Der heilige Fastenmonat der Muslime wird in diesem Jahr durch die Corona-Krise bestimmt. Für die Gläubigen in den Ländern der islamischen Welt stellt die Pandemie eine große Herausforderung dar. Sie führt aber auch zu einer Rückbesinnung auf das Wesentliche.

Dass auch das religiöse Leben weltweit mit Covid-19 zu einem Stillstand kommt, hatte sich bereits zu Ostern gezeigt, als der Papst in Rom seine Ansprache im leeren Petersdom halten musste. Schon zur frühen Stunde der Corona-Epidemie machte ein selten gesehenes Bild die Runde: Die Kaaba in Mekka, vollkommen menschenleer, nur umgeben von einer riesigen weißen Fläche, auf der eine Handvoll Reinigungskräfte den Marmor schrubbt.

Bereits Anfang März hatte das saudische Könighaus die Umrah, also die „kleine Pilgerfahrt“, welche Muslime zu jeder Jahreszeit durchführen können, ausgesetzt. Einreisen ins Königreich wurden untersagt. Kurze Zeit später wurden auch die Freitagsgebete in großen Gotteshäusern wie der Prophetenmoschee in Medina abgesagt. Mittlerweile steht auch die Durchführung der Hadsch, der großen Pilgerfahrt, die jedes Jahr zum Ende des islamischen Kalenderjahres stattfindet und auf Ende Juli 2020 fällt, zur Diskussion. 2019 wurde die Hadsch von 2,5 Millionen Pilgern besucht — „Social Distancing“ also undenkbar.

Für Muslime ist das eine folgenschwere Angelegenheit, schließlich gehört die Pilgerfahrt zu den Grundfesten der Religion, den fünf Säulen des Islams. In der Geschichte musste die Hadsch bereits mehrfach abgesagt werden: Im Jahr 1798 etwa fand die Pilgerfahrt nicht statt, als die Route nach Mekka im Zuge von Napoleons Ägypten-Feldzug für viele Pilger unsicher geworden war. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Mekka gleich zweimal von Krankheitswellen befallen, die zur Absage der Pilgerfahrt führten, darunter eine Cholera-Epidemie im Jahr 1846, die mehr als 15.000 Stadtbewohner tötete und ganze vier Jahre andauerte. Zum Vergleich: Saudi-Arabien hat laut Statistik der John Hopkins University bisher 351 Corona-Tote zu verzeichnen (Stand 20.5.2020).

Fastenmonat besonders in der Diskussion

Derweil sprachen in anderen Golfländern, etwa den Vereinigten Arabischen Emiraten, islamische Geistliche spezielle Rechtsgutachten aus, um Personen mit Krankheitssymptomen die Teilnahme an Gemeinschaftsgebeten in Corona-Zeiten zu untersagen. Auch in Europa gab es ähnliche Vorstöße: In Deutschland veröffentlichte der Zentralrat der Muslime Mitte März eine Warnung, aus Verantwortung vor den Mitmenschen nicht mehr an den Gebeten teilzunehmen.

Noch bis zum Abend des 23. Mai sind nun die weltweit fast zwei Milliarden Muslime angehalten, von den frühen Morgenstunden bis zum Sonnenuntergang zu fasten. In manchen islamischen Ländern gab es kurz vor Beginn des Ramadans Diskussionen darüber, ob sich die Pflicht zum Fasten — ebenfalls eine der fünf Säulen des islamischen Glaubens — angesichts der außergewöhnlichen Lage aufheben ließe. Mediziner appellierten an religiöse Autoritäten, dass das Austrocknen des Rachens aufgrund von Flüssigkeitsverzicht ein erhöhtes Corona-Risiko darstelle. Letztlich wiesen viele der Geistlichen auf die ohnehin im islamischen Recht verankerte Regelung hin, dass Kranke und Alte sowie jene, die besonders für Krankheiten anfällig sind, vom Fasten entbunden bleiben.

Erfindung der Quarantäne

In der islamischen Welt ist der Umgang mit Pandemien kein Neuland: Der berühmte persische Mediziner und Universalgelehrte Ibn Sina aus dem 10. Jahrhundert — bei uns bekannt unter seinem lateinischen Namen „Avicenna“ — soll als erster vorgeschlagen haben, von ansteckenden Krankheiten befallene Menschen unter Quarantäne zu stellen. Seine Methode, die eine vierzigtägige Isolation von Kranken vorsah, nannte er „Al-Arba’iniya“ („die Vierzig“). Ibn Sina formulierte schon damals in seinem Klassiker „Der Kanon der Medizin“ einen Satz, der ebenso in einem Werk der modernen Medizin stehen könnte: „Körpersekrete eines Wirtsorganismus (z.B. im Menschen) werden durch verunreinigte Fremdorganismen kontaminiert, die vor einer Infektion mit bloßem Auge nicht sichtbar sind.“

Weltweit gab es Onlinekampagnen, um das Bewusstsein der Muslime für das Fasten während der Epidemie zu schärfen. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, Sohn pakistanischer Einwanderer, schloss sich der britischen Social Media-Kampagne #RamadanAtHome an, um das „nationale Gesundheitssystem zu schützen“. In England gehören Muslime zu den am schwersten betroffenen Communities, wobei  Lebensgewohnheiten wie das Wohnen in Großfamilien oder aber Jobbedingungen vor allem öffentlicher Dienstleister in der Arbeiterklasse eine Rolle spielen dürften.

