Kein Zuhause, keine Versicherung, keine ausreichende medizinische Betreuung: Obdachlose sind in der Coronavirus-Pandemie in einer besonders prekären Lage. Die Hilfsorganisation „Médecins du monde“ kritisiert die Regierung und fordert einen langfristigen Plan.
« Wir kümmern uns natürlich um die Patienten, es gibt aber keinen richtigen Pandemie-Plan für Obdachlose »: Die Kritik von David Pereira von « Médecins du monde » ist deutlich. „In der Pandemie geht es nicht nur um die Gesundheit jedes einzelnen. Es geht um die Gesundheit der ganzen Gesellschaft – und auch Personen in einer prekären Situation sind Teil dieser Gesellschaft », so der für nationale Programme zuständige Mitarbeiter der Hilfsorganisation im Gespräch mit REPORTER.
Auch sie hätten ein Recht auf adäquate Schutzmaßnahmen und eine medizinische Betreuung. Niemand wisse aber, wie es mit ihnen weitergeht. Die Ärzte von « Médecins du Monde » kümmern sich um Obdachlose und Menschen, die keinen Zugang zu einer medizinischen Versorgung haben. Neben ihren regulären Sprechstunden in Esch und Bonneweg, haben sie in der Krise auch die medizinische Versorgung in den Räumlichkeiten der „Wanteraktioun“ in Findel übernommen. Gefragt wurden sie von der Regierung. Seit April sind sie immer mittwochs vor Ort und arbeiten mit Pflegern des Roten Kreuzes sowie der Caritas zusammen.
Um zu verhindern, dass Obdachlose sich einer Ansteckung durch das Coronavirus aussetzen, hat das Familienministerium die Wanteraktioun (WAK) vorerst bis Ende Mai verlängert. Die WAK bietet Menschen ohne Zuhause normalerweise nur in den Wintermonaten (November bis April) einen Platz im Warmen. Organisiert wird die Initiative vom Ministerium in Zusammenarbeit mit der Caritas, dem Roten Kreuz sowie Inter-Actions. Zwischen den drei Organisationen und dem Ministerium besteht eine Konvention.
Hohes Risiko der Verbreitung von Covid-19
Aktuell läuft bei der Wanteraktioun aber nicht alles, wie es laufen sollte. Eine Verlängerung der Aktion und eine ärztliche Betreuung konnte zwar schnell in die Wege geleitet werden. Doch nicht immer sei alles, was schnell passiert, auch richtig und zielführend, sagt David Pereira von « Médecins du Monde ».
Was wir sicher sagen können: Die Patienten, die wir als Médecins du Monde gesehen haben und die Covid-19-positiv sind, waren alle in der Wanteraktioun untergebracht. »David Pereira, Chargé des programmes nationaux bei « Médecins du monde »
Die Zentralisierung der Obdachlosen in Findel hat etwa dazu geführt, dass viele sich gegenseitig infizieren. « Was wir sicher sagen können: Die Patienten, die wir als Médecins du Monde gesehen haben und die Covid-19-positiv sind, waren alle in der Wanteraktioun untergebracht », so David Pereira. Seit dem 8. April hat die internationale Hilfsorganisation mehr als 40 Patienten gesehen, die dort beherbergt sind. Von diesen wurden 13 zu einem Test geschickt (Stand: 11. Mai). Wie viele davon positiv waren, konnte die Organisation nicht sagen.
Bei der WAK insgesamt wurden bisher 20 Personen mit dem Corona-Virus identifiziert, sechs davon sind mittlerweile wieder gesund.
Besonders intensive Betreuung ist nötig
Die Menschen, die in der WAK übernachten, sind sicherlich einem hohen Risiko ausgesetzt, sagen die zuständigen Organisationen. « Social Distancing » ist dort nur begrenzt möglich. Sie teilen sich Schlaf- und Speisesäle. Hinzu kommt, dass sie gesundheitlich besonders anfällig sind, sie haben oft ein geschwächtes Immunsystem, konsumieren überdurchschnittlich viel Alkohol oder Drogen. Auch alltägliche Hygiene kann ein Problem sein.
Wir wissen nicht, wie es mit den Menschen weitergeht, wenn die Lockerungen für den Rest der Bevölkerung jetzt umgesetzt werden. Wo können die Menschen dann hin, wenn die Wanteraktioun schließt? »David Pereira, Chargé des programmes nationaux bei « Médecins du monde »
Die Menschen, die kaum noch eine Familie oder ein soziales Umfeld haben, finden dafür bei anderen Obdachlosen ein Zugehörigkeitsgefühl. Man tauscht sich untereinander aus, trifft sich regelmäßig. Man hat aber vielleicht auch ein anderes Verständnis von Regeln. « Es fällt diesen Menschen schwerer, sich an geltende Distanz-Regeln zu halten und sich zu isolieren », so David Pereira. Es brauche deshalb gerade jetzt eine besonders intensive Betreuung.
Bisher gelten bei der Wanteraktioun in der aktuellen Ausnahmesituation folgende Regeln: Besteht ein Verdacht auf Covid-19, werden die Obdachlosen in ein Centre de Soins avancés zum Test geschickt. Bis zum Ergebnis werden sie in einem zweiten Gebäude in Findel isoliert. Fällt der Test positiv aus, kommt die Person entweder ins Krankenhaus oder wird im umfunktionierten Rehazentrum in Colpach oder in Differdingen im « De klenge Casino » zur Isolation untergebracht.
Wie soll es jetzt konkret weitergehen?
