungen in Erwägung gezogen werden.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine wissenschaftliche Studie einen deutlich früheren Beginn der Epidemie verortet. Eine kürzlich vom Institut für Genforschung des University College London publizierte Untersuchung gibt sogar den 6. Oktober als mögliches erstes Datum für das Aufkeimen der Epidemie an.
Die Erkenntnisse über das Elsass sind aber insofern bemerkenswert, als sie mit zwei verschiedenen Herangehensweisen zu einem sehr ähnlichen Ergebnis gelangten. Ein Ergebnis, das wertvolle Hinweise auf konkrete Fälle und damit die frühe Ausbreitung des Virus liefern könnte. Laut Mediapart untersuchen auch andere französische Krankenhäuser mittlerweile alte Patienten-Akten, ob sich darin ebenfalls Hinweise auf frühere Corona-Fälle finden.
Anmerkung der Redaktion: Die erste Version dieses Artikels enthielt mehrere Ungenauigkeiten und wurde deshalb überarbeitet.
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