Fastenbrechen verlagert sich ins Internet

In der Türkei führt der Ramadan traditionell zu einer eigenen Straßenkultur: Jeden Ramadan brummte der Istanbuler Stadtteil Üsküdar nach dem Sonnenuntergang mit Leben. In den letzten Jahren organisierte die Stadtverwaltung ein groß angelegtes Fastenbrechen am Bosporus-Ufer, an dem Tausende teilnahmen. In der Nacht füllten sich dann die Moscheen zum Tarawih, einer speziellen Form des Gemeinschaftsgebets im Ramadan. Wer nun vor einer der Dutzenden Moscheen in Üsküdar steht, wird nur einen einfachen Zettel vorfinden, der die Gläubigen anweist, tunlichst zuhause zu beten.

Um den Gemeinschaftsgeist des Ramadan zu erhalten, veranstalten viele nun ein virtuelles Fastenbrechen mit Freunden und Familie. In England will die junge Initiative „Ramadan Tent Project“ das weltweit größte Internet-Fastenbrechen organisieren. Doch die Verlegung von religiösen Ritualen in den virtuellen Raum führt auch zu Sorgen. In einem Interview mit CNN äußerte sich der US-Imam Omar Suleiman besorgt, dass Muslime nach der Erfahrung eines Online-Ramadans womöglich zum Ende der Epidemie nicht mehr in die Moschee zurückkehren wollten: „Es ist etwas besonderes, sich zu umarmen, zusammen zu beten und die traditionellen Formen der Anbetung aufrechtzuerhalten.“

Wirtschaftliche Auswirkungen spürbar

Auch wirtschaftlich stehen in diesem Ramadan alle Zeichen auf Verzicht, was Händlern und Wirten in islamischen Ländern zusätzlich zum Fasten Magenschmerzen bereitet: Restaurants etwa machen im Fastenmonat normalerweise vielerorts ihren höchsten Umsatz. Auch die Basare und Einkaufszentren zwischen Marokko und Indonesien brummen. Die Kauflust steigt vor allem zum Ende des Monats, wenn Geschenke ausgetauscht und große Vorräte an Süßigkeiten konsumiert werden. In der Türkei waren die Ramadan-Nächte Prime Time für Fernsehserien und Live-Übertragungen. Viele Produktionen wurden nun aufgrund der Pandemie auf Eis gelegt.

Muslime ziehen aus der Corona-Krise aber auch spirituelle Lehren für den Ramadan. So heißt es in einem öffentlichen Schreiben der „Assemblée de la Communauté Musulmane“ in Luxemburg, welche die 9.000 Muslime im Land unter einen Dachverband bringen will:  „Die Coronavirus-Pandemie lehrt uns, zu den Grundlagen zurückzukehren, bei unseren Kindern präsenter zu sein, in unserem eigenen Tempo zu arbeiten, unseren Geist auszuruhen und unser Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. In der Tat steht die Familie, die heutzutage manchmal so vernachlässigt wird, wieder im Mittelpunkt unseres Interesses. Diese Coranavirus-Pandemie sagt uns, dass wir nicht die Herren der Welt sind und dass (…) nicht alles kontrollierbar und vorhersehbar ist.“

Rückbesinnung auf Familie und soziale Werte

Tatsächlich begreifen viele Muslime weltweit die Einschränkungen im diesjährigen Ramadan als Chance, um sich stärker der sozialen Bedeutung des Fastenmonats bewusst zu werden, die ähnlich wie beim christlichen Weihnachtsfest gerne von einer exzessiven Konsumkultur verdrängt wird: Eine der traditionellen Lehren des Ramadan liegt darin, sich dank der Erfahrung am eigenen Leib mit den Hungernden auf der Welt zu solidarisieren, jegliche größeren und kleineren Konflikte beizulegen und Großzügigkeit im eigenen Umfeld zu praktizieren.

Da die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Coronavirus-Pandemie sozusagen eine „verordnete Einkehr“ ist, ließen sich demnach in diesem Monat islamische Werte wie Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Solidarität noch stärker kultivieren. Dazu gehört auch die Aufforderung zu großzügigen Spenden und Unterstützung von Familienmitgliedern. So stellte der Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu kürzlich eine Online-Plattform vor, auf der Bürger der 16-Millionen-Stadt mit Corona-bedingten Finanzschwierigkeiten ihre Strom- oder Gasrechnungen hochladen können. Hilfswillige können sich ebenfalls einloggen und anonym die Rechnungsbeträge anderer begleichen — Ramadan-Almosen 2.0.