« Wir wissen nicht, wie es mit den Menschen weitergeht, wenn die Lockerungen für den Rest der Bevölkerung jetzt umgesetzt werden. Wo können die Menschen dann hin, wenn die Wanteraktioun schließt? », fragt David Pereira. Auch sei unklar, welche Rolle die Médecins du Monde bei der Wanteraktioun spielen – und wie lange. Man habe das Ministerium bereits am 15. April per E-Mail über die eigene Arbeit bei der WAK in Kenntnis gesetzt, heißt es von der NGO. Man wolle zudem wissen, wie es weitergeht. Auf das Schreiben habe man aber zunächst keine Antwort erhalten.
Das bestätigt auch Brigitte Michaelis. Die Pressesprecherin von Médecins du Monde versucht gleichzeitig aber zu relativieren. « Natürlich fragen wir uns alle, wie es weitergeht. Man muss wohl erst sehen, wie und ob das Virus sich weiter verbreitet. Wir haben aber bisher eine gute Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort. »
Beim Familienministerium nachgefragt, wusste man zunächst nichts von besagter E-Mail. Gleichzeitig heißt es aber, dass man gemeinsam die Prozeduren für die WAK ausgearbeitet habe. « Wir sind froh, dass wir Médecins du Monde haben und dass sie sich während der Krise bei der WAK engagieren », sagt Gilles Rod vom Familienministerium. Der Verantwortliche für die Abteilung « Solidarité » kümmert sich auch um die Wanteraktioun. Was die Organisation vor Ort brauche, habe man ihnen zur Verfügung gestellt, so Gilles Rod.
David Pereira sagt seinerseits allerdings, dass es nicht ausreiche, Material zur Verfügung zu stellen. Auch deshalb habe man das Dokument über die Arbeit vor Ort für das Ministerium zusammengestellt. Man müsse wissen, wie die Menschen betreut werden, um zu sehen, wo die Probleme liegen.
Mittlerweile wurde jedoch ein Gespräch zwischen den unterschiedlichen Akteuren einberufen. Es soll noch heute stattfinden. Fest steht dabei schon jetzt, dass die Wanteraktioun weiterhin das bleiben soll, was sie eigentlich ist: Eine Bleibe für Obdachlose im Winter.
Problem wurde zu lange ignoriert
Tatsächlich wurde die Situation der Obdachlosen von der Regierung lange stiefmütterlich behandelt. Der Fokus lag vor allem auf den Krankenhäusern und auf den Menschen, die auch Zugang zur medizinischen Versorgung und einer Krankenversicherung haben. Premier Xavier Bettel (DP) sagte etwa während einer Pressekonferenz zu Beginn des Lockdowns, dass Obdachlose ohnehin meist in gewisser Weise alleine seien – und somit einem kleineren Risiko ausgesetzt sind.
Als vor ein paar Wochen dann die Haushalte mit Masken ausgestattet wurden, gingen die Menschen ohne festen Wohnsitz zunächst leer aus. Es waren Pfadfinder und Streetworker, die sie schließlich mit Masken versorgten. Familienministerin Corinne Cahen (DP) sprach in einer Antwort auf eine parlamentarische Frage des Abgeordneten Sven Clement von 5.000 Stoffmasken, die an die prekäre Bevölkerungsgruppe verteilt worden seien.
Das späte Handeln hat aber auch die Ärzte und freiwilligen Helfer einem hohen Risiko ausgesetzt. „Wir haben uns natürlich auch Gedanken um die Gesundheit unseres Personals gemacht“, sagt David Pereira. Die Ärzte seien zwar von Anfang an mit Masken und Material ausgestattet worden, die Patienten hätten aber zunächst keine Masken getragen – weil sie keine hatten. „Das hat uns natürlich auch beunruhigt, weil wir die Ärzte keiner Ansteckungsgefahr aussetzen wollten.“ Andererseits sind die Mitarbeiter der Organisation durchaus an Ausnahmesituationen gewöhnt. Und laut Pereira ist es wichtig, dass Médecins du Monde eben dort präsent ist, wo es keine ausreichende medizinische Versorgung gibt.
Jede obdachlose Person in prekärer Lage
Hinzu kommt, dass Médecins du Monde Menschen mit Vorerkrankungen in einem Hotel in Findel isoliert, um sie zu schützen, wie die Pressesprecherin von Médecins du Monde bestätigt. „Diese Menschen sind einfach einem extrem hohen Risiko ausgesetzt. Wir haben uns deshalb dazu entschieden, fünf Zimmer für zwei Wochen zu buchen », sagt David Pereira. Ein Zimmer kostet im Schnitt um die 45 Euro. Einen Großteil der Kosten stemmt die Organisation selbst, einen kleinen Teil würde mittlerweile auch das Hotel beitragen, heißt es.
Das Familienministerium übernimmt diese Kosten allerdings nicht. „Wir können als Ministerium nicht den einen Personen mehr Unterstützung bieten als anderen“, erklärt Gilles Rod. Die WAK sei für jeden da und eine Aufteilung in eine Art „Zwei-Klassengesellschaft“ nicht gewollt. Man könne nicht in « vulnérable » und « besonders vulnérable » unterteilen, sondern jeder soll die gleiche Unterstützung bekommen.
Médecins du Monde habe aber anders als andere nationale Organisationen keine Konvention mit dem Ministerium und könne demnach frei handeln. „Ich kann die Überlegung der Organisation sicherlich verstehen“, sagt Gilles Rod. „Allerdings befinden sich in unseren Augen alle 120 Menschen in der WAK in einer prekären Situation.“